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Es wäre ja nun wohl die bitterste Ironie von der Welt gewesen, wenn der Förster Kniebusch im fremden Bett gestorben wäre, ohne dem Freund die Meldung, für die er so heroisch gelitten, noch machen zu können. Aber so schlimm meinte es der Todesengel nicht mit ihm. Er konnte noch einmal die Augen aufschlagen; nahe über ihm war das weiße Gesicht des Freundes mit den großen, freundlichen Augen. Er durfte noch einmal die gute Stimme hören: »Ach, alter Kniebusch, was haben Sie uns doch für einen Schreck eingejagt! Warten Sie nur, gleich ist der Doktor hier, der flickt Sie schon wieder zusammen! Haben Sie arge Schmerzen?«

Aber der Förster bewegte nur unwillig den Kopf. Arzt und Schmerzen gingen ihn nichts mehr an. Er war schon hinabgetaucht in das Dunkel, und er war nur noch einmal daraus zurückgekehrt, weil er etwas erledigen mußte, die Meldung.

Und er flüsterte seine Meldung mit abgerissenen Worten in Pagels Ohr, und Pagel nickte immer wieder und sagte: »Gut, gut, Kniebusch. Leiser – strengen Sie sich nicht an, ich verstehe alles …«

Der Förster flüsterte weiter, jedes Wort tat ihm weh. Aber jedes Wort war notwendig, und darum mußte es gesagt werden. Als er aber endlich doch fertig war, sah er Pagel mit so flehenden, so gierigen Augen stumm an, daß auch der Stumpfeste die dringliche Frage, die in diesem Blick lag, verstanden hätte. Und der Stumpfeste war ja Wolfgang Pagel nun wirklich nicht!

»Guter Mann!« sagte Pagel und drückte dem Förster sanft die Hand. »Sehr guter Mann!«

Da lächelte der Förster befreit, wie er vielleicht nie in seinem Leben gelächelt hatte. Und dann schien er einzuschlafen, und Pagel saß neben ihm. Er hielt die schlaffe Greisenhand, und er bedachte das Gehörte, und es war wenig genug, denn den einen Mann hatte der Förster nicht gesehen, und den er gesehen hatte, den hatte er nicht gekannt.

Wie Pagel aber so trübe dasaß, fiel sein Blick auf den alten, beschmutzten Kartoffelsack zu seinen Füßen. Denn die Hand des Sterbenden hatte ihn losgelassen, als sie nach der Hand des Freundes faßte. Er stieß den Sack mit dem Fuß an und wendete ihn hin und her, und es schien ihm, als säße unter all dem Dreck, mit dem der verklebt war, eine schwarze Schrift wie ein Name, mit dem die Leute ihre Deputatsäcke zeichnen.

Da bückte sich Pagel und griff nach dem Sack mit der freien Hand. Er legte ihn sich übers Knie und wischte mit der Hand den Dreck fort – aber die Hand des Sterbenden ließ er noch nicht los. Es gelang ihm, und die Schrift wurde Buchstabe um Buchstabe leserlich, schwer leserlich, aber leserlich. Und als sie ganz leserlich war, da stand da der Name: Kowalewski.

Wolfgang Pagel starrte mutlos auf den Namen, denn alles verwirrte sich immer wieder von neuem, und es gab keine Klarheit. Denn was sollte der alte, ehrliche Kowalewski mit Kartoffeldieben und Totschlägern zu tun haben? Sicherlich, es war ein gestohlener Sack!

In diesem Augenblick tat sich die Tür zum Büro auf, und herein kam Amanda Backs, die unterdes telefoniert hatte, und sie meldete, daß der Arzt in einer Viertelstunde dasein werde und die Polizei vielleicht in einer halben …

Pagel hob als Antwort den Sack, er wies ihr den Namen und sagte: »Sie kommen alle zu spät. Er hat seinen Mörder nicht gesehen, und der ihn festgehalten hat, den hat er nicht gekannt. Und der Name auf diesem Sack hilft uns auch nicht weiter …«

Da wurde Amanda ganz weiß. Sie sah Pagel mit großen, erschrockenen Augen an und fing an zu zittern.

»Was ist Ihnen denn?« fragte Pagel. »Verstehen Sie, was der Name Kowalewski auf dem Kartoffelsack zu tun hat?«

Amanda schwieg, sie hatte die Hand auf die Brust gelegt und sah schweigend von dem Sterbenden auf den Sack und von dem Sack zu Pagel hin.

»Reden Sie doch, Amanda!« drängte Pagel. »Was wissen Sie davon?«

»Das weiß ich davon«, flüsterte Amanda Backs ganz leise, »daß in der Kammer der Sophie Kowalewski der entsprungene Zuchthäusler haust …«

Pagel hob den Kopf und sah mit blassem Gesicht die Zitternde an.

»Ja, und ich weiß«, sagte sie eiliger, »daß der Liebschner stehlen gegangen ist, mit dem Bäumer zusammen, und so hat der eine von den beiden den Förster festgehalten, der andere aber hat zugeschlagen …«

»Amanda!« rief Pagel.

»Ja, Amanda!« wiederholte sie, und die Tränen brachen aus ihr hervor. »Und nun bin ich eine Helferin von Mördern geworden, grade als ich dachte, ich wäre ganz heraus aus dem Dreck!«

Eine Weile war es still im Zimmer, still hörte Pagel auf das Weinen des Mädchens. Dann hob er den Kopf und sagte leise: »Das hätten Sie mir nun freilich erzählen müssen, Amanda!«

»Ja!« rief sie verzweifelt, »jetzt weiß ich auch, daß ich es hätte tun müssen. Aber damals – sie hat mir ja so viele gute Worte gegeben. Und ich habe immer an mein Hänseken denken müssen, an den Inspektor Meier, Herr Pagel, und wie es mir gewesen wäre, wenn den einer verraten hätte und der Polizei übergeben. Ich habe ihm ja noch von hier fortgeholfen, schon als er auf mich geschossen hatte! Man läßt doch seinen Freund nicht sitzen! Und sie hat mir gesagt, die Sophie hat mir gesagt, er ist gut zu ihr und sie fahren gleich ab, sie wollen nur noch das Reisegeld zusammensparen, stehlen heißt das, und er ist gut zu ihr! Das ist es gewesen, weil sie gesagt hat, er ist gut zu ihr, das hat es gemacht, daß ich den Mund gehalten habe – mein Hänseken war nicht gut zu mir …«

»Sie hätten es doch fühlen müssen, Amanda«, beharrte Pagel, »daß es unrecht war, zu schweigen!«

»Ja, das sagen Sie jetzt!« rief sie wild. »Es hat mir oft beinahe das Herz abgedrückt, besonders, als die Sophie dann so gemein war gegen Sie und so tat, als hätten Sie ihr Gewalt antun wollen! Aber was weiß ich, was Recht und Unrecht ist auf der Welt?! Sie haben mir immer gesagt: ›Amanda, das schickt sich nicht!‹ und: ›Amanda, tu das lieber nicht!‹ – Und wenn Sie schweigend die Nase gezogen haben, dann war es am schlimmsten. Und das haben Sie immer getan, wenn ich von andern was erzählen wollte. Schließlich habe ich gedacht: Halt das Maul, er ist der einzige Mensch, der zu dir anständig ist, und er denkt auch: Verrat ist Verrat, und auch einen Zuchthäusler darf man nicht verraten! Ich habe nicht mehr aus noch ein gewußt …«

Sie sah ihn mit weinenden Augen bittend an.

»Es tut mir sehr leid, Amanda«, sagte Pagel. »Nein, Sie haben recht, ich hätte anders mit Ihnen reden müssen. Und vor allem hätte ich Ihnen nicht den Mund verbieten dürfen. Ich habe wohl die meiste Schuld. – Aber jetzt muß ich los! Setzen Sie sich hin und halten Sie seine Hand. Er wird ja den Betrug nicht merken, und wenn er doch noch aufwacht, sagen Sie ihm, ich hätte nicht auf die Gendarmen warten wollen. Vielleicht erwische ich die Kerle noch …«

Und Pagel lief hinaus auf den Hof und trommelte ein paar handfeste Männer zusammen. Leise drangen sie in des Kowalewski Haus, und im Oberstock faßten sie den Bäumer und den Liebschner, die gerade dabei waren, ihre Sachen zusammenzupacken. Sie hatten geglaubt, es habe noch keine Eile mit ihnen, denn sie meinten fest, sie hätten den Förster völlig erschlagen und er werde so bald nicht gefunden werden.

So aber wurden sie ergriffen, überwältigt, gefesselt und der Gendarmerie übergeben – so aber plädierte der Staatsanwalt auf Mord, so aber wurden sie zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, denn so konnten sie sich nicht auf einen Totschlag ausreden.

Die Festnahme aber der noch ahnungslos in der Villa wirtschaftenden Sophie Kowalewski überließ Pagel den andern. Er ging zurück zum Förster. Aber in seinem Zimmer war nur der Arzt – der Förster Kniebusch war schon gegangen.

Wolf unter Wölfen
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