4

Es war nicht etwa am Abend dieses Tages, es war erst am Abend des nächsten Tages, daß Wolfgang Pagel in schlichter Deutlichkeit erfuhr, wer die Prackwitzens sind und wer die Pagels und was er so eigentlich für eine Rolle auf diesem Gut Neulohe spielte. Und was das wert war, was er hier getan hatte. Nicht nur seine guten Taten muß sich der Mensch eine Weile überlegen, ehe er sich zu ihnen entschließt, auch für seine Gemeinheiten, große und kleine, braucht er manchmal Zeit. Frau Eva von Prackwitz hatte rund sechsunddreißig Stunden Überlegung gebraucht.

Es war schon dunkel, als der bekannte große Wagen vor dem Beamtenhaus hielt. Aber natürlich war es dunkel, der Mensch sündigt lieber im Dunkeln als bei Tageslicht. Er scheint zu meinen, wegen einer ungesehenen Sünde braucht er sich nicht zu schämen. Der Wagen hielt – aber weder Frau Eva noch der Rittmeister stiegen aus, keiner stieg aus.

Man wartete.

»Hupen Sie doch noch mal, Oskar!« rief Frau von Prackwitz gereizt. »Er muß doch gehört haben, daß wir hier halten! Warum kommt er nicht heraus?«

Pagel hatte den Wagen kommen, anhalten hören. Er hörte jetzt auch die Autohupe, aber er ging nicht hinaus. Er war traurig und zornig, er hatte von seiner fröhlichen Gelassenheit eingebüßt, wahrhaftig, das Leben schmeckte nicht, es knirschte zwischen den Zähnen wie Staub und Asche. Er hatte gestern und heute zehnmal an der Villentür geklingelt, zwanzigmal die gnädige Frau am Fernsprecher verlangt. Er hatte wissen wollen, wie es mit dem Begräbnis des toten Försters gehalten werden sollte, was zur Versorgung der hilflosen Frau geschehen sollte.

Aber nein, die gnädige Frau war nicht für ihn zu sprechen gewesen. Vielleicht grollte sie, daß er ihr das Mädchen Sophie so rücksichtslos fortgeholt hatte, daß er nun doch seinen Willen durchgesetzt hatte, daß nun doch wieder die schwarze Minna in der Villa Arbeit bekommen hatte, dieses schmuddlige Frauenzimmer mit einem Haufen unehelicher Bälger!

Ach, hole sie alle der Teufel! Wahrscheinlich war Frau Eva gar nicht so schlimm. Früher einmal war sie ihm recht nett vorgekommen. Brauchbar, mit Mutterwitz, mit Verstand, auch mit Freundlichkeit, auch mit Gedanken an andere – solange es ihr gut ging. Aber wahrscheinlich hatte der Reichtum sie verdorben, sie hatte sich nie einen Wunsch versagen müssen – wenn es ihr schlecht ging, dachte sie nur noch an sich. Der ganzen Welt nahm sie es übel, daß es ihr schlecht ging – und sie ließ es sie merken!

Ja, hupe nur, ich gehe nicht vor meine Tür! Im Grunde paßt du ausgezeichnet zum Rittmeister. Ihr seid beide aus demselben Stoff – vor dem Kriege wandeltet ihr auf der Menschheit Höhen, ihr wart vom Adel, ihr hattet Geld … Es gab da noch das sogenannte Volk, meinethalben, mochte es sehen, wie es zurechtkam!

Sicherlich, eine verdammte Ähnlichkeit mit dem Rittmeister! Natürlich machte sie es nicht so grob wie er, dafür war sie eben eine Frau. Sie konnte liebenswürdig sein, wenn sie etwas erreichen wollte, fraulicher Reiz, ein vorgestrecktes Bein, Schmelz in der Stimme – Lächeln. Aber am Ende kam es auf dasselbe heraus. Wenn sie ein Auto brauchte, dann kaufte sie es, und der junge Beamte konnte sehen, wie er ein halbes Hundert Familien ohne Lohngeld satt kriegte.

Nicht wahr, Sie erledigen mir das –? Ich brauche mich damit nicht abzuquälen? Sie sind ja so tüchtig! Aber du würdest es ja gar nicht erledigen können, du willst es gar nicht – du wandelst oben, und für solche Dinge sind deine Leute da. Zwischen Wolfgang Pagel und der schwarzen Minna war noch lange kein so großer Unterschied (für die gnädige Frau) wie zwischen Frau von Prackwitz und Pagel – der Abstand war einfach ungeheuer!

Ich bin ungerecht, dachte Pagel, und das Auto hupte wieder einmal recht dringlich in seine Gedanken hinein. Ich bin ungerecht. Sie hat wirklich ihren schweren Kummer – und wenn Reichtum egoistisch macht und wenn Glück egoistisch macht, Kummer tut es noch viel mehr! – Ob ich nicht vielleicht doch zu ihr hinausgehe?

Aber es war schon nicht mehr nötig, sich zu entschließen. Der Chauffeur Oskar mit dem Teiggesicht trat in das Büro und meldete: »Herr Pagel, Sie sollen mal ans Auto zur gnädigen Frau kommen.«

Pagel stand auf, sah Oskar nachdenklich an und sagte: »Schön!«

Oskar, dieser Sohn einer ehemaligen Hausdame, durch die Gunst der Frau von Prackwitz hochherrschaftlicher Chauffeur geworden, betrachtete Pagel listig. Dann flüsterte er: »Achtung, Herr Pagel, die will auskneifen! – Aber verraten Sie mich nicht!«

Und ging.

Pagel lächelte. Siehe da, Oskar, der gelernte Motorenschlosser, der vor vier Wochen die gnädige Frau noch wie einen seligen Engel angestrahlt hatte – auch ihm schmeckte das süße Kuchenbrot des täglichen Umgangs mit der Herrschaft nicht mehr! Er witterte ähnlich wie die gnädige Frau, nur mit umgekehrten Vorzeichen! Er empfand, daß er hundertmal eher zu diesem ihm fast unbekannten Herrn Pagel gehörte als zu der täglich gesehenen gnädigen Frau.

Pagel trat an die Wagentür, er sagte: »Guten Abend, gnädige Frau – ich hätte Sie gerne einmal gesprochen …«

»Seit fünf Minuten hupen wir vor Ihrem Fenster!« rief die unsichtbare Gnädige aus dem Wagendunkel. »Haben Sie denn geschlafen? Gehen Sie schon um acht Uhr abends schlafen?!«

»Ich habe gestern«, antwortete Pagel ungerührt, »zwanzigmal den Versuch gemacht, Sie zu erreichen, gnädige Frau. Es müssen unbedingt Verfügungen wegen des Försters getroffen werden …«

»Mein Mann ist schon ganz krank!« rief sie. »Wir sind beide krank von all den schrecklichen Aufregungen! Ich bitte dringend, mir jetzt nicht von diesen Dingen zu sprechen …« Sanfter setzte sie hinzu: »Sie waren doch sonst immer so rücksichtsvoll, Herr Pagel!«

Unbestochen sagte Pagel: »Ich hätte Sie gerne eine Viertelstunde gesprochen, gnädige Frau.«

Er sah nicht mehr in das Wageninnere, das doch dunkel war, er sah auf das Wagenende, ungeheuerlich ausgebuchtet: Oskar hatte die Wahrheit gesprochen, diese Kofferungetüme bestätigten die Flucht.

»Ich habe heute abend unmöglich Zeit! Wir müssen fahren.«

»Und wann hätten Sie einmal Zeit?« fragte Pagel unerbittlich.

»Ich kann es Ihnen nicht auf die Stunde sagen«, antwortete Frau Eva ausweichend. »Sie wissen doch, wie unregelmäßig ich komme und gehe! – Ach Gott, Herr Pagel«, rief sie plötzlich. »Wollen Sie mir jetzt auch Schwierigkeiten machen?! Seien Sie doch selbständig! Sie haben doch die Vollmacht!«

Pagel schwieg. Jawohl hatte er eine Vollmacht. Er hatte die Vollmacht, alles selbständig zu erledigen (ganz nach den Wünschen der gnädigen Frau) und schließlich damit hereinzufallen (ganz nach den Wünschen des Herrn Geheimrats). Aber er schwieg davon, er war jung, zuviel Gemeinheit muß man den Menschen auch nicht zutrauen. Sie würde ihn schließlich nicht sitzenlassen! Oder doch –?

»Herr Pagel«, sagte Frau von Prackwitz, »Sie haben mir seit einer Woche kein Geld gegeben. Ich brauche Geld.«

»Es ist kaum etwas in der Kasse«, antwortete Pagel und wußte nun, warum das Auto vor dem Beamtenhaus angehalten hatte.

»So geben Sie mir einen Scheck!« rief sie ungeduldig. »O Gott, was für Umständlichkeit! Ich muß doch Geld haben …«

»Wir haben weder auf der Bank noch auf der Sparkasse ein Guthaben«, widersprach Pagel. »Ich kann leider keinen Scheck ausstellen.«

»Aber ich muß Geld haben! Sie können mich doch nicht ohne Geld sitzenlassen! – Wie denken Sie sich das?!«

»Ich will sehen, daß ich morgen irgend etwas verkaufe … Ich kann Ihnen morgen dann etwas Geld geben, wenn es nicht viel sein muß, gnädige Frau …«

»Es muß aber viel sein! Und es muß heute noch sein!« rief sie zornig.

Pagel schwieg eine Weile. Dann fragte er leicht: »Die Herrschaften verreisen?«

»Ich verreise nicht! Wer sagt Ihnen solche Sachen –? Lassen Sie mich etwa ausspionieren? Ich verbitte mir das!«

»Die Koffer …«, erklärte Pagel und wies nach dem Wagenende.

Ein langes Schweigen entstand.

Dann sagte Frau Eva mit einer ganz andern Stimme: »Lieber Herr Pagel, wie können Sie mir Geld verschaffen –?«

»Ich bitte um eine Unterredung von zehn Minuten.«

»Aber es ist nichts zu besprechen! Wir sind morgen, spätestens übermorgen zurück. – Wissen Sie was, Herr Pagel, geben Sie mir einen vordatierten Scheck – Sie verkaufen morgen und übermorgen, zahlen das Geld bei der Bank ein, und ich lege den Scheck erst Ende der Woche vor.«

»Übermorgen wollten gnädige Frau spätestens zurück sein. – Ich bin kein Angestellter, bei meinem Eintritt sind keinerlei Abmachungen zwischen mir und Herrn Rittmeister getroffen – es besteht keine Kündigungsfrist. Ich werde also morgen Neulohe auch verlassen.«

»Achim! Warte hier im Wagen! Oskar, schalten Sie die Scheinwerfer aus. Herr Pagel, helfen Sie mir aus dem Wagen –!«

Sie ging ihm voran auf das Büro, sie drehte sich um, flammend sah sie ihn an, oh, sie sah prachtvoll aus in ihrem Zorn. »Sie wollen fahnenflüchtig werden, Herr Pagel?! Sie wollen mich im Stich lassen – nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben?!«

»Wir haben nichts gemeinsam erlebt, gnädige Frau«, sagte Pagel finster. »Wenn Sie mich gebraucht haben, dann haben Sie mich gerufen. Und wenn Sie mich nicht brauchten, vergaßen Sie mich auf der Stelle. Sie haben nie danach gefragt, ob ich fröhlich oder traurig war.«

»Ich habe mich so oft über Sie gefreut, Herr Pagel!« rief sie bittend. »In all meinen Sorgen und meinem Kummer habe ich gedacht: Da läuft ein Mensch auf dem Hof herum, auf den kannst du dich unbedingt verlassen. Sauber, anständig …«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau!« sagte Pagel mit einer leichten Verbeugung. »Aber wenn eine Sophie Kowalewski kam und Ihnen berichtete, der hat schmutzige Weibergeschichten – so trauten Sie dem sauberen, anständigen Kerl diese Geschichten sofort zu.«

»Herr Pagel, warum sind Sie so böse zu mir? Was habe ich Ihnen getan?! Nun ja, ich bin eine Frau. Ich bin wohl wie die meisten Frauen. Ich höre auf Klatsch, ich habe kein festes Urteil über meine Mitmenschen – aber ich gestehe es auch ein, wenn ich unrecht habe. Nun gut, ich bitte Sie deswegen um Verzeihung, Herr Pagel.«

»Ich will keine Bitte um Verzeihung, gnädige Frau!« rief Pagel verzweifelt aus. »Erniedrigen Sie sich doch nicht so! Ich will Sie doch nicht auf den Knien vor mir sehen! – Das ist es ja alles nicht. Jetzt, zum erstenmal, seit wir uns kennen, denken Sie auch an mich, an das, was ich fühle, möchten mich in guter Stimmung sehen … Und warum? Weil Sie mich brauchen! Weil ich Ihnen das Geld verschaffen kann, das Sie zu Ihrer Flucht aus Neulohe brauchen …«

»Und das nennen Sie nicht demütigen?! Das nennen Sie nicht auf die Knie zwingen?!« rief sie. »Jawohl, Herr Pagel, wir fliehen … Neulohe ist uns verhaßt, Neulohe hat uns nur Unglück gebracht … Wenn ich nicht auch untergehen soll wie mein Mann, muß ich auf der Stelle fort! Ich zittere ja jede Sekunde davor: Was wird nun wieder sein? Wenn ich jemand laut rufen höre auf dem Hof, geben meine Knie schon nach. Was ist nun wieder los? denke ich. Ich muß fort! – Und Sie müssen mir das Geld dazu geben, Herr Pagel. Sie können mich doch hier nicht umkommen lassen!«

»Ich muß auch fort«, sagte er. »Das Leben schmeckt mir nicht mehr. Ich bin auch am Ende. Lassen Sie mich morgen gehen, gnädige Frau. Was soll ich noch hier?«

Sie hörte nicht auf ihn. Nur ein Gedanke beschäftigte sie. »Ich muß doch Geld haben!« rief sie verzweifelt.

»Es ist keines in der Kasse. Und ich stelle keine ungedeckten Schecks aus, es ist mir – zu gefährlich. Gnädige Frau, ich kann Ihnen nie in zwei Tagen das Geld für einen längeren Aufenthalt fern von Neulohe besorgen. Das Geld ist knapp geworden, seit die Notenpresse nicht mehr läuft. Es gibt kaum erst die neuen Dinger, die Rentenbankscheine. – Auch wenn ich noch ein paar Tage bliebe, könnte ich Ihren Wunsch nicht erfüllen.«

»Aber ich muß Geld haben!« rief sie wieder mit unerschütterlicher Zähigkeit. »Mein Gott, es hat sich noch immer Geld gefunden, wenn wir wirklich etwas brauchten! Denken Sie nach, Herr Pagel, Sie müssen es irgendwie bewerkstelligen. – Ich kann doch nicht zugrunde gehen, bloß weil ein paar Mark nicht da sind!«

Viele Menschen gehen zugrunde, weil ein paar Mark fehlen, dachte Pagel, aber er sagte es nicht. Es hatte keinen Zweck, so etwas zu sagen, denn es galt natürlich nicht für sie. – Statt dessen meinte er: »Gnädige Frau, Sie haben einen reichen Bruder in Birnbaum, fahren Sie die halbe Stunde nach Birnbaum – er wird Ihnen bestimmt aushelfen!«

»Ich soll meinen Bruder um Geld bitten?!« rief sie zornig. »Ich soll mich vor meinem Bruder demütigen?! Nie! Nie!«

Pagel tat einen raschen, wilden Schritt auf die Frau zu. »Aber vor mir können Sie sich demütigen, wie?!« rief er zornig. »Vor dem Sklaven zeigt die Königin sich auch nackt, ja?! Ein Sklave ist kein Mensch, was!?«

Sie wich vor seiner Empörung zurück, schneeweiß, zitternd.

»Da!« rief Pagel und zeigte. »Da nebenan in meinem Bett ist gestern morgen der Förster Kniebusch gestorben, in Ihrem Dienst, gnädige Frau! Sie müssen ihn seit Ihrer Kinderzeit gekannt haben; seit Sie denken, seit Sie sprechen können, ist der Mann für Sie und Ihre paar Mark gelaufen, hat Angst gehabt, hat sich gequält – haben Sie überhaupt danach gefragt, was er gelitten hat, wie er gestorben ist, wie er sich gequält hat?! Nur mit einem Wort –? Neulohe ist für Sie zur Hölle geworden –?! Haben Sie je daran gedacht, was für eine Hölle es für diesen alten Mann gewesen ist – und er, er konnte nicht ausreißen – er ist auch nicht ausgerissen! Fast auf dem Bauche kriechend, hat er bis zur letzten Minute seine Pflicht getan …«

Sie stand mit einem weißen Gesicht zitternd an der Wand. Sie starrte ihn groß an …

»Die Fahne verlassen? Feige sein –?« rief er immer wilder und fühlte immer stärker, wie seine Nerven nachgaben, und wollte es nicht und mußte es doch sagen, endlich sagen, endlich einmal sagen. »Was wissen Sie denn von Feigheit und Mut?! Ich habe auch einmal gedacht, ich wüßte etwas davon. Ich habe einmal geglaubt, Mut wäre das, aufrecht zu stehen, wenn eine Granate platzt, einen Granatsplitter zu apportieren … Jetzt weiß ich, das ist bloß Dummheit und Tollkühnheit; Mut heißt aushalten, wenn etwas ganz unerträglich ist. Mut, Mut hat der alte Feigling gehabt, der da drinnen gestorben ist.«

Er warf einen raschen, hellen Blick auf sie. Er sagte: »Aber es muß eine Sache sein, um die es sich verlohnt, Mut zu haben. Es muß eine Fahne dasein, für die es wert ist zu kämpfen. Wo ist denn Ihre Fahne, gnädige Frau? Sie fliehen ja als erste!«

Ein langes, trübes, schweres Schweigen entstand. Dann rührte sich Pagel. Er ging langsam zu seinem Schreibtischstuhl, er setzte sich, er stützte den Kopf in die Hand. Nun gut, jetzt hatte er geredet, alles, was sich in den letzten Wochen angesammelt hatte war ausgesprochen – und was weiter?

Die Frau löste sich von der Wand, sie ging leise zu ihm hin, sie legte ihm sachte die Hand auf die Schulter: »Herr Pagel!« sprach sie ihn leise an. »Herr Pagel – es ist sicher wahr, was Sie gesagt haben. Ich bin selbstisch und feige und gedankenlos – ich weiß nicht, ob ich erst so geworden bin, aber so bin ich. Sie haben recht. Aber Sie sind das doch nicht, Herr Pagel, Sie sind doch anders, nicht wahr –?«

Sie wartete lange, aber er antwortete nicht. Die Schulter unter ihrer Hand rührte sich nicht.

»Seien Sie noch einmal, was Sie waren bisher: jung, gläubig, aufopfernd. Nicht für mich, Herr Pagel, ich habe wirklich keine Fahne für Sie. Aber ich habe die Hoffnung, daß Sie noch so lange hier in Neulohe bleiben, bis meine Eltern wiederkommen. Ich möchte Sie bitten, in die Villa zu ziehen. Herr Pagel – ich habe noch immer die Hoffnung, daß Violet einmal dort an die Tür klopft … Gehen nicht auch Sie weg! Lassen Sie den Hof nicht ganz freundlos sein, wenn sie kommt …«

Wieder lange Stille. Aber eine andere Art von Stille, etwas Wartendes. Frau von Prackwitz nahm die Hand von seiner Schulter, sie tat einen Schritt zur Tür. Er schwieg. Sie tat einen zweiten, einen dritten Schritt, sie hatte die Hand auf der Klinke – da fragte Pagel: »Wann wird Ihr Vater kommen?«

»Ich habe einen Brief an ihn im Wagen. Ich stecke ihn heute noch in Frankfurt ein. Ich nehme an, mein Vater wird gleich kommen, wenn erfährt, daß wir abgereist sind. Also etwa in drei, vier Tagen.«

»Ich bleibe bis dahin«, erklärte Pagel.

»Ich danke Ihnen. Ich wußte es ja.«

Aber sie ging nicht, sie zögerte, sie wartete …

Er machte es ihr leicht. Er war aller Umschweife müde. »Dann ist da noch die Sache mit Ihrem Geld«, sagte er kurz. »Ich habe etwa hundert Rentenmark in der Kasse, die werde ich Ihnen geben. In den nächsten Tagen werde ich alles verkaufen, was zu verkaufen ist – wissen Sie schon, wo Sie bleiben?«

»In Berlin.«

»Wo dort?«

»Erst einmal in einem Hotel.«

»Studmanns Hotel. Hotel Regina«, sagte er. »Ich werde Ihnen das Geld täglich telegrafisch in das Hotel senden … An welchen Betrag hatten Sie etwa gedacht?«

»Ach, nur ein paar tausend Mark – nur, daß wir einen Anfang haben.«

Er zuckte nicht. »Sie wissen ja, ich darf nichts vom Inventar verkaufen, es ist verboten; da es nicht Ihr Eigentum ist, mache ich mich strafbar. Sie werden mir, gnädige Frau, jetzt eine Erklärung unterschreiben, die mich vor Ihrem Herrn Vater deckt. Sie werden mir bestätigen, daß alle ungesetzlichen Verkäufe auf Ihre Veranlassung erfolgt sind. Sie werden mir weiter bestätigen, daß Ihnen die ungenaue, lückenhafte, manchmal auch unrichtige Führung der Bücher bekannt ist, kurz, daß alle meine Maßnahmen Ihre volle Billigung haben …«

»Sie sind sehr hart mit mir, Herr Pagel«, sagte sie. »Mißtrauen Sie mir so sehr?«

»Es könnte der Fall sein, daß Ihr Herr Vater sagt, ich hätte eine Summe unterschlagen, ich hätte Durchstechereien gemacht. – Ach Gott!« rief er ungeduldig. »Was sollen wir viel reden?! Jawohl, ich mißtraue Ihnen! Ich habe jedes Vertrauen verloren.«

»Schreiben Sie also die Erklärung«, sagte sie.

Während er tippte, ging sie hin und her, wahllos griff sie dies und das an – voller Gedanken und gedankenlos, am Ende doch erleichtert, daß er tat, was sie wünschte.

Plötzlich fällt ihr etwas ein, sie wendet sich ihm lebhaft zu, sie will etwas sagen …

Aber als sie sein abweisendes, finsteres Gesicht sieht, schließt sie wieder den Mund. Sie setzt sich an den Schreibtisch, sie taucht eine Feder in das Tintenfaß, auch sie schreibt. Ihr Gesicht lächelt. Ihr ist etwas eingefallen, sie ist keine Egoistin, er hat doch unrecht – sie denkt an ihn, sie macht ihm eine Freude …

Jetzt überfliegt sie nur die Erklärung, die sie eben noch so schmachvoll fand, gleichgültig unterschreibt sie. Dann nimmt sie ihren Zettel in die Hand …

»Hier, Herr Pagel, habe ich noch etwas für Sie. Sie sehen, ich vergesse nichts. Sobald es paßt, erledige ich das. – Auf Wiedersehen, Herr Pagel, und nochmals vielen Dank!«

Sie geht.

Pagel steht in der Mitte des Büros. Er starrt die Tür an, er starrt den Wisch in seiner Hand an. Er hat das Gefühl, noch nie in seinem Leben so dämlich ausgesehen zu haben.

Er hält in der Hand eine Bescheinigung, auf der Frau Eva von Prackwitz, auch im Namen ihres Gatten, bestätigt, von Herrn Wolfgang Pagel ein Darlehen von 2000 Goldmark, in Worten: zweitausend Goldmark, empfangen zu haben …

Pagel kommt sich sehr lächerlich vor.

Wütend zerknittert er den Schein.

Aber er besinnt sich. Er glättet ihn sorgsam. Er legt ihn zusammen mit der Ehrenerklärung in seine Brieftasche.

»Wertvolle Reiseandenken!« grinst er.

Jetzt ist er fast vergnügt.

Wolf unter Wölfen
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