11

Vor einer mit Stahlblech beschlagenen Tür steht ein Tisch, ein gewöhnlicher, fichtener Tisch. Auf dem Tisch liegt ein Stullenpaket neben einer Thermosflasche, an dem Tisch sitzt ein alter Mann in Polizeiuniform und liest durch einen Klemmer bei sehr schwachem Deckenlicht in einer Zeitung. Als der Mann einen langsamen Schritt den Gang entlangkommen hört, läßt er die Zeitung sinken und sieht über den Klemmer fort dem Ankömmling entgegen.

Der junge Mann kommt langsam näher. Erst sieht es aus, als wolle er an Tür und Tisch vorübergehen, dann aber bleibt er doch stehen. »Entschuldigen Sie«, sagt er, »geht es hier in das Polizeigefängnis?«

»Das geht es«, sagt der Beamte, faltet seine Zeitung sorgsam zusammen und legt sie auf den Tisch. Als der junge Mann aber unentschlossen zaudert, setzt er hinzu: »Es ist aber nur eine Tür für den Dienstgebrauch.«

Der junge Mann zögert immer noch, der alte fragt: »Nun, was haben Sie denn auf dem Herzen? Wollen Sie sich stellen?«

»Wieso stellen?« fragt Pagel zurück.

»Ja …«, sagt der Alte gedehnt. »Es geht jetzt auf vier – um die Stunde kommt manchmal einer, dem es keine Ruhe läßt, weil er was ausgefressen hat, und stellt sich. Aber da müssen Sie auf die Bereitschaft gehen. Ich bin nur Außenwache.«

»Nein«, sagt Pagel langsam. »Ich habe nichts ausgefressen.« Wieder schweigt er. Dann unter dem ruhigen Blick des Alten: »Ich möchte nur gerne meine Freundin sprechen. Die ist nämlich da drinnen.« Und er deutet mit dem Kopf auf die Tür.

»Jetzt?!« ruft der Alte fast entrüstet. »Nachts zwischen drei und vier?!«

»Ja«, sagt Pagel.

»Dann haben Sie doch wohl was ausgefressen, daß es Ihnen keine Ruhe läßt –?«

Pagel schweigt.

»Daraus kann nichts werden. Jetzt gibt es keine Besuche. Und überhaupt …«

»Geht es denn gar nicht?« fragt Pagel nach einer Weile.

»Ausgeschlossen!« sagt der andere. Er überlegt, er sieht den Jungen an. Schließlich sagt er: »Und das wissen Sie auch ganz gut. Sie stehen hier nur so, weil es Ihnen keine Ruhe läßt …«

»Ich bin ganz zufällig hier auf dem Präsidium. Ich bin nicht extra hergekommen.«

»Aber zu dieser Tür sind Sie doch extra gekommen? Die haben Sie doch nicht leicht gefunden, jetzt in der Nacht?«

»Nein«, antwortet Pagel.

»Da sehen Sie es«, sagt der alte Mann. »Es ist mit Ihnen genau wie mit denen, die sich stellen kommen. Die sagen auch alle, sie kommen nicht wegen des schlechten Gewissens – schlechtes Gewissen, so was gibt es doch heute nicht mehr. Aber warum kommen sie dann nachts um zwei, drei?! Das ist eine besondere Zeit, da ist der Mensch allein mit sich, da hat er plötzlich ganz andere Gedanken als am Tage. Und da kommen sie denn.«

»Ich weiß nicht«, sagt Pagel trübe. Er weiß wirklich nichts. Er möchte nur nicht abreisen, ohne sie wenigstens gefragt zu haben, ob es denn wirklich wahr ist. Manchmal sagt er sich, der Beamte muß ihm die Unwahrheit gesagt haben, es ist unmöglich, er kennt doch Petra! Und dann sagt er sich wieder, daß ein Beamter ihm nichts Unrichtiges sagt, daß er gar kein Interesse hat, ihm etwas Unrichtiges zu sagen, daß es wahr sein muß. Ach, das Spiel ist vorbei, der Rausch ist verflogen, Sieg wurde zur Niederlage – wie allein ist er jetzt! Peter, Peter – es war doch jemand neben ihm, etwas Lebendiges, das an ihm hing – soll denn alles verloren sein?

»Ich will morgen früh abreisen«, sagt er bittend. »Geht es denn gar nicht zu machen heute nacht? Es braucht ja keiner etwas zu merken.«

»Was denken Sie?!« ruft der Alte. »Drinnen sind doch auch Nachtwachen. Nein, es ist ganz unmöglich.« Er denkt einen Augenblick nach, sieht Pagel prüfend an und sagt dann wieder: »Und überhaupt …«

»Was heißt das: und überhaupt –?« fragt Pagel ein wenig ärgerlich.

»Und überhaupt gibt es bei uns eigentlich keine Besuchserlaubnis«, erklärt der Beamte.

»Und uneigentlich –?«

»Uneigentlich auch nicht.«

»So«, sagt Pagel.

»Wir sind doch hier Polizeigefängnis«, sagt der Alte in einem Bedürfnis, die Sachlage zu erklären. »Im Untersuchungsgefängnis kann der Untersuchungsrichter Besuchserlaubnis geben, aber hier bei uns gibt es das nicht. Bei uns bleiben die meisten ja nur ein paar Tage.«

»Ein paar Tage …«, wiederholt Pagel.

»Ja. Vielleicht erkundigen Sie sich nächste Woche mal in Moabit.«

»Das ist ganz sicher, daß ich morgen früh hier nicht zu ihr kann? Da werden keine Ausnahmen gemacht?«

»Bestimmt nicht. Aber wenn Sie natürlich irgend etwas wissen, daß Ihre Freundin unschuldig sitzt, und sagen das morgen dem Kommissar, dann kommt sie raus, das ist klar.«

Pagel schweigt nachdenkend.

»Aber so sehen Sie ja auch nicht aus, als ob Sie so ’ne Botschaft hätten, nicht wahr? Mit so einer Botschaft stellt man sich ja nicht in der Nacht hierher zu mir. Sie möchten mit Ihrer Freundin nur sprechen, nicht wahr – privat?«

»Ich wollte sie etwas fragen«, sagt Pagel.

»Aber dann schreiben Sie ihr doch einen Brief«, sagt der alte Mann begütigend. »Wenn in dem Brief nichts von der Sache steht, wegen der sie hier ist, dann wird er ihr ausgehändigt, und dann darf sie Ihnen auch antworten.«

»Aber ich will sie ja grade wegen der Sache was fragen!«

»Ja, junger Mann, da müssen Sie sich schon gedulden. Wenn Sie sich wegen der Sache erkundigen wollen, das dürfen Sie auch im Untersuchungsgefängnis nicht. Bis die Sache nicht abgeurteilt ist, darf mit ihr nicht darüber geredet werden.«

»Und wie lange kann das dauern?« fragt Pagel verzweifelt.

»Ja, das kommt doch ganz auf die Sache an. Hat sie denn gestanden?«

»Das ist es ja eben. Sie hat es gestanden, aber ich glaube es ihr nicht. Sie hat was gestanden, was sie gar nicht getan hat.«

Der Alte greift sehr ärgerlich nach seiner Zeitung. »Jetzt gehen Sie man schlafen«, sagt er. »Wenn Sie eine Geständige dazu überreden wollen, ihr Geständnis zurückzuziehen, da können Sie noch ziemlich lange auf Besuchserlaubnis warten. Und schreiben dürfen Sie ihr dann auch nicht, das heißt, sie bekommt Ihre Briefe nicht. Das ist ja noch schöner! Und ich soll mich dazu hergeben, Ihnen hier heimlich einen Besuch zu verschaffen. Nein, nun gehen Sie man nach Haus. Jetzt habe ich genug davon.«

Pagel steht wieder zögernd. Dann sagt er bittend: »Aber das gibt es doch, das kommt doch vor, daß jemand etwas gesteht, was er gar nicht getan hat. Das habe ich schon oft gelesen.«

»So, haben Sie das gelesen?« fragt der Alte fast giftig. »Dann will ich Ihnen sagen, junger Mann, daß jemand, der was Falsches gesteht, immer was viel Schlimmeres ausgefressen hat. Jawohl, einer gesteht einen Einbruch, weil er zur selben Stunde einen Mord begangen hat. So ist das. Und wenn Ihre Freundin gestanden hat, so wird sie auch wohl wissen, warum. Da würde ich mich sehr hüten, ihr dreinzureden. Sonst fällt sie noch viel schlimmer rein!«

Sehr zornig schielt der Alte, jetzt schon wieder durch den Kneifer, auf Pagel. Der aber steht wie vom Donner gerührt. Die Worte des Alten, die ganz anders gemeint sind, haben ein neues Licht auf Petras Geständnis geworfen. Jawohl, jawohl, etwas gestanden, um etwas Schlimmeres zu vermeiden, Krankheit und Straße gestanden, um Wolfgang zu vermeiden. Gefängnis besser als Gemeinschaft. Vorbei, vorbei! Glauben verloren, Vertrauen endgültig verloren – fort von ihm, fort aus der Welt, hinaus aus dem Unerträglichen in das zu Ertragende! Ein hoher Gewinn wiederum verloren. Blank, alle …

»Ich danke Ihnen auch«, sagt Pagel sehr höflich. »Sie haben mir wirklich einen guten Rat gegeben.«

Und langsam geht er den Gang hinunter, von der Pforte fort, verfolgt von den mißtrauischen Blicken des Alten.

Es ist grade die rechte Zeit, seine Sachen aus der Tannenstraße abzuholen. Um diese Stunde erwartet ihn die Mutter bestimmt nicht. Um diese Zeit schläft sie fest. Auf dem Alexanderplatz findet er bestimmt eine Taxe. Gottlob, daß Studmann mit Geld ausgeholfen hat, Studmann, der Nichtspieler, der einzige Kapitalist, Studmann, der Hilfreiche, Studmann, die Vorsehung der verregneten Hühner, die Hilfskasse der Abgebrannten. – Übrigens im Ernst, der Umgang mit Studmann muß wohltuend sein, beinahe ist es so, als könnte man sich auf Neulohe und Studmann freuen.

Wolf unter Wölfen
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