7

Natürlich – wie immer, aber man gewöhnte sich auch daran – kam Pagel nicht sofort auf das Büro. Bei den eiligsten Wegen kam immer etwas dazwischen.

Diesmal war es der Tierarzt aus der Kreisstadt, auf den seltenen Namen Hoffart hörend, aber nicht aussehend wie sein Name. Der Futtermeister hatte ihn in Pagels Abwesenheit gerufen: das Reitpferd des Rittmeisters fohlte seit dem Morgen, eine englische Vollblutstute, Mabel hieß sie, aber sie wurde nicht fertig damit. Sie hatte Wehen und Wehen, aber die Geburt ging nicht vorwärts.

Man hatte alles getan, wie es sich gehörte: die Box der Stute war dicht verhängt worden, denn gebärende Pferde sind geschämig, sie vertragen es nicht, wenn ihnen ein menschliches Auge zusieht. Ein neugierig hereingeworfener Blick kann die Geburt für Stunden aufhalten.

Aber mit dieser Abgeschlossenheit war es nun vorbei. Als Pagel mit dem Tierarzt in die Box trat, warf ihnen das Pferd einen im Winkel geröteten Blick zu, der von Qual sprach und um Hilfe flehte. Wie bei den Menschen hatte sich die Scham verloren, als der Schmerz unerträglich wurde.

»Bis vor einer halben Stunde habe ich noch die Herztöne vom Fohlen gehört. Jetzt ist alles still, ich bin überzeugt, es ist tot. Wahrscheinlich hat es sich in der Nabelschnur erstickt. – Ich bin leider zu spät gerufen.«

Der Tierarzt Hoffart sah Pagel mit der ergebungsvollen Miene des Mannes an, der gewohnt ist, jeden Tod als Schuld auf seinem Konto buchen zu müssen.

»Und was ist zu tun?« fragte Pagel, den mehr als die Schuldfrage die Qual der Kreatur interessierte.

»Ich habe nachgesehen«, sagte der Tierarzt erleichtert und eifrig. »Leider ist die Stute sehr eng. Ich werde das Fohlen in ihr zerschneiden und stückweise herausholen müssen. So könnte man wenigstens die Mutter retten.«

»Es ist bloß ein niedergebrochenes Vollblut«, meinte Pagel nachdenklich. »Der Rittmeister soll es für ein paar hundert Mark aus irgendeinem Rennstall gekauft haben. Aber er hat sehr an dem Pferd gehangen. – Wissen Sie was, Herr Doktor«, sprach er lebhafter, »gedulden Sie sich noch eine Viertelstunde, zwanzig Minuten – ich gebe Ihnen dann Bescheid.«

»Die Wehen hören fast auf, das Herz läßt sehr nach. Ist hier wenigstens jemand, der solange einen starken Kaffee für den Gaul kochen kann? Ich will ihm auch eine Kampferspritze geben … Aber alles müßte schnell gehen.«

»Alles wird schnell gehen. Ich schicke Ihnen den Kaffee hierher, wieviel –? Eine Weinflasche voll? In einer Weinflasche, gut!«

Er lief schon über den Hof, dem Beamtenhaus zu. In der Dunkelheit sprach ihn jemand an, er verstellte ihm den Weg. Es war wohl die schwarze Minna, sie jammerte irgend etwas von der gnädigen Frau, von der Sophie … Er lief eilig an ihr vorbei und auf das Büro …

Während er der Amanda die Weisungen wegen des Kaffees gab, verlangte er schon die Verbindung mit dem Kassenarzt. Der Arzt konnte nicht, in der Bürotür erschien die schwarze Minna und fing wieder an, irgend etwas zu plärren … Er winkte ihr wütend ab, der Arzt entschloß sich, doch noch zu kommen, er würde um neun, halb zehn auf dem Büro sein, Pagel möge ihm den Weg ins Försterhaus zeigen. Pagel sagte: »Ja«; er rief Amanda zu: »Also Sie besorgen den Kaffee ganz rasch in den Pferdestall«, und schoß an den beiden Frauen vorüber, wieder in die Nacht hinaus.

Er hatte ein undeutliches Gefühl davon, daß die schwarze Minna wirklich etwas vorzubringen gehabt hatte, etwas wie eine Beschwerde, eine Mahnung, eine Warnung. Aber wie jetzt oft, hatte er keine Zeit zuzuhören. Er mußte weiter. Hinter seinem Rücken, er ahnte es doch, spann sich schon wieder der schönste Ratsch und Tratsch zwischen den Frauenzimmern an. Er konnte es nicht hindern, er mußte laufen, eine Viertelstunde, hatte er zum Tierarzt gesagt. Fünf Minuten waren davon schon vertan, übrigens war alles vielleicht Unsinn, das, was er ahnte, wie das, was er vorhatte. Nun gut, dann war es auch noch so! Weiter! Jedenfalls weiter!

Die Villa öffnete ihm auf sein Klingeln der Pfleger des Rittmeisters selbst. Dieser Pfleger, Schümann geheißen, ein älterer, fahler, etwas fetter Mann, mit ein paar ergrauenden Sardellen über dem kahlen Schädel, trug, als sei er in einer Anstalt, stets eine weißblau gestreifte Jacke, Ledersandalen, graue, faltige Hosen, die seit ihrem Ankauf sicher noch nie wieder eine Bügelfalte erlebt hatten. Pagel mochte den ruhigen, stillen Mann gerne. Er hatte ein paarmal einen Schwatz mit ihm gehabt. Der Pfleger Schümann hatte ihm erzählt, was er keinem gesagt hatte, nicht einmal der Frau, nicht einmal dem Arzt.

»Ich glaube nicht, Herr Pagel«, hatte der Mann leise, flüsternd gesagt, »daß der Herr Rittmeister so krank ist: geisteskrank, wie der Herr Doktor meint. Der Herr Rittmeister hat einen Schock erlitten – aber geisteskrank? Nein! Er kann nicht sprechen, er lächelt zu allem, was man ihm sagt – aber er verstellt sich ja nur! Er will nicht mehr sprechen, er will nicht mehr hören noch sehen; er hat genug von der Welt, das ist es! Er kann ja im Schlaf sprechen …«

»Aber ist das nicht auch eine Krankheit?« hatte Pagel gefragt.

»Vielleicht, ich weiß nicht. Vielleicht ist er bloß feige und mutlos. Die ersten Tage hat er ganz gut reden und mit mir zanken können, wenn er seinen Alkohol haben wollte. Dann hat er nur noch gesprochen, um Schlafmittel zu erbetteln, und als wir ihm die auch entzogen haben, hat er sich gesagt: Das Reden hat keinen Sinn mehr, die geben mir doch nichts, also halte ich den Mund …«

»Glauben Sie denn, Herr Schümann, daß er auch nichts trinken würde, wenn er ohne Aufsicht wäre?«

»Das ist immer das Schwierige, Herr Pagel, das weiß man bei solchen nie! Vielleicht, wenn alles glatt geht, daß er es ohne Trinken aushält. Aber wenn er wieder etwas Unangenehmes hört – und er hört alles, er paßt ja so auf! –, dann ist es möglich, daß er wieder zusammenklappt. Deswegen bleibe ich ja noch hier.«

So war damals die Unterhaltung gegangen, die beiden hatten noch öfters über dieses Thema gesprochen, sie waren eigentlich recht vertraut miteinander geworden.

Jetzt fragte Pagel eilig: »Nun, was macht der Herr Rittmeister? Liegt er im Bett? Ist er auf? Ist die gnädige Frau im Hause?«

»Die gnädige Frau ist fortgefahren«, berichtete der Pfleger. »Herr Rittmeister ist auf, ich habe ihn angezogen, mit Kragen und Schlips, und jetzt liest er!«

»Er liest –?« fragte Pagel verblüfft. Er konnte sich den Rittmeister, auch in gesunden Tagen, kaum lesend vorstellen – es sei denn die Zeitung.

Herr Schümann feixte dünn.

»Hätten Sie mir nicht erzählt, daß der Herr Rittmeister in diesem Sommer ein paar Wochen als Jagdgast in einer Klapsmühle gewesen ist, ich wäre ihm wirklich auf den Leim gekrochen.« Jetzt lächelte der Pfleger richtig. »Ich habe ihn in sein Arbeitszimmer gesetzt, ich habe ihm eine Nummer von ›Sport im Bild‹ in die Hand gedrückt, ich habe ihm gesagt: ›Herr Rittmeister, sehen Sie sich mal die Bilder an.‹ Ich bin gespannt, was er tun wird. – Natürlich sind ihm sofort die Idioten aus der Klapsmühle eingefallen. Er ruht nicht eher, bis er die Zeitschrift auf dem Kopf vor sich hat, obwohl ich sie ihm ganz richtig in die Hand gegeben habe. Er guckt immer auf dieselbe Seite, runzelt die Stirn, murmelt mit sich – und nur, wenn ich sage: ›Herr Rittmeister, die nächste Seite‹ – dann dreht er um.«

»Aber was soll das alles?« fragt Pagel etwas unwillig.

»Er spielt doch den Idioten!« kichert Herr Schümann. »Er ist ganz glücklich, wie gut er es macht. Wenn er denkt, ich sehe nicht hin, schielt er von der Seite, ob ich auch aufpasse, was er jetzt wieder anfängt …«

»Aber wir würden ihn doch auch ohne diese Faxen zufriedenlassen!« ruft Pagel ärgerlich.

»Das würden Sie eben nicht!« sagt der Pfleger bestimmt. »Da hat er recht. Wenn Sie merken würden, er ist ganz vernünftig, dann würden Sie verlangen, daß er ein bißchen an seine Wirtschaft denkt, sich um Geld Gedanken macht. Die gnädige Frau würde Schmerz von ihm wegen der Tochter verlangen, Hilfe … Das will er eben alles nicht mehr. Er will nicht mehr mitspielen, er ist leergelaufen, hat nichts mehr zu geben.«

»Dann ist er eben doch krank!« ruft Pagel. »Nun, wir werden ja sehen. Hören Sie mal zu, Herr Schümann …«

Und er entwickelt seinen Plan.

»Man kann es versuchen«, sagt der Pfleger nachdenklich. »Freilich, wenn es schiefgeht, kriegen wir beide was aufs Dach – vom Arzt wie von der gnädigen Frau. Nun kommen Sie man rein, wir werden ja gleich sehen, wie er reagiert.«

Es ist ein recht trauriger Anblick, es ist auch ein sehr beschämender Anblick – wenn der Mann nicht wirklich so krank ist, wie er tut. Da sitzt der Rittmeister, in einem seiner untadeligen englischen Schneideranzüge, immer noch dunkle Augen, aber Haar und Brauen schneeweiß. Das ehemals braune Gesicht sieht aus wie vergilbt. Er hat eine Zeitung in der Hand, er kichert vor Vergnügen über das, was er sieht. Die Zeitung wackelt in seinen Händen, der ganze Rittmeister wackelt mit.

»Herr Rittmeister!« sagt der Pfleger. »Legen Sie bitte die Zeitung weg. Sie müssen sich anziehen und ein bißchen fortgehen.«

Einen Augenblick scheint es, als wenn die Stirn sich zusammenzieht, die weißen, buschigen Brauen rücken einander näher – aber dann faßt ein neues Kichern den Mann, die Zeitung raschelt in seiner Hand.

»Herr Rittmeister«, sagt jetzt Pagel, »Ihre Stute, die Mabel, ist am Fohlen. Aber es geht nicht glatt, der Tierarzt ist da. Er sagt, das Fohlen ist tot, und die Stute wird auch hops gehen. Wollen Sie nicht einmal nachsehen?«

Der Rittmeister starrt mit gerunzelter Stirn in die Zeitung, er kichert nicht mehr, er scheint ein Bild zu betrachten …

Die beiden warten, aber es erfolgt nichts.

»Kommen Sie, Herr Rittmeister«, sagt der Pfleger schließlich freundlich. »Geben Sie mir mal die Zeitung.«

Der Rittmeister hat natürlich nichts gehört, so wird ihm die Zeitung aus der Hand genommen. Er wird auf die Diele geführt, ein Mantel wird ihm angezogen, eine Sportmütze aufgesetzt, sie treten aus dem Haus, in die Nacht hinaus.

»Bitte, nehmen Sie meinen Arm, Herr Rittmeister«, sagt der Pfleger mit seiner sachten, ein wenig berufsmäßigen Freundlichkeit. »Herr Pagel, wollen Sie Herrn Rittmeister auch Ihren Arm geben. – Das Gehen muß Ihnen ja noch sauer werden, Sie sind ja sehr krank gewesen.«

Fast unmerklich liegt der Ton auf dem »gewesen«.

Vielleicht ist es Zufall, aber vielleicht hat der Kranke die Betonung gespürt. Er hat sie als Herausforderung empfunden, er fängt wieder an zu kichern.

Dann geht er still, ein wenig unsicher, wankend zwischen den beiden.

Nach einer Weile, sie sind den Häusern des Dorfes nun schon nahe, merkt Pagel, daß der Arm des Rittmeisters in dem seinen zittert. Der ganze Mann zittert und bebt. Etwas wie Angst vor dem, was er unternommen hat, will den jungen Pagel überkommen. Er schwankt, schließlich sagt er: »Sie zittern ja so – ist Ihnen kalt, Herr Rittmeister?«

Der Rittmeister antwortet natürlich nicht. Aber der Pfleger hat wohl verstanden, was Pagel gemeint hat.

»Das hilft nun nichts mehr, Herr Pagel«, sagt er. »Jetzt können wir nicht mehr umdrehen. Nun müssen wir durch!«

Sie gehen über den Gutshof. Sie treten in den Stall. Pagel sieht wohl den Schreck in den Gesichtern der Leute, die da stehen. Der Rittmeister war ja nach dem Geschwätz ein Verrückter – nun kam der Verrückte zu ihnen in den Stall!

»Alle Mann aus dem Stall!« befiehlt er. »Nur Sie, Futtermeister, und meinethalben Sie, Amanda, können hierbleiben. Machen Sie die Stalltür zu, Amanda.«

Gottlob benimmt sich der Tierarzt ganz vernünftig. Er sagt ruhig: »Guten Abend, Herr Rittmeister« und tritt etwas auf die Seite, um den Eingang zur Box freizugeben.

Es war Pagel, als hätte er einen leichten Zug an seinem Arm gespürt. Jawohl, der Rittmeister zog nach der Box, sie konnten ihn loslassen. Er stand frei und allein da.

Das Pferd lag auf der Seite, die Beine weit von sich gestreckt. Es drehte den Kopf mit den traurigen, hilflosen Augen. Es hatte seinen Herrn erkannt, es wieherte leise, als erwarte es die immer noch ausgebliebene Hilfe nun von ihm.

Der Tierarzt Hoffart berichtete: »Seit ich der Stute Kaffee und Kampfer gegeben habe, sind die Wehen wieder stärker geworden, auch die Herztätigkeit ist jetzt recht gut. Es ist mir beinahe so, als hörte ich wieder leise Herztöne des Fohlens – aber ich kann mich irren, ich bin nicht ganz sicher …«

Der Tierarzt schweigt. Sie schweigen alle. Was tut der Rittmeister? Er hat den Mantel ausgezogen, er sieht sich um, der Futtermeister nimmt seinem Herrn den Mantel ab, alle sind still, so still … Der Rittmeister von Prackwitz zieht auch sein Jackett aus, der Futtermeister nimmt es. Der Rittmeister nestelt am Knopf seiner Manschette – Amanda ist da und hilft ihm, den Ärmel hochzustreifen.

Jawohl, das ist die rechte Geburtshelferhand, schmal, mit geschickten Fingern; ein Handgelenk, dünn wie bei einem Kind, aber aus Stahl! Ein langer, schlanker Arm, nichts von Fleisch, aber Sehnen, Knochen, Muskeln.

Sie sind atemlos still, als der Rittmeister hinter dem Pferd niederkniet – nun zögert er, er sieht sich unwillig um – was ist los? Was fehlt noch? Warum spricht er nicht?!

Aber der Tierarzt Hoffart hat ihn schon ohne Worte verstanden, er kniet neben dem Rittmeister, er reibt den Arm mit Öl ein, daß er glatt und geschmeidig ist. Dabei flüstert er: »Ein wenig Vorsicht, Herr Rittmeister! Wenn die Wehen kommen, schlägt der Gaul, man hat vergessen, ihm die Eisen abzunehmen …«

Der Rittmeister runzelt ungnädig die Stirn, er preßt die fast farblosen Lippen zusammen. Dann macht er sich an seine Arbeit. Bis zur Schulter verschwindet der lange Männerarm in dem Pferdeleib, der Mund hat sich weit geöffnet, geheimnisvoll liest man das Tasten und Suchen der Hand auf dem Gesicht des Mannes ab. Nun leuchtet das Auge auf, der alte glühende Blitz, er hat gefunden, was er suchte!

Jawohl, jawohl – dieser Rittmeister, dieser Mann, einer unter den Menschen – er hatte sich vor dem schmählichen Untergang der Tochter feige verkrochen. Er jammerte nach Alkohol und Veronal, er spielte den Trottel – aber da ein Pferd in Not ist, verläßt er die selbstgewählte Einsamkeit, er kehrt zurück zu den Menschen, er findet noch etwas auf dieser Erde, was des Tuns wert ist! O mein Gott, das sind die Menschen, so sind sie – besser sind sie nicht. Aber auch nicht schlechter.

Ein paarmal muß der Rittmeister seine Arbeit unterbrechen. Die Wehen sind da, das Pferd schlägt mit den Hufen vor Schmerz, aber er zieht seinen Arm nicht zurück, er duckt sich, denn diese Wehen, die ihn gefährden, helfen ihm auch, die Frucht von der Mutter zu lösen.

Dann wird das Gesicht des Rittmeisters dunkelrot, diese Wehen pressen ja auch seinen Arm mit unendlicher Gewalt aus dem Leib – mit aller Kraft widersteht er. Pagel läßt sich neben dem Rittmeister auf dem Stroh nieder, er stützt mit seiner Schulter die Schulter seines Herrn – ein Blick trifft ihn, ein dunkler Blick, glühend aus allem Dunkel –. Nein, dies ist nicht der Blick eines Trottels. Vielleicht aber ist es der Blick eines Menschen, der Unsagbares gelitten hat …

Als die Hufe des Fohlens erscheinen, geht eine Bewegung durch die Herumstehenden. – Siehe, es kommt die feine, samtige Schnauze, der Kopf, die Schultern folgen nur zögernd. – Dann, mit unendlicher Schnelle, folgt sehr lang der Leib. Das Fohlen liegt wie leblos auf dem Boden, der Tierarzt kniet bei ihm, untersucht. Er sagt: »Es lebt!«

Mit einem Ruck steht der Rittmeister auf, er greift suchend in die Luft. Der Pfleger sagt: »Halten Sie sich nur fest an mir, Herr Rittmeister. Das war ein bißchen viel für den Anfang.«

Und der Rittmeister versteht und hält sich fest.

Amanda Backs ist mit einer Blechschale und warmem Wasser da, behutsam wäscht sie des Rittmeisters mit Blut beschmutzten Arm, als sei der auch etwas Neugeborenes, leicht Verletzliches.

Dann geht Herr von Prackwitz zwischen seinen Führern aus dem Stall. Er geht, ohne einen Menschen anzusehen, ohne ein Wort, schwer, mit schleppenden Füßen, als schliefe er schon. Langsam gehen sie zwischen den Gutshäusern durch. Dann, als sie auf den freien Weg zur Villa hinauskommen, als der aus den Wäldern wehende Oktoberwind sie mit all seiner Frische anspringt, bleibt der Rittmeister stehen. Ein Zucken geht durch ihn, ein Krampf schüttelt seinen Leib. Joachim von Prackwitz sagt das erste Wort nach langem Schweigen. Es ist nur ein Ausruf, ein Ruf der Klage, der Verzweiflung, der Besinnung – wer weiß es? Er ruft: »Mein Gott –!«

Pagel und Schümann sagen nichts. Nach einer Weile nehmen sie ihren Weg wieder auf, schwer geht der Kranke zwischen ihnen. Sie kommen zur Villa, Pagel hilft noch, den Rittmeister in sein Schlafzimmer zu bringen, dann, als der Pfleger anfängt, Herrn von Prackwitz auszuziehen, steigt er wieder die Treppe hinunter und setzt sich wartend auf die Diele.

Ein Weilchen sitzt er tatenlos. Ein Gefühl guter Müdigkeit erfüllt seine Glieder. Er ist erschöpft, aber er denkt, er hat etwas Richtiges, etwas Gutes getan. Ihm fällt etwas ein: Er steht auf und geht nach kurzem Anklopfen in das Zimmer der gnädigen Frau. Kaum hat er das Licht eingeschaltet, sieht er die Briefstapel auf dem Schreibtisch – jetzt sind es schon mehrere, sie sind hoch, viele Briefe liegen dort.

Er hat einen kleinen Widerwillen zu überwinden, aber, nicht wahr?, man kann ja im Leben nicht nur Dinge tun, die einem angenehm sind! Er läßt die Briefe durch seine Hand gleiten, er glaubt die Handschrift des Geheimrats zu kennen. Er wartet auf die ausländische Marke, den Poststempel: »Nice« muß er lauten, wenn ihn seine Schulkenntnisse nicht trügen.

Aber den ersten Stapel durchblättert er umsonst, ebenso den zweiten. Im dritten ist auch nichts. Als er den vierten und letzten ebenso ergebnislos aus der Hand legt, fällt sein Blick auf einen Notizblock. Er will nicht lesen, aber er hat es schon gelesen – »Vater schreiben« steht da. Er macht das Licht aus und setzt sich wieder auf die Diele.

Diese Notiz kann alles bedeuten: daß die gnädige Frau von sich aus ihrem Vater schreiben will, aber auch, daß sie nicht vergessen will, einen Brief von ihm zu beantworten. Also ist er so weit wie vorher. Er hat diese kleine, ein wenig deprimierende Schnüffelei umsonst betrieben, er weiß nicht recht weiter, er weiß nur, daß er weiter muß …

Eine Weile später kommt dann der Pfleger die Treppe hinunter.

»Er ist sofort eingeschlafen«, meldet er. »Es war wirklich etwas kräftig. Nun, man muß abwarten.«

»Was glauben Sie denn?« fragt Pagel.

»Man muß morgen sehen«, antwortet der Pfleger wieder. »Man weiß nicht.« Und nach einer Pause: »Wie ist es? Sagen Sie es der gnädigen Frau?«

»Ja, richtig«, stimmt Pagel zu. »Einer von uns muß es ihr sagen. Sie darf es nicht von andern Leuten erfahren.«

Herr Schümann sieht Pagel bedenklich an. »Wissen Sie was, Herr Pagel«, meint er dann. »Sie haben es zwar angeregt, aber ich werde es ihr sagen und werde es auf meine Kappe nehmen.« Und als Pagel eine Bewegung macht: »Ich habe gehört, da ist so eine Weiberklatscherei im Gange. Die Frauen sind nun mal komisch; werde ich Ihnen wenigstens das abnehmen.« Er lächelt. »Freilich, wenn es gut ausgegangen ist mit dem Herrn Rittmeister, habe nachher ich den Ruhm davon …«

»Ich kann mir schon denken, was wieder los ist!« sagt Pagel ärgerlich. »Aber die soll mir nur kommen!«

»Kümmern Sie sich nicht darum, Herr Pagel«, tröstet ihn der Pfleger. »Eiterbeulen muß man erst aufstechen, wenn sie reif sind. Also vorläufig gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagt Pagel und macht sich wieder einmal auf den Weg zum Beamtenhaus.

Es ist schon nach acht, Amanda wird schön mit ihrem Abendessen warten. Endlose Geschäftspost ist zu erledigen, an die Mutter möchte er auch schreiben, der Arzt kommt, er muß zum Förster, nach dem Fohlen muß er auch noch mal sehen – aber am liebsten ginge er sofort ins Bett –, und ein Klatsch ist auch im Gange!

Gib Ruhe, liebe Seele, gib Ruhe!

Ja, wenn die andern nur Ruhe gäben …

Wolf unter Wölfen
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