6

Als der Leutnant wieder auf der Straße stand, wußte er, nie würde er in jenen Raum zu Herrn Richter zurückkehren, nie den erwarteten Bericht erstatten, nie mehr zu Kameraden Kamerad sagen. Ehre verloren, alles verloren, klang es in ihm. Jawohl, die Ehre, die ihm gemeinsam mit den andern Offizieren gehörte, die hatte er verloren. Er hatte wie ein Feigling gelogen, um sich dem Richterspruch der andern zu entziehen. Aber nicht, weil er den Tod fürchtete – den Tod hatte er sich schon zuerkannt, sondern weil er auf seine eigene Art sterben wollte – ihr zum Gedächtnis!

Der Leutnant hat die Hände in die Taschen gesteckt; die Zigarette zwischen den Lippen, schlendert er durch den grauen, staubfein nieselnden Mittag dem abseits liegenden Teile der Stadt zu, wo die Villen der Offiziere liegen. Genau überlegt, ist es ein völliger Unsinn, noch diese Demütigung auf sich zu nehmen, bei dem Mädchen Frieda zu horchen, was ihre Herrschaft geredet hat. Er wird Herrn Richter nie das Ergebnis seiner Ausforschungen übermitteln. Mögen die sehen, wie sie mit ihrem Putsch zurechtkommen, er kümmert sich nur noch um seine eigenen Angelegenheiten!

Wie der Leutnant da scheinbar sorglos und zeitlos in seinem verschlissenen Zivil durch die Straßen bummelt, auch einmal in einen Laden tritt und sich ein halbes Hundert Zigaretten von einer sehr viel besseren Sorte als gewöhnlich kauft, hat er eine senkrechte, tiefe Falte zwischen den Augenbrauen, gerade über der Nasenwurzel: – eine Grübelfalte. Es ist nicht ganz leicht für einen jungen Mann, der in seinem ganzen Leben immer lieber etwas getan als nachgedacht hat, sich klarzuwerden, was eigentlich mit ihm los ist, was er will und was er nicht will.

Tief überrascht hat ihn eben doch der Gedanke, wie gleichgültig ihm der Putsch geworden ist, für den er Monate und Monate gearbeitet, fast ohne Geld, alles entbehrend, was junge Männer sonst lieben. Sehr überrascht hat es ihn doch, wie gleichgültig ihn das Fortgehen von den Kameraden läßt, zu denen er nun nicht mehr gehört, deren Gesellschaft ihm doch immer wichtiger war als die Liebe eines jeden Mädchens.

Er hat viel ertragen müssen an diesem Vormittag, Dinge, die er sonst nie ertragen hätte, die ihn zum Toben gebracht hätten: den Portweinguß des Rittmeisters, das argwöhnische Ausfragen des lächerlichen Friedrich, den fast unverhüllten Ekel von Herrn Richter und zum Schluß die schmachvolle Vernehmung durch den dicken Kriminalisten. Aber auch dies alles ist schon wieder abgeglitten von ihm; er, der sonst eine angetane Kränkung durch Jahre nicht vergessen konnte, der rachsüchtig ist, muß sich Zwang antun, wenn er sich dieser nahen Ereignisse überhaupt noch erinnern will.

Es ist seltsam, Mensch, aber es ist doch, als wäre ich schon gar nicht mehr recht dabei. Als ginge mich diese Welt nichts Rechtes mehr an. Wie ein Sterbender, dem alles versinkt … Ja, jetzt fällt es mir wieder ein: wenn die Menschen sterben, so fangen ihre Hände ruhelos auf der Bettdecke herumzusuchen an. Die einen sagen, der Sterbende gräbt sich sein Grab, und die andern: er sucht etwas, an dem er sich festhalten kann auf dieser Welt. Ist es auch so bei mir? Entgleitet mir alles, und ich finde nichts mehr auf der Welt, mich daran zu halten? Aber ich bin kein Sterbender, ich bin nicht die Spur krank – wissen es denn schon die Zellen in mir, daß sie sterben müssen? Kann Tod nicht nur eine Vernichtung durch Krankheit sein, sondern auch Zerstörung des Leibes durch einen Gedanken?! Bin ich denn wirklich ein Verräter?!

Er bleibt stehen, er sieht sich um, als wachte er aus einem bösen Traum auf. Er ist auf einem weiten, öden Platz, festgestampft durch die Schuhe vieler hundert Soldaten, eine gelbliche, lehmige, trostlose Fläche, aus der kaum ein Unkraut sich hervorwagt. Am andern Ende des Platzes sind die grellen, gelben, nackten Kasernenbauten, von einer hohen, gelben Mauer umgeben, deren First mit Glasscheiben gespickt ist. Das fahlgrau gestrichene große Eisentor ist geschlossen, der Posten mit Stahlhelm, den Karabiner umgehängt, geht auf und ab, um sich ein bißchen zu erwärmen.

Der Leutnant sieht dieses Bild, wiederum trostlos wie ein schlimmer Traum; eine finstere Entschlossenheit steigt in ihm auf, etwas Böses, sehr Dunkles. Er geht quer über den Platz, er denkt: Nun will ich doch einmal sehen!

Er stellt sich mitten in den Weg des Postens und sieht ihn herausfordernd an. »Nun, Kamerad?« sagt er.

Er kennt den Mann, und der Mann kennt ihn. Der Leutnant hat ihm und seinen Kameraden manchmal eine Lage geschmissen. Sie haben dann und wann beisammengesessen; ja, als es auf einem ländlichen Tanzboden einmal eine Holzerei gab, haben sie Seite an Seite den Saal geräumt. Sie sind also ganz gute Bekannte, aber jetzt tut der Mann so, als wüßte er von keinem Leutnant, er sagt halblaut: »Machen Sie, daß Sie weiterkommen!«

Der Leutnant aber bleibt stehen. Er ist noch finsterer geworden, er spricht den Posten von neuem an, er fragt höhnisch: »Nun, Kamerad, bist du so fein geworden, daß du mich nicht mehr kennst?«

Der Mann verzieht das Gesicht nicht, er scheint nichts gehört zu haben, er geht vorbei, ohne ein Wort. Als er aber sechs Schritte gegangen ist, muß er kehrtmachen, er geht wieder auf den Leutnant zu. Diesmal sagt der Leutnant: »Höre, Mensch, ich habe nichts zu rauchen. Schenk mir eine Zigarette, und ich gehe sofort weiter.«

Der Mann wirft einen raschen Blick nach links. Die kleine Tür für Fußgänger steht offen, man sieht ein Stück Kiesweg und die Fenster des Wachtraums, dann sieht er nach rechts zu dem Leutnant hin. Das Gesicht des Leutnants trägt einen schwer zu enträtselnden Ausdruck aus Hohn, Verzweiflung, Angst. Der Posten wird aus diesem Gesicht nicht klug, aber es hat etwas Warnendes, Drohendes, sonst hätte er es vielleicht doch gewagt und dem Leutnant eine Zigarette geschenkt. So aber geht er wortlos vorüber, macht beim Schilderhaus kehrt. Eine Ahnung läßt ihn den Karabiner von der Schulter nehmen, nun geht er wieder auf den Leutnant zu.

Der Leutnant ist ganz im Banne seiner wilden, zu allem entschlossenen Verzweiflung. Es ist ihm ja nun längst klar, daß die Reichswehr nichts mehr von ihnen wissen will, daß da strengste Befehle erlassen sind, sich nicht mehr mit diesen Außenseitern abzugeben. Aber er will unter allen Umständen erreichen, daß der Mann sich mit ihm einläßt, er will Streit mit ihm bekommen, er will in die Kaserne gebracht werden, seinethalben als Festgenommener. Dann kann er den Offizier vom Wachtdienst fragen: »Was habt ihr gegen uns?« – Und wenn er dann etwas von einem Waffenlager hört … Nun gut! Erledigt –! Er-ledigt!!!

Es ist ein vollkommen wahnsinniger Gedanke, der ihn da besessen hält. Als wenn der Offizier vom Wachtdienst geneigt wäre, einem Festgenommenen Auskünfte zu erteilen, die den freien Kameraden verweigert werden!

Aber der Leutnant ist eben nicht mehr verständig, er hat einen ganz richtigen Gedanken gehabt, als er meinte, die Zellen in ihm seien erkrankt. Er läßt dieses Mal den Posten unangefochten an sich vorbei, während der ihm aber den Rücken dreht, brennt er sich eine Zigarette an. Qualmend blickt er dem rückkehrenden Mann entgegen; er freut sich über den verblüfften, etwas dämlichen Ausdruck auf dem Gesicht, das den Leutnant rauchen sieht, der eben noch um eine Zigarette bat. Der Leutnant streckt ihm eine zweite Zigarette hin und sagt: »Hier, Kamerad, hast du eine Zigarette von mir, weil du keine für mich hast.«

Der Mann bleibt stehen, er sagt entschlossen: »Gehen Sie jetzt, oder ich rufe die Wache.«

»Ich gehe erst«, erklärt der Leutnant, »wenn du die Zigarette genommen hast.«

Der Mann sieht ihn schweigend an, er greift nicht nach der Zigarette, aber er hebt den Karabiner etwas an. Schließlich sagt er zuredend: »Seien Sie doch vernünftig! Gehen Sie jetzt!«

Auch der Leutnant möchte den andern überreden. »Kamerad«, sagt er, »nimm die Zigarette. Tu mir den Gefallen und nimm sie. Bloß, daß ich sehe, du bist noch mein Kamerad. Da!« Er hält sie ihm hin. Dann setzt er drohend hinzu: »Wenn du sie nicht nimmst, muß ich dir in die Fresse schlagen.«

Der Mann sieht ihn ernst, beobachtend, abwartend an. Er macht keinerlei Anstalten, die Zigarette zu nehmen, er wartet, was der Leutnant tun wird.

In dem Leutnant entsteht plötzlich ein Gedanke, der ihn fast rasend vor Wut macht. »Ach!« ruft er. »Du denkst wohl, ich bin besoffen –?! Ich werde dir zeigen, wie besoffen ich bin …«

Er läßt die Zigarette fallen, und im gleichen Augenblick stößt er die Faust direkt gegen das Gesicht des Soldaten.

Aber weiß es der Himmel – der Leutnant, sonst ein so geschickter Boxer, hat heute keinen guten Tag. Hölzern prallt die Faust auf das Holz des Karabinerschaftes. Ein brennender Schmerz durchzuckt Hand und Arm, dann trifft ihn der Kolben mit aller Gewalt vor die Brust, rücklings taumelnd fällt der Leutnant – es ist ihm, als könne er nie wieder atmen.

Doch wie er so daliegt, um Luft kämpfend, immer den achtsamen Blick des Postens auf sich, als sei er ein wildes Tier, eine Art reißender Wolf, den man nicht aus dem Auge lassen darf – wie er bedenkt, daß der Posten ihn nun doch nicht festgenommen hat, nicht in die Kaserne gebracht hat, nicht auf ihn geschossen hat – wie er sich weiter trübe im Hundertstel einer Sekunde der Pistole in der eigenen Tasche erinnert, mit der er die Schmach des Schlages heimzahlen könnte –

Da durchfährt es ihn mit schneidender Schärfe, daß er nicht nur die Kameraden über den Verrat des Waffenlagers getäuscht, daß er ihnen nicht nur jetzt ganz grundlos neue Schwierigkeiten gemacht hat, sondern daß er wirklich nichts wie ein Feigling ist. Daß er alle diese Dinge nur tut, um die Fahrt in den Schwarzen Grund zu verzögern, um die Entdeckung der Wahrheit hinauszuschieben, um sich ein paar Stündchen Leben zu stehlen! Der Lack platzt, die schöne Farbe blättert ab, morsch, verfault sieht er das Holz seines Lebensschiffes; dies bist du! spricht die Stimme.

Und während er sich mühsam von der Erde hochtastet, während er mit schmerzenden Gliedern weitergeht, ohne auf den Posten zu achten, ohne auch nur an ihn zu denken – so völlig hat die neue Erkenntnis alles eben Geschehene in ihm ausgelöscht –, muß er immer wieder an jenen Sommermorgen im Walde denken, wie er den kleinen Meier mit der Pistole in der Faust vor sich her trieb, wie er den erbärmlichen Feigling verachtet hat, welch Ekel ihn überkam vor seinem Betteln – und peinigend nagt an ihm die Angst: Werde ich auch so feige sein? Werde ich überhaupt den Mut haben, loszudrücken? – Wie werde ich sterben?

Dieser Gedanke wird immer stärker in ihm, wenige Minuten, und er beherrscht alles!

Wie werde ich sterben: als Kerl oder als Feigling? Wird meine Hand vielleicht zittern, und ich werde mich blind schießen wie damals der kleine Rakow? Gott, was hat er geschrien!

Er schaudert, fester umfaßt er den kühlen, glatten Pistolenschaft in der Tasche, als könnte der ihm das Selbstbewußtsein geben, an dem es ihm sein ganzes Leben lang nie gefehlt hat und das nun, da es ans Sterben geht, ihn völlig verläßt. Ich muß schnell machen, denkt er verzweifelt. Ich muß schnell hinfahren in den Schwarzen Grund, damit ich Gewißheit habe. Wie kann ich denn leben, wenn ich nicht einmal weiß, ob ich mutig genug zum Sterben bin?!

Aber während er dies alles denkt, während doch jede Fiber in ihm zur Entscheidung zu drängen scheint, geht er mühsam, aber beharrlich immer weiter von seinem Rade fort, vom Schwarzen Grunde fort, vom Tode fort, zur Ausführung eines widerlichen Spionageauftrages, der doch längst für ihn gegenstandslos geworden ist. Er denkt nicht darüber nach, diese Inkonsequenz fällt ihm schon nicht mehr auf. Aber als er eine kleine Kneipe sieht, in der er manchmal gesessen hat, fällt ihm ein, daß er sich unmöglich mit so beschmutzten Kleidern vor dem Dienstmädchen Frieda sehen lassen kann, und er tritt ein. Er bestellt sich beim Wirt ein Glas Bier und fragt ihn, ob er nicht irgendeine Jacke hat, die er statt des verdreckten Dings anziehen kann.

Der Wirt sieht ihn einen Augenblick schweigend an; er weiß natürlich ungefähr, was der Leutnant vorstellt. Dann verschwindet er und kommt mit einer nagelneuen Windjacke zurück.

»Ich glaube, das Ding müßte Ihnen passen«, sagt er. »Was haben Sie denn mit Ihrer angefangen?«

»Hingefallen«, murmelt der Leutnant.

Er hat seine Windjacke abgestreift und sieht auf der Außenseite des Unterarms einen großen, schwarz unterlaufenen Blutfleck. Gedankenverloren schiebt er das Hemd über der Brust auseinander und findet auch dort die Spuren des Kolbens. Als er das Hemd wieder zuknöpft, begegnet er dem Blick des Wirtes.

»Es geht doch nicht etwa schon los?« fragt der Wirt leise.

»Nein«, antwortet der Leutnant und zieht die Windjacke über. »Paßt wie nach Maß.«

»Ja, ich sah gleich, daß Sie eine Figur mit meinem Jungen haben. Ich habe meinem Jungen die Windjacke für morgen gekauft. Mein Junge geht auch mit, Herr Leutnant.«

»Schön«, sagt der Leutnant und trinkt einen Schluck Bier.

»Nicht wahr, Herr Leutnant?« bittet der Wirt. »Sie sorgen dafür, daß die Windjacke heute abend zurück ist? Er möchte doch auch anständig aussehen, wenn er morgen mitgeht – es ist das erstemal, daß er so was mitmacht.«

»Geht in Ordnung«, sagt der Leutnant nur. »Was bin ich schuldig?«

»O nichts!« antwortet der Wirt eilig. »Eine Frage, wenn Sie es nicht übelnehmen …«

»Nun?«

»Waren Sie in der Kaserne?«

»Nein, ich war nicht in der Kaserne.«

»So – dann wissen Sie also auch nichts. Es soll dicke Luft sein in den Kasernen …«

Er sieht den Leutnant abwartend an, vielleicht denkt er jetzt an die blauschwarzen Flecke auf des Leutnants Körper. Aber der Leutnant sagt nichts. Der Wirt meint bittend: »Sie glauben doch auch nicht, Herr Leutnant, daß es morgen ernstlich was geben könnte –?«

»Ernstlich was geben könnte –?«

»Na, ich meine bloß – ernstlich. – Kämpfe, Schießen und so was – dann würde ich nämlich meinen Jungen nicht mitgehen lassen …«

»I wo!« lacht der Leutnant herzlich. »Was bilden Sie sich denn ein? Kämpfen, Schießen – so was gibt’s doch gar nicht mehr! So ein Putsch ist eine höchst vergnügte Sache! Heldentod gibt’s auch nicht mehr, Heldentod ist seit 18 abgemeldet …« Er bricht plötzlich ab, wie angeekelt.

Der Wirt erklärt ernsthaft: »Ich weiß nicht, ob Sie im Ernst reden. Aber ich frage ganz im Ernst, Herr Leutnant. Weil ich nämlich bloß den einen Jungen habe. Wer soll denn die Kneipe übernehmen, wenn dem was passiert? Man will doch auch nicht umsonst gearbeitet haben in seinem Leben! Sie hätten die Kneipe mal sehen sollen, wie ich sie vor zwanzig Jahren gekauft habe – ein Hundeloch! Und jetzt! Nein, wenn ich wüßte, es könnte was Ernstliches geben – dafür wäre mir mein Junge zu schade. Aber sonst soll er gerne mitgehen – es ist auch gut fürs Geschäft, weil wir viel Stammgäste vom Militär haben.«

Der Leutnant versichert noch einmal, daß alles in Ordnung und ganz ungefährlich ist. Er verspricht noch einmal, die Windjacke am Abend rechtzeitig zurückzuschicken – und nun geht er weiter. Er weiß, er hat den Wirt belogen, aber das macht nichts. Auf ein bißchen weniger oder mehr Lüge kommt es nun auch nicht an. Aus der Nähe betrachtet, ist es zum Kotzen, aus welchen Gründen solche Leute mitmachen, aber für Herrn Richter ist es aus der Nähe betrachtet vielleicht auch zum Kotzen, aus welchen Gründen der Leutnant mitmacht. Die seltsame Erkrankung des Hirns, die Schwächung seines Selbstgefühls hat schon solche Fortschritte gemacht, daß der Leutnant dies einsieht.

Die kurze Rast in der Kneipe, die zwei Schluck Bier haben ihm gutgetan. Er schreitet nun schneller aus, er kommt bald in die kleine Villenstraße, die sein Ziel ist. Die Hecken und Bäume um die Villen sind schon durchsichtiger belaubt: der Leutnant geht rasch, er hat die Mütze deckend in die Stirn gezogen, er würde hier nicht gerne gesehen und erkannt werden, wo soviel Offiziere wohnen.

Die Villa, in die er will, bewohnt ein Oberst, ein aktiver Oberst von der Reichswehr. Nach seiner gesellschaftlichen Stellung könnte der Leutnant gut und gerne den Klingelknopf drücken, um den eine Inschrift läuft: »Nur für Herrschaften«. Aber der Leutnant drückt diesen Knopf nicht, er geht zehn Schritt weiter, bis zu einer kleinen eisernen Gartentür mit dem Schild »Für Lieferanten«. Er stößt die Tür auf, er geht einen fliesenbelegten Gang – der Herrschaftsweg ist schwarzweiß gekiest – um die Villa herum zu ihrer Hinterfront, dorthin, wo Teppichstange und Mülltonnen stehen. Er steigt auch nicht wie die Herrschaften fünf Stufen hinauf in die Beletage mit den Spiegelscheiben, sondern fünf Stufen abwärts in das Souterrain mit Traljen vor den Fenstern, er geht den Küchenweg …

Der Leutnant hat immer an den Satz geglaubt, daß der Zweck die Mittel heiligt. Er hat sich nie geschämt, aus dem früher ganz ordentlichen Mädchen Frieda eine liederliche Hausspionin zu machen, denn er hat dadurch schon manchmal Interna aus der Garnison erfahren, die zu wissen recht nützlich war. Wenn er dieses Mal den Weg sehr viel unlustiger als sonst geht, so liegt das nicht nur daran, daß ja seine ganze Gemütsverfassung nicht gerade rosig ist, sondern vor allem daran, daß er diesen Weg bisher noch nie bei Tageslicht gemacht hat. Ein anderes Gesicht tragen unsere Taten bei Tag, ein anderes bei der Nacht. Der Oberst oben in der Beletage hat zwei Töchter, der Leutnant hat sogar mit diesen Töchtern schon getanzt; es wäre ihm sehr peinlich, wenn ihn diese Töchter beim Besuch im Küchenrevier sähen. Nicht seiner Taten schämt sich der Leutnant, aber er schämt sich, bei seinen Taten gesehen zu werden!

Der Leutnant hat Glück: Als er in den Gang tritt, begegnet er niemand anderem als dem Mädchen Frieda. Sie kommt aus ihrem Zimmer, Handfeger und Kehrichtschaufel in der Hand.

»Tag, Friedel!« grüßt der Leutnant.

Die Friedel, etwa zwanzig Jahre, vollbusig, von jener etwas robusten ländlichen Schönheit, von der mit dem fünfundzwanzigsten Jahre jede Spur verschwunden ist, schreckt ein wenig zusammen. »Bist du das, Fritz?« fragt sie. »Kommst du jetzt auch am Tage? Ich habe aber keine Zeit für dich.«

Dabei stellt sie doch Schaufel und Handfeger an den Rand des Ganges.

»Na, Friedel?« fragt der Leutnant etwas lahm. »Freust du dich denn gar nicht, daß ich gekommen bin –?«

Sie macht keine Anstalten, ihm näher zu kommen, ihn in die Arme zu nehmen, zu küssen wie sonst. Sonst hat sie gestrahlt, wenn sie ihren Leutnant sah. Wer weiß, was das Mädel sich alles eingebildet hat! Eine hingebende Verliebtheit, demütige Willigkeit. Und jetzt –?

Jetzt sagt die Friedel recht schnippisch: »Das habe ich schon den ganzen Morgen gewußt, daß du heute kommen würdest!«

»Nanu!« spielt der Leutnant den Verwunderten. »Hast du jetzt Ahnungen? Du hast wohl von mir geträumt, Frieda? Ja, mir war so … Ich denke, siehst doch mal nach der Friedel …«

Es ist zum Verzweifeln, der Leutnant kann sich keinen Schwung geben. Er sieht das Mädchen an, er sieht es recht mit Absicht an. Jawohl, es ist ein Mädchen, es hat eine angenehme Brust, kräftige Hüften, schöne Beine mit ein wenig zu derben Knöcheln … ach, es wird nichts, er kommt nicht in Gang! Es ist irgendein beliebiges Frauenzimmer, völlig gleichgültig – und so dumm ist die Friedel nun doch nicht, das merkt sie auch!

Spöttisch sagt sie: »So, dir war so, Fritz?! Du hast wohl auch was läuten gehört, daß ihr hinten runtergerutscht seid mit eurem Putsch, und nun willst du ein bißchen horchen bei deiner Friedel, was?«

»Hinten runtergerutscht, wieso?« fragt er und hofft, sie wird ins Sprechen kommen.

»Tu nur dumm!« ruft sie zornig. »Du weißt ganz gut Bescheid. Schiß hast du, darum bist du zu mir gekommen, ein Schisser bist du! Wie ich heute früh gehört habe, was der Oberst der gnädigen Frau erzählt hat, da habe ich mir gleich gesagt: Woll’n mal sehen, Friedel. Wenn er heute kommt, dann kommt er nicht deinetwegen, Friedel. Dann kommt er bloß, um zu horchen, dann bist du bloß sein Spion. Und siehst du, noch keine zwei Stunden, und schon bist du da. Und du willst mir einreden, dir war so!«

Sie sieht ihn zornig, verächtlich an, sie schnauft ein bißchen, ihre starke Brust bewegt sich heftig, der Leutnant sieht es.

So können wir nicht weiterreden, denkt der Leutnant verloren und betrachtet die atmende Brust. Ich muß ja erfahren, was der Oberst seiner Frau gesagt hat …

Und ganz plötzlich geht er ohne ein Wort an dem Mädchen vorbei, er geht in ihr Zimmer, in ihre Kammer –. Das Bett ist noch nicht gemacht, aufgeschlagen liegt es dort, hier hat sie gelegen, hier hat sie geschlafen …

»Nun will ich dir zeigen, wie mir ist«, sagt er hastig und nimmt das Mädchen einfach in die Arme. Er kümmert sich nicht um ihr Sträuben, er hat nie auf die Abwehr der Mädchen geachtet, das ist alles bloß jüngferliche Zimperlichkeit, Anstellerei! Sie hat die Fäuste gegen seine Brust gestemmt, gegen die schmerzende Brust, aber er deckt ihr Gesicht mit dem seinen zu, er legt seinen Mund auf ihren, der sich fest, abweisend schließt. Aber er küßt, er küßt sie …

Jetzt küsse ich noch, denkt er verloren. Gleich wird sie nachgeben, ihre Lippen werden sich öffnen – und dann muß ich sterben. Durch mein Küssen kommt es, daß ich sterben muß, durch mein Küssen wird sie plaudern, sie wird mir alles erzählen –. Und dann muß ich hingehen in den Schwarzen Grund und muß tun, was ich der Violet gesagt habe – »verdammte Violet –!«

Ohne es zu wissen, hat der Leutnant den Namen der Verhaßten laut gesprochen, schon hatte er vergessen, daß er ein Mädchen küßte, er hatte sie nur noch lose im Arm gehalten.

Mit einer wilden Kraft fühlt er sich zurückgestoßen, er fällt polternd gegen den Schrank.

»Mach, daß du rauskommst!« ruft das Mädchen zornig. »Du Lügner, du! Ich soll für dich spionieren, und du denkst dabei an andere –?!« Sie atmet heftig.

Der Leutnant steht mit einem verlorenen, verlegenen Lächeln am Kleiderschrank. Er macht keinen Versuch mehr, sich zu erklären, sich zu rechtfertigen.

»Na ja, Friedel«, sagt er schließlich, immer mit demselben verlegenen Gesicht. »Es ist schon eine komische Welt. Du hast ganz recht. Auf der Schule haben wir schon so was gelernt: nemo ante mortem beatus oder so ähnlich, ich weiß nicht mehr genau. Das heißt: Niemand ist vor seinem Tode glücklich zu preisen, und niemand weiß auch vor seinem Tode, was er wirklich ist. Du hast ganz recht: Ich bin ein Lügner. – Tjüs, Friedelchen, und nichts für ungut!«

Er streckt ihr die Hand hin. Sie nimmt sie zögernd, ihr Zorn ist verflogen, seine Verlegenheit hat sie angesteckt. »Gott, Fritz«, sagt sie und weiß gar nicht recht, was sie zu seinen unverständlichen Sprüchen sagen soll. »Du bist so komisch. Ich war ja nur wütend, weil du dir gar nichts aus mir machst …«

Er macht eine abwehrende Bewegung.

»Na schön, ich sage ja nichts. Aber wenn du es gerne erfahren willst, ich will dir auch erzählen, was der Herr Oberst heute früh …«

Er läßt ihre Hand los: »Nein, danke, Friedel. Das ist nicht mehr nötig. Es ist«, grübelt er schon wieder, »alles wirklich verdammt komisch. Das geht mich nun auch nichts mehr an. Na, tjüs, Friedel. Sieh, daß du bald unter die Haube kommst, es ist das beste für dich …«

Und damit geht er. Er vergißt sogar, sie noch einmal zum Abschied anzusehen. Auch das Mädchen Frieda ist schon völlig für ihn versunken, er hört nicht, was sie ihm nachruft. Tief in Gedanken geht er den Kellergang entlang, die kleine Treppe hinauf, den fliesenbelegten Weg durch den Vorgarten auf die Straße. Er trägt seine Mütze in der Hand, es ist ihm völlig gleichgültig, ob ihn andere sehen und erkennen. Augenblicklich ist er sich der Existenz anderer auf dieser Erde nicht klar bewußt. Er hat mit sich selbst genug zu tun.

Freilich dann, an der nächsten Straßenecke, da muß er denn doch noch einmal aus der stillen Welt seiner Gedanken auf diesen windigen, gefährlichen Stern zurückkehren; denn eine Hand legt sich auf seine Schulter, und eine Stimme sagt zu ihm: »Einen Augenblick bitte, Herr Leutnant.«

Der Leutnant blickt hoch und sieht in das eisige Auge des dicken Kriminalisten.

Wolf unter Wölfen
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