5

Der Leutnant war in seinen kleinen Gasthof geraten, er wußte nicht wie. Er stand in der Kammer, er sah die getünchten Wände an, er horchte hinunter nach dem Geschwätz in der Gaststube, es wurde nicht still.

»Still doch!« rief der Leutnant mit wütend verzogenem Gesicht, aber die plärrten weiter. Eine Weile lauschte er noch, eine Weile war es ihm, als höre er ihre demütige, flehende Stimme heraus: Winseln einer Sklavin – o verdammt!

Ein wenig später besann er sich. Er trank ein Glas von dem abgestandenen Wasser, sah sich um und bemerkte die paar feldgrauen Uniformstücke, die an hölzernen Kleiderhaken hingen. Er war sich unschlüssig, wie er »dorthin« fahren sollte, ob in seinem Räuberzivil oder in Uniform. Er dachte lange darüber nach, was richtiger wäre, aber er konnte es nicht herausbringen.

»Das Leben ist schwer«, sagte er, setzte sich auf einen Stuhl und dachte wieder darüber nach. Aber jetzt wollten seine Gedanken nicht mehr bei der Kleiderfrage verweilen, sie gingen weiter. Ihm fiel ein, daß ihm befohlen worden war, heute abend um neun mit seinen Leuten die Waffen aus dem Schwarzen Grund zu holen. Nichts zwang ihn, vorher dort nachzusehen. Waren sie weg, so waren sie um neun Uhr abends ebenso schlimm weg wie um zwölf Uhr mittags: Er mußte es nicht gewußt haben. Dieser Rittmeister mit Tochter würde schon das Maul halten, man wäscht seine dreckige Wäsche nicht vor allen Leuten. Nun kam ihn doch ein hohnvolles Grinsen an, wie dreckig dieser Tochter Wäsche war.

»Wie gemein ich bin! O wie gemein!« stöhnte der Leutnant, aber er meinte es nicht wirklich.

Am Ende war er genau so gemein, wie er in diesem Leben hatte werden müssen. Er sitzt da, den Kopf in den Händen, der Don Juan der Dörfer, der geheimnisvolle Leutnant Fritz, rasch in der Tat wie in der Liebe. Sein Leben ist Fleisch und Haar gewesen, Pulvergeruch und der blutige Geschmack langer Küsse, die glatten, kühlen Waffenschäfte in der Hand und die glatten, kühlen Glieder der Mädchen in ihren Kleidern, Feuer am Himmel von einem in Brand geschossenen Dorf, aber auch ewiges, verzehrendes Feuer im Leibe. Er kann kaltblütig eines Haase Hof in Brand stecken, wenn es ihm so paßt, aber er kann auch in einen brennenden Stall springen, um die Pferde herauszuholen – so ist er und nicht anders!

Und weil er so ist, wird er nicht bis zum Abend warten, um sich Gewißheit wegen des Waffenlagers zu holen. Nein, er wird sofort fahren, und ist es futsch, so ist er auch futsch, genau wie er es diesem verdammten Mädel gesagt hat! Er weiß wohl, für viele ist er ein Mann zweifelhafter Ehre, und der Major braucht ihn nur, weil er für gewisse Aufträge brauchbar ist. Aber er hat seine eigene Art von Ehre, und der beliebt es nicht, von dem Schweigen eines Fräuleins von Prackwitz abhängig zu sein.

Er steht mit einem Ruck auf, seine Unentschlossenheit ist von ihm abgefallen. Aus dem Schrank nimmt er den Handkoffer, und aus dem Handkoffer wühlt er unter der schmutzigen Wäsche seine Pistole hervor. Er steht da, die Pistole in der Hand. Sie ist gesichert, aber noch geladen von damals. Er erinnert sich sehr gut, er trieb dieses kleine Stinktier, den Meier, vor sich her, er war unentschlossen, er war feige – dann warf ihm der Kerl den Handkoffer vor die Füße!

Nein, er hatte kein Glück mit ihr gehabt, lauter schwankende Gestalten um sie: der feige Meier, der geschwätzige Kniebusch, dieser Kerl von einem Diener, der trottelhafte Vater, der glaubte, es wäre etwas, Wein in anderer Leute Gesichter zu gießen, und der dann, von der eigenen Heldentat knockout geschlagen, bekniffen am Tisch saß! Aber am meisten schwankte sie selbst, mit irgendeinem romantischen Anspruch an die Liebe: »Ich kann nicht ohne dich sein!« – wo doch jedes Mannsbild in Neulohe und in der Welt ihr geben konnte, was er ihr gegeben hatte!

Es hat geklopft, und mit einem Ruck läßt der Herr Leutnant die Pistole in die weite Tasche seiner Knickerbocker gleiten, ehe er »herein« ruft. Aber es ist nur der Hausdiener Friedrich, der meldet, daß Herr Richter vorgeschickt hat, Herr Fritz möge doch gleich mal vorbeikommen.

»Schön, schön, wird gemacht, Friedrich«, sagt der Leutnant mit großer Leichtigkeit, obwohl er innerlich flucht.

Er zieht mit ruhiger Hand, mit großer Genauigkeit seinen Scheitel vor dem Spiegel, und der Friedrich, der natürlich auch, aber bloß als kleiner Mitläufer, im Komplott ist, sieht ihm aufmerksam zu. Der Leutnant beobachtet das Gesicht seines Hintermannes im Spiegel. Es ist ein grobes Gesicht, wie aus Lehm geknetet, mit einer unförmigen Nase. Aber so grob dies Gesicht ist, jetzt liegt unverkennbar ein besorgter, unruhiger Ausdruck darauf. Der Leutnant entschließt sich. »Na, Friedrich, wo brennt es?« fragt er und lächelt.

Der Friedrich sieht den Leutnant im Spiegel an, er sagt rasch: »In den Kasernen ist Stadtverbot.«

Der Leutnant lächelt überlegen: »Das wissen wir längst. Alles in Ordnung, Friedrich. Meinst du, man läßt die Leute vor so was in die Stadt, daß sie sich einen antrinken?«

Der Friedrich nickt langsam, einverstanden, mit dem unförmigen Kopf. »Das verstehe ich schon. Aber, Herr Leutnant, die erzählen …«

»Hörst du auf das, was die Leute erzählen? Da wirst du vieles hören, Friedrich.«

»Aber …«

»Ach was, red nicht! Das ist alles Quatsch, unsereiner pariert und macht seine Sache.«

»Aber«, sagt Friedrich, »es soll ein Auto von der Schnüffelkommission vor der Artilleriekaserne gehalten haben, Herr Leutnant.«

Der Hausdiener, dieses belanglose Etwas, einer von Hunderten, läßt den Blick nicht von dem Leutnant. Der Leutnant darf sich nicht gehenlassen, er darf auch sein Erschrecken nicht zeigen. Nur einen Augenblick schließt er die Augen, es ist nicht mehr als ein Blinzeln, und schon sieht er sich und den andern im Spiegel wieder an. Er klopft nachdenklich mit dem Kamm gegen den Waschschüsselrand, er fragt: »Nun – und weiter? Hält es noch da?«

»Nein, Herr Leutnant, es ist wieder weggefahren.«

»Siehst du, Friedrich«, erklärt der Leutnant und beruhigt sich gleich mit. »Siehst du, Friedrich, es hat da gehalten und ist wieder fortgefahren. So ist das. Die Brüder müssen eben überall ihre Nase hereinstecken, darum sind es ja eben die Schnüffler. Natürlich haben sie was läuten gehört; es ist unmöglich, wo so viel hundert von unserer Sache wissen, daß nicht ein bißchen geklatscht wird. Die haben horchen wollen, aber sie sind eben wieder weggefahren. Wären sie weggefahren, wenn sie wirklich was gewußt hätten?«

Jetzt hat sich der Leutnant umgedreht, er sieht seinen Mann direkt an, nicht mehr durch den Spiegel. Und sei es, daß es nun der nahe Blick macht, sei es die Wirkung seiner Worte, er sieht, er hat den Hausdiener überzeugt.

Der sagt: »Herr Leutnant haben ganz recht: Man soll nicht auf das hören, was die Leute sagen. Man muß einfach parieren.«

Der Leutnant grinst innerlich: ein Dreckgeschäft! Siehe da, ein Mann überzeugt, einer von rund dreitausend! Weiß der Henker, was sich die andern unterdes in ihre Ohren blasen lassen! Für solche Unternehmungen müßte man ein Regiment aus harthörigen Stummen haben.

Der Hausdiener hat unterdes weitergeredet: »Es ist nicht, daß ich Angst habe, Herr Leutnant. Nur, ich bin so froh, daß ich endlich wieder Arbeit habe, und der Chef hat mir gesagt, er schmeißt mich raus, wenn ich beim Putsch mitmache.«

Der Leutnant macht eine Bewegung, der Friedrich sagt hastiger: »Ich mache doch mit, Herr Leutnant, ich bringe auch die beiden Jagdflinten vom Chef, wie befohlen, mit. Wenn’s morgen gut geht, mag er mich rausschmeißen! Nur, Herr Leutnant, das verstehen Sie doch auch, wenn es ganz aussichtslos gewesen wäre … Arbeitslos macht auch keinen Spaß …«

»Nein, nein, Friedrich!« lacht der Leutnant und haut den Hausdiener auf die Schulter. »Der Laden funkt. Der Kram klappt. Dafür stehe ich dir ein – mit meinem Leben.«

Er hat es gesagt, er hat es so sagen wollen, es ist alles scheißegal, nun grade! Soll er Mitleid mit diesem Affen haben?! Alle möchten sich rückversichern, feige Kerle, die!

»Ich danke auch schön, Herr Leutnant«, sagt der Friedrich strahlend.

»Na siehste, Kamerad!« lacht der Leutnant gnädig. »Immer die Ohren steifhalten! Was denkst du, was dein Chef übermorgen froh sein wird, daß du für ihn mitgemacht hast?!« In einem andern Ton: »Ja, richtig, Friedrich, ist mein Rad im Lot? Ich muß gleich noch mal über Land …«

»Selbstverständlich, Herr Leutnant. Aber Sie wollten doch erst noch mal zu Herrn Richter gehen …«

»Stimmt!« sagt der Leutnant und geht los.

Er geht schlendernd, rauchend; auf der Toilette schiebt er schnell noch den Sicherungshebel zurück und sieht, daß eine Patrone im Lauf ist. So, die entsicherte Pistole in der Hosentasche mit der Hand umfaßt, geht er erst einmal zu Herrn Richter, der natürlich auch kein Richter ist, wie er kein Fritz ist, sondern eine Art Vorgesetzter … Es ist eine komische Sache: Seit er das von dem Entente-Auto gehört hat, ist seine Laune um hundert Prozent gebessert. Wenn allen zum Tode Verurteilten so komisch aufgeräumt zumute wie ihm ist, ist das Gefasel von der Todesstrafe barer Unsinn. Und unter Umständen kann in ein paar Minuten bei Herrn Richter die Bombe schon platzen. Und er mit!

Aber dann geht alles ganz friedlich zu. Beim Richter sitzen eine Menge Gestalten herum, teils in Zivil, teils in ihren abgetragenen Uniformen ohne Rangabzeichen, verabschiedete Offiziere. Der Leutnant kennt sie alle, er grüßt nur kurz und geht gleich zum Richter, der mit dem einzigen Unbekannten, einem »richtigen« Zivilisten, flüstert.

Der Herr Richter sieht eigentlich auch aus wie ein Zivilist, lang, schwarz, den »Bleistift Gottes« nannten ihn die jungen Dachse unter sich. Er schreibt ewig alles auf, er ist irgend etwas Taktisches, sicher hat der Kerl nie Pulver gerochen. Der Leutnant kann ihn nicht ausstehen, aber der Richter kann den Leutnant wohl ebensowenig ausstehen.

Darum winkt er dem Leutnant auch recht schroff, in Abstand zu warten, er flüstert weiter mit dem dicken Zivilisten. Der Leutnant dreht sich um, er besieht sich gelangweilt den Raum.

Es ist die Hinterstube einer Kneipe, sie hat etwas Ödes, Fahles, und etwas Ödes, Fahles, Angegangenes haben auch die hier wartenden Männer. Es ist eine Gemeinheit, daß er hier nun noch stehen und warten muß. Er fingert an der Pistole in der Tasche herum, er wird aus dem ersten Wort Richters hören, ob die hier etwas wissen von ihm oder nicht. Dann erreichen ein paar Worte des dicken Zivilisten sein Ohr, er hat sie nicht genau verstanden, aber das eine Wort könnte »Meier« geheißen haben und das andere »Spitzel«. Nun gibt es sehr viele Meiers auf der Welt, aber im gleichen Augenblick ist der Leutnant fest davon überzeugt, daß nur dieser eine Meier gemeint sein kann. Dieses Schwein ist auf die Welt gekommen, ihm Schwierigkeiten zu machen! Hätte er ihn nur im angehenden Waldbrand schmoren lassen! Das hatte man von seinen guten Taten!

Eigentlich ist es Unsinn, länger zu warten! Schon ist alles klar und entschieden! Raus und Schluß! Wozu sich noch angrobsen lassen?!

Der Leutnant überlegt, wo in diesem Ausschank die Toilette liegt – aber davon hätten die Kameraden nur Schwierigkeiten. Er muß weiter fortgehen, irgendwo in den Wald, wo Unterholz ist – nein, am besten dahin, wohin er es ihr versprochen hat. Es soll ihr nicht vergessen und geschenkt sein –!

»Ich bitte, Herr Leutnant!«

Und er atmet auf! Eine Galgenfrist vielleicht nur, aber noch ein Weilchen Zeit, Atem zu schöpfen, der alte zu sein, an eine Zukunft zu glauben. Aufmerksam hört er zu, wie ihm Herr Richter auseinandersetzt, daß seit dem heutigen frühen Morgen jede Verbindung mit der Reichswehr abgerissen ist. Niemand kommt in die Kasernen, niemand gelangt aus den Kasernen, auf den Straßen ist kein Offizier zu sehen, bei telefonischen Anrufen gibt es nur ausweichendes Geschwätz …

Ach, nun zeigt es sich, wie unsicher alles Vorbereitete ist! Eine Handvoll Leute, die Reste offiziell längst aufgelöster Freikorps, dazu ein Landsturm von ein paar tausend Mann – stark, wenn die Reichswehr mitmacht, eine lächerliche Horde, wenn sie sich entgegenstemmt! Man hatte fest mit der Reichswehr gerechnet. Natürlich war nie etwas Offizielles besprochen; man hatte ja alles Verständnis für die Schwierigkeiten, mit denen die Kameraden zu kämpfen hatten! Aus den Trümmern des Heeres, aus den Ruinen der Revolution war ein neues Heer aufzubauen, unter den argwöhnischen Augen der ehemaligen Feinde, die immer noch feindlich geblieben waren. Alles Risiko wollten die Außenseiter gerne tragen. Aber der verabschiedete Offizier hatte mit dem aktiven gesprochen: Die einen hatten geredet, die andern hatten zugehört. Es war nicht ja gesagt worden, aber auch nicht nein, nicht hü und nicht hott – aber man hatte doch das Gefühl gehabt: wenn wir nur unsere Sache machen, die werden nicht dawider sein.

Und nun plötzlich, aus heiterem Himmel, am Vortage der Entscheidung dieses unbegreifliche Verstummen, eine Kälte, völlig unverdient, ein betontes Zurückziehen, fast schon eine Absage. Der Herr Richter spricht weiter, er macht es so dringlich, daß vor allem dieses Rätsel gelöst werden muß, das Dunkel gelichtet – man kann doch nicht die Leute gegen die Reichswehr führen, wenn sie Feind ist!

Der schwarze, lange Herr Richter, der Bleistift Gottes, spricht so eindringlich – der Leutnant wird doch verstehen, was gewünscht wird?

Der Leutnant hört mit ernstem, aufmerksamem Gesicht zu. An den richtigen Stellen nickt er und sagt auch ein »Ja«, aber er hört gar nicht zu, er ist wieder von diesem Mädchen besessen. Der wilde, stechende Haß erfüllt ihn wieder: Kann denn eine so große, so wichtige Sache durch solch ein kleines, verliebtes Tier in Gefahr gebracht werden?! Alles soll umsonst sein, was Hunderte von Männern durch Monate vorbereitet haben, für das sie Ehre, Leben, Gut wagten, weil solch ein Weibchen nicht den Mund halten konnte? Unmöglich, es darf nicht sein – ach, er hätte ihr noch ganz andere Dinge sagen müssen, er hätte sie bei den Haaren reißen, in das von Liebe zerfließende Gesicht schlagen müssen –!

(Aber auf den Gedanken kommen weder der Leutnant noch sein Vorgesetzter, der nun auch von Verrat spricht, daß eine Sache faul sein muß, die das Gerede eines fünfzehnjährigen Mädels umwerfen kann. Daß eine solche Sache bloß ein Abenteuer ist, ohne den lebenspendenden Funken einer Idee! Daß sie selber alle eingefangen sind von dem schillernden Sumpfzauber dieser schlimmen Zeit, daß sie nur an Tag und Stunde denken statt an die Ewigkeit danach – wie die Notenpresse in Berlin nur für Tag und Stunde arbeitet.)

Der Herr Richter ist verstummt, er hat ausgeredet. Er hofft, dieser zweifelhafte Herr Leutnant hat ihn verstanden. Aber trotz aller aufmerksamer Haltung ist der Herr Leutnant mit seinen Gedanken anderswo gewesen, er sieht den Bleistift Gottes bloß fragend an.

So muß der sich entschließen, weiter vorzugehen – eine ekelhafte Sache für einen sauberen Menschen.

»Ich habe gehört«, flüstert er, mit einem vorsichtigen Blick auf den dicken Zivilisten, der, noch immer auf irgend etwas wartend, in der Nähe steht, »ich habe gehört, daß Sie die Möglichkeit haben, einige – hm – Interna zu erfahren. Sie sollen eine Art Beziehung haben …«

Der Ekel in seiner Stimme ist so deutlich, daß ein wenig Rot in die Wangen des Leutnants steigt. Aber er sagt nichts, er sieht seinen Vorgesetzten nur aufmerksam an.

»Ja, also gut!« sagt Herr Richter ungeduldig und wird nun selber rot. »Wozu herumreden?! Im Interesse der Sache bitte ich Sie, von Ihren Beziehungen Gebrauch zu machen, damit wir wissen, woran wir sind.«

»Jetzt gleich?« fragt der Leutnant.

Die Wahrheit ist, daß er jetzt gleich nur an dem Hotel vorbeiradeln möchte, sehen, ob der protzige Horchwagen dort noch steht, und dann gleich hinaus zum Schwarzen Grunde. Und ist es im Schwarzen Grunde, wie er nun fast schon erwartet, dann sofort zurück zu ihr und vor ihrem Auge das tun, was er ihr versprochen hat. Nein, er wird sie nicht anrühren, aber dies Bild soll sie – viel schlimmer als alles andere – durch ihr ganzes Leben mit sich tragen. Sie ist so weich, sie wird es nicht überwinden, Tag für Tag mit dem Bild, und in den Nächten hochfahrend aus dem Schlafe – schreiend – mit dem Bilde.

»Jetzt gleich?« fragt der Leutnant darum zögernd.

Nun wird der schwarze, hagere Mann fast zornig. »Wann denn sonst?! Glauben Sie, daß wir noch viel Zeit zu verlieren haben? Wir müssen doch wissen, was werden soll!«

»Ich glaube nicht«, sagt der Leutnant und zahlt boshaft dem andern sein Erröten heim, »daß die junge Dame jetzt Zeit für mich hat. Sie ist bloß Stubenmädchen und muß jetzt reinmachen. Und die Köchin ist mir auch nicht grün …«

Immer zu! denkt der Leutnant, wenn ihr mich brauchen wollt, sollt ihr auch nicht fein tun, sondern meinen Dreck schlucken!

Aber Herr Richter wird ganz kalt und höflich. »Ich bin überzeugt, Herr Leutnant«, sagt er, »daß Sie die Angelegenheit regeln können. Ich erwarte dann Ihre Nachricht hier – binnen einer Stunde.«

Der Leutnant verbeugt sich. Herr Richter will ihn schon entlassen, als er eine Gebärde des wartenden dicken Mannes auffängt. »Richtig – noch ein paar Fragen, Herr Leutnant, in einer andern Sache, die dieser Herr bearbeitet.«

Der Dicke tritt heran, er grüßt kurz. Er hat den Leutnant wohl schon während des ganzen Gespräches beobachtet, er sieht ihn jetzt kaum an. Aber der Leutnant ist betroffen von dem kalten, eisigen Blick aus den Augen dieses behäbigen Klotzes, der eher wie ein Mann als wie ein Herr aussieht.

Ohne Umschweife, hart, ohne eine Spur von Höflichkeit fragt der Dicke: »Neulohe gehört zu Ihrem Bezirk?«

»Jawohl, Herr –?«

»Das Waffenlager im Schwarzen Grunde auch –?«

Der Leutnant wirft einen ärgerlich fragenden Blick auf Herrn Richter, der ihm mit einer ungeduldigen Gebärde zu antworten befiehlt.

»Jawohl.«

»Wann haben Sie das Lager zum letztenmal kontrolliert?«

»Vor drei Tagen – Dienstag.«

»War alles in Ordnung?«

»Jawohl.«

»Haben Sie sich geheime Merkzeichen angebracht?«

»An der Verfassung des Bodens konnte ich sehen, daß niemand nachgegraben hatte.«

»Sind Sie Ihrer Leute sicher?«

»Vollkommen.«

»Glauben Sie, daß Sie jemand beim Vergraben der Waffen beobachtet haben kann?«

»Das – glaube ich nicht, sonst hätte ich das Lager sofort verlegt.«

»Ist jemand während des Vergrabens in die Nähe der Posten gekommen?«

Der Leutnant will nachdenken, was zu antworten ihm dienlich wäre. Aber die Fragen folgen so rasch aufeinander, der Blick liegt so eiskalt beobachtend auf ihm, daß er ohne Besinnung, ohne die Folgen abzuwägen, hastig antwortet: »Jawohl.«

»Wer?«

»Herr von Prackwitz und seine Tochter.«

»Kannten Sie die beiden?«

»Nur vom Ansehen.«

»Was haben Sie ihnen gesagt?«

»Ich habe sie weitergeschickt.«

»Sind die beiden ohne weiteres gegangen?«

»Jawohl.«

»Sie haben keine Aufklärung verlangt, was auf ihrem Grund und Boden geschah?«

»Herr von Prackwitz ist alter Offizier.«

»Und die Tochter –?«

Der Leutnant schwieg. Der eiskalte Blick lag weiter auf ihm. Das ist ja Polizei! dachte der Leutnant. So fragt man doch nur Verbrecher aus! Haben wir denn jetzt einen Schnüffler bei unserer Abteilung –? Ich habe mal so was gehört …

»Und die Tochter –?« fragte der Dicke beharrlich.

»Hat kein Wort gesprochen.«

»Sie kannten sie nicht näher?«

»Nur vom Sehen.«

Dieser Blick, dieser verdammte, bohrende Blick! Wenn man eine Ahnung hätte, was der Kerl wirklich weiß – aber so, man tappt vollkommen im dunkeln. Mit einer einzigen Antwort kann man sich festgelogen haben – und dann! Und dann –? Nichts mehr!

»Sie sind sicher, daß keiner von den beiden Ihrem Graben später nachspioniert hat?«

»Vollkommen sicher.«

»Warum?«

»Ich hätte es am Boden gesehen.«

Zum erstenmal nahm wieder Herr Richter das Wort. »Ich glaube, daß man des Herrn Rittmeisters von Prackwitz und seiner Tochter sicher sein kann. – Übrigens sind die beiden jetzt in der Stadt – ich sah sie in den ›Goldenen Hut‹ gehen.«

»Man könnte sie befragen«, meinte der Dicke nachdenklich und ließ seinen eiskalten Blick nicht von dem Leutnant.

»Jawohl, befragen Sie sie! Ich komme sofort mit! Kommen Sie, wir gehen!« schrie der Leutnant fast. »Was ist los? Bin ich ein Verräter? Habe ich geschwatzt?! Kommen Sie doch mit, Sie, Herr Polizist! Jawohl, ich komme grade aus dem ›Goldenen Hut‹, ich habe mit dem Rittmeister und seiner Tochter an einem Tisch gesessen, ich habe …«

Er brach ab, er sah seinen Peiniger haßerfüllt an.

»Nun, was haben Sie –?« fragte der Dicke, ganz ungerührt von diesem Ausbruch.

»Aber ich bitte Sie, meine Herren!« rief der Bleistift Gottes beschwörend. »Mißverstehen Sie die Situation doch nicht, Herr Leutnant! Niemand will Sie kränken. Wir haben Grund zu der Annahme, daß ein Waffenlager verraten worden ist. Es ist hier ein Auto der Ententekommission gesehen worden. Wir wissen noch nicht, um welches Lager es sich handelt. Wir befragen alle Herren, denen Waffenlager anvertraut sind. Es besteht doch eine Möglichkeit, daß dies der Grund zu dem seltsamen Verhalten unserer Kameraden drüben ist …«

Der Leutnant atmete tief auf. »Also fragen Sie!« sagte er zu dem andern, und doch war ihm, als habe der andere sogar dies Aufatmen gesehen.

Völlig ungerührt sagte der Dicke: »Sie sprachen vom ›Goldenen Hut‹. ›Ich habe …‹, sagten Sie und brachen ab.«

»Aber ist das wirklich nötig?« rief Herr Richter verzweifelt aus.

»Ich habe mit Herrn Rittmeister Portwein getrunken, vielleicht habe ich das sagen wollen. Ich weiß es nicht mehr. – Warum gehen wir nicht hin?« rief er noch einmal, aber diesmal nicht verzweifelt, sondern höhnisch, weiter das Spiel mit dem Tode spielend, das doch schon entschieden war, er wußte es wohl. »Ich gehe gerne mit! Es macht mir nichts aus. Sie können Herrn von Prackwitz in meiner Gegenwart befragen!«

»Und seine Tochter …«, sagte der Dicke.

»Und seine Tochter …«, wiederholte der Leutnant, aber mit sehr leiser Stimme.

Eine Stille entstand, eine drückende, lange Stille.

Was wollen sie denn? dachte der Leutnant verzweifelt. Wollen sie mich verhaften? Sie können mich doch nicht verhaften, ich bin doch kein Verräter. Ich habe doch meine Ehre noch.

Der Dicke flüsterte in das Ohr von Herrn Richter, ohne sich zu genieren. Auf dem Gesicht von Herrn Richter lag wieder, aber nun verstärkt, der Ausdruck abwehrenden Ekels. Er schien etwas zu verneinen, abzuwehren …

Plötzlich erinnerte sich der Leutnant eines ehemaligen Kameraden, dem der Oberst vor der Front die Achselstücke heruntergerissen hatte. Ich trage ja gar keine Achselstücke, dachte er verloren, das kann er bei mir nicht machen.

Er sah durch den Raum, es waren zehn Schritte bis zur Tür, niemand von den andern Herren stand im Wege. Er machte zögernd einen Schritt auf die Tür zu.

»Einen Augenblick noch!« befahl der Dicke herrisch. Er sah alles mit diesen eiskalten Augen, auch wenn er nicht hinsah.

»Ich stehe mit meiner Ehre für das Waffenlager ein«, rief der Leutnant, fast zitternd. Die beiden Herren wandten ihm die Gesichter zu. »Und mit meinem Leben«, sagte er noch, aber schwächer.

Sie sahen ihn an. Ihm war, als mache der Dicke mit dem Kopf eine leise, verneinende Bewegung, aber Herr Richter sagte lebhafter: »Gut, gut – keiner mißtraut Ihnen, Herr Leutnant.«

Der Dicke schwieg. Er verzog das Gesicht nicht, aber das unverzogene Gesicht sagte: Ich mißtraue dir. Der Leutnant dachte: Nicht von dir will ich gerichtet werden, nicht auf deine Art …

Er fragte: »Darf ich jetzt gehen?«

Herr Richter sah den Dicken an, der Dicke sagte: »Noch ein paar Fragen, Herr Leutnant …«

Hat der Kerl denn gar kein Schamgefühl?! dachte der Leutnant verzweifelt. Wäre ich doch erst auf der Straße! Aber er blieb stehen und sagte: »Bitte«, als käme es ihm nicht darauf an.

Und wieder ging es los: »Sie kennen einen Feldinspektor Meier aus Neulohe?«

»Flüchtig. Er war vorgeschlagen worden, ich habe ihn abgelehnt.«

»Warum?«

»Er gefiel mir nicht, er kam mir unzuverlässig vor.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht mehr – ich hatte den Eindruck. Ich glaube, er hatte viel Weibergeschichten.«

»So, Weibergeschichten … Wegen Weibergeschichten hielten Sie ihn für unzuverlässig –?«

Der starre eiskalte Blick lag voll auf dem Leutnant.

»Jawohl.«

»Kann dieser Meier das Vergraben der Waffen beobachtet haben?«

»Ausgeschlossen!« rief der Leutnant eilig. »Da war er ja längst fort aus Neulohe!«

»So – da war er fort? Warum war er denn fort?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Man müßte eventuell Herrn von Prackwitz fragen.«

»Glauben Sie, daß irgend jemand aus Neulohe noch mit diesem Meier in Verbindung steht?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung«, antwortete der Leutnant. »Vielleicht eines von seinen Mädchen.«

»Sie kennen die Mädchen nicht –?«

»Ich bitte doch sehr!« sagte der Leutnant mühsam.

»Es wäre möglich gewesen, nicht wahr – daß Sie einen oder den andern Namen kennen?«

»Nein.«

»Also haben Sie keinerlei Vermutung, wie dieser Meier von dem Waffenlager erfahren haben könnte?«

»Aber er kann doch nichts davon wissen!« rief der Leutnant verblüfft. »Er ist seit Wochen aus Neulohe fort!«

»Und wer kann davon wissen?«

Wiederum Schweigen, Stille.

Der Leutnant zuckt wütend die Achsel, Herr Richter sagt begütigend: »Es wird nämlich behauptet, daß dieser Herr Meier heute früh im Auto der Kontrollkommission gesessen hat. Aber es ist nicht sicher, daß er es war.«

Zum erstenmal verrät der Dicke Ärger, ärgerlich sieht er den geschwätzigen Bleistift Gottes an.

Aber der sagt abschließend: »Wir wollen es jetzt genug sein lassen mit dem Fragen. Es scheint mir wenig dabei herauszukommen. Sie kennen Ihren Auftrag, Herr Leutnant. Ich erwarte Sie also in einer Stunde hier. Vielleicht können Sie erfahren, was wir hier nicht herausbekommen.«

Herr Richter macht eine verabschiedende Bewegung, der Leutnant verbeugt sich leicht und geht zur Tür.

Ich gehe zur Tür, denkt er, merkwürdig erleichtert. Und dabei zittert er doch, daß der Dicke, dieser schreckliche Mensch, noch ein Wort sagen, ihn noch einmal aufhalten könnte.

Aber kein Wort wird hinter ihm laut, das störende Frostgefühl in seinem Rücken verliert sich, als schwäche die Entfernung die Eiseskälte jenes Blickes. Er grüßt die Kameraden rechts und links. Mit einer gewaltsamen Willensanstrengung bleibt er noch einmal an der Tür stehen und brennt sich eine Zigarette an. Dann legt er die Hand auf die Klinke, er öffnet, er schließt die Tür, er geht durch das Schankzimmer – und nun endlich steht er draußen auf der freien Straße.

Es ist ihm, als sei er aus langer, quälender Kerkerhaft in die Freiheit entlassen.

Wolf unter Wölfen
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