9

Der Polizeioberwachtmeister Leo Gubalke war bestimmt kein Mann, der – dienstlich oder außerdienstlich – zu Übergriffen, kleinen Gehässigkeiten, Schikanen neigte. Jene gefährlichste Versuchung für jeden Mann, in dessen Mund das Wort der Macht gelegt ist: »Gehorch oder krepier!« – sie versuchte ihn nie. Wenn ihm zu Haus oder im Dienste doch ab und an jene kleinen Gemeinheiten unterliefen, die dem Selbstgefühl keines Menschen erspart bleiben, so war es immer sein übertriebener Sinn für Ordnung und Pünktlichkeit, der ihn verführte.

Dieser Sinn hatte ihn das Mädchen Petra Ledig aus dem Torgang in der Georgenkirchstraße mitnehmen lassen, und dieser gleiche Sinn war es auch, der ihn auf die vorwurfsvolle Frage seines Reviervorstehers: »Aber, Gubalke, Mensch, ausgerechnet Sie gehen zwanzig Minuten nach?!« stramm melden ließ: »Habe eine Festnahme gehabt. Mädchen – hat mit Spielern zu tun.«

Dieser Nachsatz, den er ohne Verspätung nie gesagt hätte – denn nichts lag ihm ferner, als der Petra Ledig Übles zu tun –, war für einige Stunden vorläufig das einzige, was die Wache über diese Festnahme erfuhr. Oberwachtmeister Gubalke hatte nur das halbnackte Mädchen von der Straße bekommen wollen. Er hatte vorgehabt, sie auf eine Bank in der Wache zu setzen, ihr etwas zu essen zu verschaffen. Dann hätte man im Laufe des Abends gesehen, was eigentlich an diesem Mädchen dran war, hätte irgendeinem Fürsorgeverein ein paar Kleider abgejagt und die Kleine nach einer ernsten Auseinandersetzung über Ordnung und Liederlichkeit wieder in das Leben hinaus entlassen.

Statt diese guten Absichten durchzuführen, meldete Herr Gubalke: »Hat mit Spielern zu tun.« Eine nur mit gutem Herzen, nur durch Mitleid entschuldigte Zeitversäumnis blieb eine Unpünktlichkeit; dieser Satz von den Spielern machte aus der Unpünktlichkeit eine notwendige Amtshandlung. Bis zu der Sekunde, da dieser Satz, nicht wieder einholbar, seiner Zunge entlief, hatte Gubalke auch nicht im Traume daran gedacht, dem Mädchen Petra irgendeine Mitschuld an der ihm auch nur durch Weiberklatsch bekannten Spielleidenschaft ihres Freundes zuzuerkennen. Aber der Mensch ist ein schwaches Geschöpf, und bei den meisten – Männern wie Frauen – ist die Zunge der Schwachheit schwächster Punkt. In dem Bedürfnis, sich zu entschuldigen, vermengte sich ihm Petras Schicksal mit dem eines Spielers, und um es nur recht gut zu machen, wurde der Spieler zu Spielern.

Es ist ganz sicher, daß Oberwachtmeister Leo Gubalke in diesem Augenblick gar nicht die Tragweite dessen, was er der Petra Ledig mit diesem einen Satz zufügte, übersah. Er schnallte hastig die Pistole um, hakte den Gummiknüppel fest und dachte nur daran, daß er mit höchster Geschwindigkeit zu seinen Kameraden in der Kleinen Frankfurter Straße stoßen mußte, die dort mit irgendwelchen rivalisierenden Ringvereinen ins Gedränge geraten waren. Er hatte es so eilig, daß er dem Mädchen auf der Wache beim Fortlaufen nicht einmal einen Blick gönnte. Wenn er noch einmal an sie gedacht hat, so bestimmt ohne eine Spur von schlechtem Gewissen. Jedenfalls war sie erst einmal von der Straße und in Sicherheit auf der Wache. In spätestens zwei Stunden würde er zurück sein und die Geschichte in Ordnung bringen.

Leider aber lag Oberwachtmeister Leo Gubalke schon zwei Stunden später sterbend in einem Krankenhausbett am Friedrichshain, die Gedärme von einer hinterlistigen Mörderkugel zerfetzt, und starb Stunde um Stunde sehr schmerzhaft und sehr mühsam den unordentlichsten, schmutzigsten Tod, der einen so säuberlichen, ordentlichen Mann erledigen kann. Der Fall Petra Ledig war seiner Einwirkung entrückt.

Wenn ihn der Sterbende auch weiter beeinflußte. Die zwei Stunden, bis die Nachricht von der Ermordung Gubalkes die Wache erreichte und erregte, hatte Petra Ledig noch ziemlich gefaßt und unbelästigt verbracht. Bis auf einen kleinen Zwischenfall war nichts Erwähnenswertes mit ihr geschehen. Irgendein gleichgültiger Uniformierter – weder gut noch böse – hatte sie in eine kleine Zelle geschoben, anzusehen fast wie ein Tierkäfig im Zoo, mit drei festen Wänden und einer vierten, nach dem Wachtraum zu offenen, die mit Gitterstäben gesichert war. Auf ihre Bitte, ihr irgend etwas zu essen zu bringen, gleichviel was, der Herr Polizist habe es ihr versprochen, hatte der Gleichgültige erst gemurrt: Darauf sei man hier nicht eingerichtet, damit müsse sie warten, bis sie auf den Alex komme. – Nach einer Weile war er dann aber doch mit einem starken Kanten trockenen Brotes und einem Becher Kaffee erschienen. Beides hatte er ihr, ohne aufzuschließen, durch die ziemlich weit stehenden Gitterstäbe gereicht.

Der halbverhungerten Petra hätte nichts Zweckmäßigeres als erste Nahrung gegeben werden können. Der alte, sehr harte Brotkanten zwang sie zum Abbeißen sehr kleiner Stücke, die lange gekaut werden mußten. Zuerst überfiel sie bei diesem langsamen Essen immer von neuem wellenartig Übelkeit; der Magen weigerte sich, die Speise anzunehmen, seine Tätigkeit wieder zu beginnen. Auf dem Sitzbrett hockend, den Kopf mit geschlossenen Augen in die Zellenecke gepreßt, von einem Schweißausbruch der Schwäche in den nächsten gehetzt, ging Petra heldenhaft gegen diese Übelkeiten an. Immer von neuem zwang sie die Speise in den Magen zurück.

Ich muß essen, dachte sie dumpf und grenzenlos erschöpft, aber ohne jede Nachgiebigkeit. Ich esse ja nicht nur für mich!

So dauerte das Vertilgen dieses Brotkantens, den ein dreijähriges Kind in fünf Minuten bewältigt hätte, bei Petra fast eine halbe Stunde. Als die ihn aber ganz verzehrt hatte, erfüllte sie ein physisches Wärmegefühl, das dem seelischen Gefühl von Glück sehr nahe kam.

Während sie in dieser Zeit nichts von der Umwelt wahrgenommen hatte, sah sie jetzt, fast schon völlig erholt, dem Leben im Wachtraum mit Interesse zu. Diese Welt war ohne allen Schrecken für sie. Wer daher kam, wo sie zu Haus gewesen, für den hatten weder Gier noch Gemeinheit, weder Laster noch Trunkenheit Schrecken – all dies gehörte zum menschlichen Leben, war eine Äußerung dieses Lebens, wie freilich auch Wolfgangs Lächeln und Umarmung, Freude an einem neuen Kleid, das Fenster eines Blumenladens zum Leben gehörten.

Es ereignete sich in der nächsten halben Stunde auch nichts Besonderes, das sie hätte erschrecken müssen. Ein spitznäsiger, verhungert aussehender Junge wurde gebracht, der, wie sich aus der halblauten Vernehmung ergab, versucht hatte, in einem Warenhaus ein Paar Schuhe mitgehen zu lassen. Ein ziemlich angetrunkener Zechpreller. Eine unglücklich aussehende Frau in einem Umschlagetuch, die anscheinend gewerbsmäßig möblierte Zimmer mietete, nur mit der Absicht, etwas mitgehen zu lassen. Ein Mann, der Doubléuhren als schwergoldene verkaufte und Käufer genug fand, da er vorgab, diese einzigartige Gelegenheit stamme aus einem Taschendiebstahl.

All dies von der Welle des zur Rüste gehenden Tages in die Wachtstube geschwemmte Strandgut ließ das Verhör mit ruhiger Gelassenheit über sich ergehen und wanderte ergeben in seinen Käfig, dessen Tür der Uniformierte gleichgültig abschloß.

Dann wurde es laut. Zwei Schutzleute brachten ein tobendes, völlig betrunkenes Frauenzimmer. Sie trugen es eher, als daß es zwischen ihnen ging. Sie hörten sich die unflätigsten Beschimpfungen mit einer fast freundlichen Gelassenheit an und machten die Meldung, daß dies Mädchen ihrem ebenso betrunkenen Kavalier die Brieftasche »gezogen« habe.

Ein dritter Schutzmann brachte den bleichen, dümmlich aussehenden Kavalier, der sichtlich wenig von dem begriff, was um ihn vorging, da er wesentlich stärker mit dem beschäftigt war, was sich in ihm ereignete. Denn ihm war sehr schlecht.

Das Mädchen vereitelte mit ihrem betrunkenen Kreischen jede Protokollaufnahme; der gelbliche, nur halblaute Sekretär konnte sie nicht zur Ruhe zwingen. Immer wieder fuhr sie mit ihren langen, lackroten, aber schmutzigen Krallen nach den Gesichtern der Polizisten, des Sekretärs, auch ihres Kavaliers.

Petra Ledig sah dies Mädchen mit heißem Erschrecken. Es erinnerte sie an eine Zeit ihres Lebens, die sie versunken glaubte und derer sie sich heute noch schämte. Sie kannte dies Mädchen zwar nicht bei Namen, aber doch von seiner Tätigkeit im besseren Westen her, Tauentzienstraße, Kurfürstendamm, nach Lokalschluß auch in der Augsburger Straße. Sie wurde dort in ihrem Jagdrevier nur die »Hühnerweihe« genannt, wohl wegen der dünnen, krummen Nase und wegen ihres unbändigen Hasses auf jede Konkurrenz.

In jenen schlimmen Tagen, da Petra den Wolfgang noch nicht gebeten hatte, sie mitzunehmen; da sie noch, wurde die Geldnot gar zu beängstigend, dann und wann (selten genug) selbst auf die Jagd nach einem zahlenden Herrn ging, hatte sie auch zwei oder drei Zusammenstöße mit der Hühnerweihe gehabt. Das Mädchen war wohl damals grade unter Kontrolle gestellt worden und hatte von dieser Stunde an alle, die nicht zu den »Gewerbsmäßigen« gehörten, mit einem flammenden, lauten, vor keiner Gemeinheit zurückschreckenden Haß verfolgt. Entdeckte sie so ein Mädchen, das in ihrem »Revier« wilderte, einen Herrn ansprach, ja nur Blicke warf, versuchte sie zuerst, die Polizei für den Fall zu interessieren. Gelang ihr das nicht oder war kein Schupo in der Nähe, scheute sie auch nicht davor zurück, die »Fremdgehende« bei dem Kavalier herunterzusetzen, wobei sie sich von einer schlimmen Behauptung in die schlimmere hineinsteigerte: zuerst bloß, sie stehle, dann bald, sie sei geschlechtskrank, habe die Krätze, und so weiter und so weiter.

Schon damals war die letzte Waffe der Hühnerweihe ein heulendes Gekreisch gewesen, ein hysterisches Wutgeschrei, ins Unfaßliche gesteigert durch Kokain und Alkohol – jeder Kavalier suchte das Weite, wenn sie damit anfing.

Petra hatte immer das Gefühl gehabt, daß sie der Hühnerweihe ganz besonders mißfällig war und von ihr mit einem noch gesteigerten Haß verfolgt wurde. Einmal war sie einem tätlichen Angriff nur durch eine panikartige Flucht durch die nächtlichen Straßen bis hinunter zum Viktoria-Luise-Platz entgangen, wo sie schließlich hinter dem Säulenhalbrund ein Versteck fand. Ein anderes Mal aber war sie nicht so glücklich gewesen: Die Hühnerweihe hatte sie aus einer Autotaxe, in die sie mit einem Herrn gestiegen war, wieder herausgeholt, und es hatte einen Kampf zwischen den beiden gegeben (der Herr war im Auto entflohen), bei dem Petra ein Kleid zerrissen und ein Schirm zerbrochen worden war.

Das alles war sehr lange her, fast ein Jahr – oder schon mehr als ein Jahr? –, unendlich viel hatte Petra danach erfahren. Das Tor einer andern Welt hatte sich seitdem für sie geöffnet, und doch sah sie mit der alten Angst auf die Feindin von damals. Die hatte sich auch verändert seitdem, doch zum Schlimmeren. Sagte schon die Verlegung des Jagdreviers aus dem reichen Westen in den armen Osten genug von den nachlassenden Reizen der Hühnerweihe, in der Hauptsache hatten doch wohl die Rauschgifte – Kokain und Alkohol – in dem jungen Wesen ihr Werk getan. Die damals noch sanfte, runde Wange war hager und faltig geworden, der weiche, rote Mund rissig und trocken, jede Bewegung fahrig, wie irr.

Sie schrie, sie verspritzte allen Geifer, sie keifte atemlos – dann fragte der gelbliche Sekretär etwas, und sie fuhr wiederum los, als erneuere sich, geheimnisvoll, der Schmutz ständig in ihr. Schließlich machte der Sekretär eine Bewegung zu den beiden Polizisten, diese drehten das Mädchen von dem Verhandlungstisch fort zu den Zellen, und der eine sagte ruhig: »Na, denn komm, Kleines, schlaf deinen Rausch aus.«

Sie setzte grade an, wieder loszuschimpfen, als ihr Blick durch die Gitterstäbe auf Petra fiel. Mit einem Ruck blieb sie stehen und schrie triumphierend: »Habt ihr das Aas endlich?! Gott sei Dank, diese verdammte Hure – ist sie schon unter Kontrolle?! So ein Schwein – nimmt einem anständigen Mädchen alle Kavaliere weg und macht sie noch krank, diese Nutte, diese elende! Die geht auf den Strich, Herr Wachtmeister, noch und noch – und alle Krankheiten hat sie im Leibe, so eine Drecksau, wie die –!«

»Komm, komm, Mädchen«, sagte der Polizist ruhig und löste ihre Hand Finger um Finger von den Gitterstäben vor Petras Zelle, die sie umklammert hielt. »Schlaf dich ein bißchen aus!«

Der Sekretär war hinter seinem Tisch aufgestanden und näher getreten. »Bringt sie lieber nach hinten«, sagte er. »Sonst versteht man hier sein eigenes Wort nicht mehr. Koks – wenn der erst verflogen ist, fällt sie zusammen wie ein nasser Waschlappen.«

Die Polizisten nickten, zwischen ihren festen Gestalten flatterte das Mädchen, nur noch aufrecht gehalten von unsinniger Wut, die sich an allem entzündete. Noch über die Schulter, dann schon unsichtbar geworden, schrie sie Beschimpfungen gegen Petra.

Der Sekretär wandte langsam seinen dunklen, müden und kranken Blick (auch das Weiße seiner Augen war gallengelb) auf Petra und fragte halblaut: »Stimmt das, was die sagt? Sind Sie auf den Strich gegangen?«

Petra nickte, kurz entschlossen. »Ja. Früher, vor einem Jahr. Jetzt schon lange nicht mehr.«

Auch der Sekretär nickte, sehr gleichgültig. Er ging wieder zu seinem Tisch. Blieb aber noch einmal stehen, wandte sich und fragte: »Sind Sie wirklich krank?«

Petra schüttelte energisch den Kopf. »Nein. Nie gewesen.«

Wieder nickte der Sekretär, ging vollends an den Tisch und machte sich an seine unterbrochene Schreiberei.

Das Leben in der Wachtstube lief weiter, vielleicht waren manche der Festgenommenen in Angst, in Unruhe und Sorge, vielleicht quälten Träume die Trunkenen – äußerlich war alles glatt, ruhig, teilnahmslos.

Bis kurz nach sechs die telefonische Meldung eintraf, der Oberwachtmeister Leo Gubalke liege hoffnungslos mit Bauchschuß. Er werde wohl noch vor Mitternacht sterben. Von da an änderte sich das Gesicht des Reviers vollkommen. Ständig klappten die Türen, immer kamen und gingen Beamte in Zivil, in Uniform. Flüsterten miteinander; ein dritter trat dazu, einer fluchte. Um halb sieben kamen dann die Kameraden Gubalkes, in deren Kampf mit den beiden Ringvereinen er grade hatte eingreifen wollen, als ihn die Mörderkugel traf. (Der einzige Schuß, der überhaupt gefallen war.) Das Flüstern, das Tuscheln verstärkte sich. Es wurde auf den Tisch geschlagen; ein Polizist stand finster in einer Ecke und wippte ununterbrochen mit seinem Gummiknüttel; die Blicke, die die Gefangenen streiften, waren nicht mehr gleichgültig, sie waren finster.

Ganz besonders nachdrücklich aber waren die Blicke, die auf Petra Ledig haftenblieben. Jedem erzählte der Sekretär, daß dies »die letzte Amtshandlung von Leo« war. Weil er dieses Mädchen festgenommen hatte, war Gubalke zwanzig Minuten zu spät gekommen. Wäre er pünktlich gewesen, geschlossen mit den andern ausgerückt, hätte ihn die Mörderkugel vielleicht nicht – nein, bestimmt nicht! – getroffen!

Der schwer und qualvoll Sterbende dachte jetzt vielleicht an seine Frau und an die Kinder. Und vielleicht freute es ihn in der Hölle seiner Schmerzen, daß sich wenigstens seine Mädchen so wuschen wie er. Er hinterließ eine Spur seines Wesens auf dieser Welt, ein kleines Zeichen dessen, was er für Ordnung gehalten hatte. Oder er dachte, von der Todesahnung überschattet, daran, daß er nun nie in seinem Leben auf einem sauberen Büro sitzen und ordentliche Listen führen würde. Oder an seinen Laubengarten. Oder daran, ob die von der Sterbe- und Begräbniskasse bei der jetzigen Geldentwertung so viel zahlen würden, daß es zu einem anständigen Begräbnis reichte. An vielerlei konnte der Sterbende denken – aber die Wahrscheinlichkeit, daß er an seine »letzte Amtshandlung« Petra Ledig dachte, war sehr gering.

Und doch bemächtigte sich der Sterbende dieses Falles, er sonderte ihn von allen andern. Die Augen der Kollegen sahen nicht mehr ein belangloses junges Mädchen dort auf der Bank sitzen – nicht umsonst konnte sich der Sterbende ihretwegen zwanzig Minuten verspätet haben! Die letzte Amtshandlung Gubalkes mußte wichtig gewesen sein.

Der schwere, große, traurig aussehende Reviervorsteher mit dem grauen Wachtmeisterschnurrbart kam in den Raum, stellte sich neben den Tisch des Sekretärs und fragte, mit den Augen deutend: »Das ist sie –?«

»Das ist sie!« bestätigte der Sekretär halblaut.

»Er hat mir nur gesagt, daß sie mit Spielern zu tun hat. Weiter nichts.«

»Ich habe sie noch nicht vernommen«, flüsterte der Sekretär. »Ich wollte warten, bis – er wiederkäme.«

»Vernehmen Sie sie«, sagte der Reviervorsteher.

»Die Betrunkene vorhin, die solchen Krach gemacht hat, hat sie erkannt. Sie ist auf den Strich gegangen, hat es mir auch zugegeben, behauptet allerdings, nicht mehr in letzter Zeit.«

»Ja, er hatte einen scharfen Blick. Er sah alles, was nicht ganz in Ordnung war. Er wird mir sehr fehlen.«

»Uns allen. Mächtig fleißig und ein guter Kamerad, gar kein Streber.«

»Ja – uns allen. – Vernehmen Sie sie. Denken Sie daran, daß das einzige, was er gesagt hat, etwas von Spielern war.«

»Daran denke ich schon. Wie kann ich das vergessen?! Ich werde sie fest in die Zange nehmen.«

Petra wurde an den Tisch geführt. Hätte sie nicht schon aus den häufigen Blicken, aus dem Stehenbleiben an ihrer Zelle gemerkt, daß etwas im Gange war – die Art, wie der gelbliche Sekretär nun mit ihr sprach, mußte ihr verraten, daß die Stimmung sich verändert hatte, und zu ihren Ungunsten. Etwas mußte geschehen sein, das die Leute übel von ihr denken ließ – konnte es mit Wolf zusammenhängen? Diese Unsicherheit machte sie ängstlich und befangen. Ein- oder zweimal berief sie sich auf den freundlichen Wachtmeister, »der in unserm Hause wohnt«, aber das finstere Schweigen, das Reviervorsteher wie Sekretär auf diesen Appell hatten, erschreckte sie noch mehr.

Solange die Vernehmung nur sie allein betraf, solange sie also bei der Wahrheit bleiben konnte, ging es noch. Aber als die Frage nach den Erwerbsquellen ihres Freundes auftauchte, als das Wort »Spieler« fiel, geriet sie in schlimme Bedrängnis und Verwirrung.

Sie hatte ohne Zögern zugegeben, daß sie einige Male – »etwa acht- oder zehnmal, so genau weiß ich es nicht mehr« – Herren auf der Straße angesprochen hatte, mit ihnen gegangen war und sich dafür hatte Geld geben lassen. Aber sie wollte nicht zugeben, daß Wolfgang ein Spieler war, um Geld spielte, daß dieses Spiel seit langem ihr Haupterwerb war.

Sie war sich nicht einmal ganz sicher, ob es verboten war, da Wolfgang doch gar kein Hehl daraus gemacht hatte. Aber lieber war sie vorsichtig und log. Ach, auch in diesem Punkt hatte ihr der Sterbende einen schlechten Dienst erwiesen. Das Wort »Spieler« bedeutet im Osten Berlins etwas ganz anderes als im Westen. Ein zweifelhaftes Mädchen, das auf den Strich ging und einen festen Freund hatte, dazu »mit Spielern zu tun hatte«, das konnte im Osten nur die Freundin eines Falschspielers sein, eines Bauernfängers mit dem Kümmelblättchen. In den Augen der beiden Polizeibeamten war sie ein Mädchen, das ihrem Freunde als Lockvogel die zu rupfenden Opfer ins Netz holte.

Auf einer Wache im Westen Berlins hätte dieser Hinweis auf Spieler einen ganz andern Klang gehabt. Im Westen – das wußte dort jeder – wimmelte es nur so von Spielklubs. Fast die halbe Lebewelt und bestimmt die ganze Halbwelt ging in diese Klubs. Das Spielerdezernat der Polizei jagte wohl Nacht für Nacht unermüdlich nach diesen Klubs, aber das war eine Sisyphusarbeit: für zehn geschlossene Klubs sprangen zwanzig neue ein. Man bestrafte auch nicht die betroffenen Spieler – dann hätte man den halben Westen entvölkert –, man setzte nur die Unternehmer und die Croupiers fest und zog alle vorgefundenen Gelder ein.

Hätte Petra gestanden, ihr Freund ginge in einen Spielklub des Westens, hätte die Sache damit für die Polizei im Osten jedes weitere Interesse verloren. Statt dessen machte sie Ausflüchte, stellte sich unwissend, log, wurde zwei- oder dreimal bei ihren Lügen ertappt und schwieg aus Hilflosigkeit nun ganz.

Hätte nicht unsichtbar der Sterbende den Fall noch in Händen gehabt, wäre er wohl versandet. Viel konnte nicht dahinterstecken; ein Mädchen, das so ungeschickt log und bei jeder Lüge auch noch rot wurde und sich versprach, konnte kaum die Zutreiberin eines gerissenen Bauernfängers, überhaupt nicht die Helferin eines schweren Jungen sein. So aber blieb doch noch immer die Möglichkeit, daß etwas Unbekanntes, Schweres dahintersteckte. Petra wurde angeschrien, väterlich ermahnt, auf die schlimmen Folgen hingewiesen – und als all das sie nicht zum offenen Sprechen bringen konnte, in ihre Zelle zurückgeführt.

»Mit dem Transport um sieben zum Alex«, entschied der Reviervorsteher. »Machen Sie im Protokoll auf die Wichtigkeit des Falles aufmerksam.«

Der Sekretär flüsterte etwas.

»Gewiß, wir können sehen, daß wir den Kerl noch fassen. Aber er wird sich längst aus dem Staube gemacht haben. Jedenfalls aber schicke ich gleich einen Mann in die Georgenkirchstraße.«

Als um sieben Uhr der grüne Sammelwagen der Polizei vor der Wache hielt, wurde auch Petra mit eingeladen. Es regnete. Sie kam auf einen Platz neben der Feindin zu sitzen, der Hühnerweihe, aber der Sekretär hatte recht behalten: der Kokainrausch war verflogen und das Mädchen vollkommen zusammengefallen. Petra mußte sie während der Fahrt stützen und halten, damit sie nicht vom Sitz fiel.

Wolf unter Wölfen
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