7

»Dachte ich es mir doch, daß du mich heute noch aufsuchen würdest, meine liebe, meine arme Mathilde!«

Frau von Anklam, verwitwete Generalmajor, über Siebzig, schneeweiß, unförmlich dick, ist aus ihrem tiefen Sessel, in dem sie ihren Nachmittagsschlaf hielt, mühsam emporgetaucht. Mit beiden Händen hält sie die Hand der Besucherin und sieht ihr teilnehmend-besorgt mit den großen braunen, immer noch schönen Augen ins Gesicht. Vorläufig spricht sie nur getragen – wie bei einem Todesfall. Sie kennt aber auch noch eine andere Tonart, die der Regimentskommandeuse, die sämtliche Damen des Regiments in Zucht, Ordnung und Anstand hielt.

»Wir werden alt, aber unsere Last wird nicht leichter. Unsere Kinder, solange sie jung sind, treten sie auf unsern Schoß. Später dann auf unser Herz.«

(Frau von Anklam hat nie Kinder gehabt. Sie konnte Kinder auch nie ausstehen.)

»Komm, setze dich hier auf das Sofa, Mathilde. Ich klingele – Fräulein bringt gleich Kaffee und Kuchen. Ich habe heute den Kuchen von Hilbrich holen lassen, er hat doch immer den besten. Nur lohnt es nicht recht für mich allein – vierzigtausend Mark Fahrgeld, verstehst du, vierzigtausend! Räuber sind das! – Ja, Fräulein, Gebäck und Kaffee, recht kräftig, meine Kusine hat eine traurige Nachricht bekommen. – Ja, liebe Mathilde, ich habe da eben in meinem Stuhl gesessen und nachgedacht. Fräulein glaubt, ich schlafe, aber ich schlafe natürlich nicht. Ich höre jedes Geräusch in der Küche, und wenn beim Abwaschen ein Teller zerbrochen wird, bin ich sofort da! Zerbricht deine Minna auch soviel –? Es ist noch das alte Nymphenburger Porzellan, das Großvater Kuno vom hochseligen Herrn zur diamantenen Hochzeit bekam – Gott, es ist ja genug für mich alte Frau da, aber trotzdem, man muß auch an seine Erben denken! Ich hatte es eigentlich Irene versprochen, aber ich bin in letzter Zeit doch wieder schwankend geworden, Irene hat solch seltsame Ansichten über Kindererziehung – direkt, wie soll ich sagen, revolutionär!«

»Und die Nachricht ist bestimmt richtig, Betty?« fragt Frau Pagel, grade aufgerichtet, dürr – und keine noch so teilnehmende nahe Verwandte konnte ihr ansehen, daß sie Tränen geweint hatte.

»Die Nachricht? Welche Nachricht? Ach so, die Nachricht! Aber liebe Mathilde, ich muß doch sagen, wo ich es dir extra geschrieben habe –!« Dies ziemlich als Kommandierende, aber nun wieder teilnahmsvoll: »Nein, natürlich richtig – der gute Junge, der Eitel-Fritz hatte dort zu tun. Er hat es mit eigenen Augen gelesen, das Aufgebot heißt es ja wohl. Ich weiß allerdings nicht, was er dort zu tun hatte. Ich war so aufgeregt, daß ich ihn nicht danach gefragt habe. Aber du kennst ja Eitel-Fritz, er ist so originell, er geht an die seltsamsten Plätze. – Attention! La servante!«

»Das Fräulein« erscheint mit dem Kaffeegeschirr, mit dem Tablett, mit dem Nymphenburger von dem diamantenen Großvater. Die Damen verstummen, und lautlos deckt Fräulein, ein ältliches, mausgraues Wesen, den Tisch.

Es ist immer nur »Fräulein« – alle diese häufig wechselnden Gestalten bei Frau Generalmajor von Anklam sind namenlos. Fräulein deckt und Fräulein stopft, Fräulein liest vor und Fräulein erzählt was, und vor allem: Fräulein hört zu! Fräulein hört zu von morgens bis abends, Geschichten von Regimentsdamen, längst verstorben und vergessen (Ich sage ihr: Liebes Kind, was Takt heißt, bestimme ich!); Geschichten von Kindern, längst im Besitz eigener Kinder (Und da sagt doch dieses süße Engelskind zu mir …); Geschichten von Verwandten, längst verzankten; Geschichten von blauen Briefen und Beförderungen; Geschichten von Orden; Geschichten von Verwundungen; Geschichten von Eheirrungen und von Ehescheidungen – Wust und Gerümpel eines ganz in Klatsch und Tratsch verbrachten Lebens, Intima, Intimissima!

Fräulein, farblos, mausgrau, hört zu, sagt ja, ach nein!, so etwas!, himmlisch! – aber wenn Besuch bei Exzellenz ist, hört sie nichts, Frau Generalmajor flüstert mit dem letzten Rest ihres Lausanner Pensionsfranzösisch: »Attention! La servante!«, und die Damen verstummen. Ist Besuch da – wird Fräulein zu Luft, so gehört es sich. (Erst wenn der Besuch wieder fort ist, wird ihr alles erzählt.)

Aber nach dem ersten Verstummen bleibt Frau von Anklam nun nicht etwa stumm, das gehörte sich auch wieder nicht. Sie redet vom Wetter, es ist so schwül heute, vielleicht gibt es ein Gewitter, vielleicht ja, vielleicht aber auch nein. Sie hatte einmal ein Fräulein, das bekam Reißen in der großen Zehe vor Gewitter – sehr seltsam, was? –

»Es stimmte immer, und einmal, als Fräulein grade auf Urlaub war, wir hatten damals noch das Gut, weißt du, bekamen wir doch das Gewitter mit dem schweren Hagelschlag, der die ganze Ernte zusammendrasch – wenn Fräulein nun keinen Urlaub gehabt hätte, hätten wir das doch vorher gewußt – und das wäre doch sooo gut gewesen, nicht wahr, liebe Mathilde? Aber natürlich, grade da mußte Fräulein auf Urlaub sein! –

Ja, es ist alles recht, Fräulein, danke. Sie können jetzt noch die Spitzenrüschen an meinem schwarzen Taftkleid plätten. Sie sind schon geplättet, ich weiß, Fräulein. Es ist nicht nötig, daß Sie mir das sagen. Aber sie sind nicht so geplättet, wie ich es gewöhnt bin, sie müssen sein wie ein Hauch … Fräulein! Wie ein Hauch! Also tun Sie das, Fräulein!«

Und kaum ist hinter Fräulein die Tür zu, wendet sich Frau von Anklam wieder ganz teilnahmsvoll an Frau Pagel. »Ich habe es mir hin und her überlegt, liebe Mathilde, aber es bleibt dabei: sie ist einfach eine Person!«

Frau Pagel fährt zusammen, sieht ängstlich zur Tür. »Fräulein?«

»Aber, Mathilde, konzentriere dich doch ein bißchen! Von was reden wir? Von der Heirat deines Sohnes! Wenn ich so unkonzentriert sein wollte! Ich habe stets meinen Damen gesagt …«

Frau Pagel hat immer noch die Hoffnung, irgend etwas Positives zu erfahren, sie weiß eigentlich nicht, was. Es gelingt ihr einzuschieben: »Das Mädchen ist vielleicht doch nicht ganz schlecht …«

»Mathilde! Eine Person! Nur eine Person!!«

»Sie liebt Wolfgang – in ihrer Art …«

»Davon will ich nichts hören! Unanständigkeiten, nein, in meinem Heime nicht …«

»Aber Wolfgang spielt, Betty, verspielt alles …«

Frau von Anklam lacht. »Wenn man dein Gesicht sieht, beste Mathilde! Der Junge jeut ein bißchen – du mußt nicht ›spielen‹ sagen, ›spielen‹ klingt so gewöhnlich – alle jungen Menschen jeuen ein bißchen. Ich erinnere mich, wie wir damals das Regiment in Stolp hatten, wurde auch viel gejeut unter den jungen Leuten. Exzellenz von Bardenwiek sagte zu mir: ›Was machen wir bloß, gnädige Frau von Anklam? Wir müssen etwas dagegen tun.‹ Ich sagte: ›Exzellenz‹, sagte ich, ›wir werden gar nichts tun. Solange die jungen Leute jeuen, machen sie keine andern Dummheiten.‹ Und er pflichtete mir sofort bei … Herein!«

Es hat leise und vorsichtig geklopft an der Tür. Nun steckt Fräulein den Kopf herein. »Ernst ist zurück, Exzellenz.«

»Ernst –? Was will er denn –? Was sind denn das für neue Moden, Fräulein?! Sie wissen doch, ich habe Besuch! Ernst – unglaublich!«

Trotz dieses Gewitters wagt das Fräulein noch etwas zu sagen, sie piepst wie eine Maus in der Falle: »Er war auf dem Standesamt, Exzellenz.«

Frau von Anklam verklärt sich: »Ach natürlich, er soll sofort hereinkommen, sobald er sich die Hände gewaschen hat. Was Sie für lange Geschichten aus allem machen, Fräulein! – Fräulein, einen Augenblick, rennen Sie doch nicht immer gleich so kopflos fort – warten Sie bitte meine Anordnungen ab. Geben Sie ihm erst noch ein paar Spritzer Eau de Cologne, jawohl, von der Wasch-Eau-de-Cologne! Man weiß nicht, mit wem er dort zusammengewesen ist.«

Wieder allein mit der Kusine: »Ich wollte doch wissen, wie die Trauung verlaufen ist. Ich habe mir lange überlegt, wen ich zu so etwas schicken könnte. Ich habe unsern Ernst geschickt. Nun, jetzt werden wir ja hören …«

Und ihr Auge leuchtet, sie rückt die schwere Leibesfülle im Sessel hin und her, ganz Erwartung. Sie wird etwas Neues hören, wieder etwas für die Rumpelkammer – o Gott, großartig!

Der Diener Ernst tritt ein, ein älterer Mann, an die Sechzig, ein Männchen, lange schon, ein Leben schon bei Frau von Anklam.

»Unter der Tür!« ruft sie. »Unter der Tür bleibst du stehen, Ernst!«

»Ich weiß doch, Exzellenz!«

»Gleich nachher badest du, ziehst dich frisch um, wer weiß, was für Bakterien auf dir sitzen, Ernst! – Nun los, sage doch endlich: wie war die Trauung?«

»Gar nicht war sie, Exzellenz!«

»Siehst du, Mathilde – was sage ich dir immer? Um gar nichts regst du dich auf! Was habe ich dir noch vor drei Minuten gesagt: eine ganz gewöhnliche Person! Sie hat ihn sitzenlassen!«

Frau Pagel schwach: »Wenn ich Ernst befragen dürfte, liebe Betty –?«

»Aber natürlich, liebe Mathilde. – Ernst, ich verstehe dich nicht, du stehst wie ein Stock da, du hörst doch, Frau Pagel möchte alles wissen! Erzähle, rede – sie hat ihn natürlich sitzenlassen! Nun weiter – was hat er gesagt dazu?«

»Halten zu Gnaden, Exzellenz! Ich glaube, der junge Herr hat sie – ist nicht gekommen …«

»Siehst du, Mathilde, genau, was ich dir gesagt habe! Der Junge ist ganz in Ordnung, das bißchen ›Jeu‹ tut ihm nichts, im Gegenteil – völlig vernünftig, solche Person heiratet man doch nicht!«

Endlich dringt Frau Pagel durch: »Ernst, ist es auch sicher? War bestimmt keine Trauung? Vielleicht sind Sie ein bißchen zu spät gekommen?«

»Nein, gnädige Frau, bestimmt nicht. Ich war rechtzeitig da und habe bis zum Schluß gewartet und auch den Beamten gefragt: sie sind beide nicht gekommen.«

»Siehst du, Mathilde …«

»Aber warum glauben Sie denn, Ernst, daß es mein Sohn gewesen ist, Sie verstehen schon …«

»Ich wollte sichergehen, gnädige Frau, es konnte ja auch was passiert sein. Auf dem Standesamt erfuhr ich die Wohnung. Ich bin also hingegangen, gnädige Frau …«

»Ernst, unbedingt sofort baden und völlig frische Wäsche!«

»Zu Befehl, Exzellenz! – Der junge Herr hat sich seit heute früh dort nicht mehr sehen lassen. Und das Mädchen hat man hinausgesetzt, weil die Miete nicht bezahlt war. Sie stand noch unter der Tür. Ich habe sie …«

Frau Pagel steht mit einem Ruck auf. Plötzlich ist sie wieder ganz Entschlossenheit, dunkel, energisch, starrer Nacken.

»Ich danke Ihnen, Ernst. Sie haben mich sehr beruhigt. Entschuldige, liebe Betty, daß ich so formlos gehe, aber ich muß sofort nach Haus. Ich habe das bestimmte Gefühl, Wolfgang sitzt dort und wartet ganz verzweifelt auf mich. Irgend etwas muß vorgefallen sein. O Gott, und Minna ist auch weg! Nun, er hat ja noch seine Schlüssel zu der Wohnung. Entschuldige, ich bin ganz durcheinander, liebe Betty …«

»Form! Form, Haltung, liebe Mathilde! Haltung in jeder Lebenslage. Natürlich hättest du an einem solchen Nachmittag zu Haus bleiben müssen, natürlich wartet er auf dich. Ich wäre natürlich an solchem Tage nicht aus dem Haus gegangen. Und vor allem eins – bitte, Mathilde, noch einen Augenblick, du kannst doch nicht so einfach loslaufen – sei hart mit ihm! Keine falsche Weichheit! Vor allem: gib ihm kein Geld, keinen Pfennig! Wohnung, Essen, Kleidung – gut! Aber kein Geld, er verjeut es bloß! Mathilde –! Mathilde! Weg! Keine Form! – Höre mal, Ernst …«

Die Thumannsche der oberen Zehntausend spricht weiter, immer weiter …

Wolf unter Wölfen
titlepage.xhtml
ccover.html
cinnertitle.html
cimprint.html
cnavigation.html
ctoc.html
c5_split_000.html
c5_split_001.html
c7.html
c8.html
c9.html
c10.html
c11.html
c12.html
c13.html
c14_split_000.html
c14_split_001.html
c16.html
c17.html
c18.html
c19.html
c20.html
c21.html
c22.html
c23_split_000.html
c23_split_001.html
c25.html
c26.html
c27.html
c28.html
c29.html
c30.html
c31.html
c32.html
c33_split_000.html
c33_split_001.html
c35.html
c36.html
c37.html
c38.html
c39.html
c40.html
c41.html
c42_split_000.html
c42_split_001.html
c44.html
c45.html
c46.html
c47.html
c48.html
c49.html
c50.html
c51.html
c52.html
c53_split_000.html
c53_split_001.html
c55.html
c56.html
c57.html
c58.html
c59.html
c60.html
c61.html
c62.html
c63.html
c64_split_000.html
c64_split_001.html
c66.html
c67.html
c68.html
c69.html
c70.html
c71.html
c72.html
c73.html
c74_split_000.html
c74_split_001.html
c76.html
c77.html
c78.html
c79.html
c80.html
c81.html
c82.html
c83.html
c84.html
c85.html
c86_split_000.html
c86_split_001.html
c88.html
c89.html
c90.html
c91.html
c92.html
c93.html
c94.html
c95_split_000.html
c95_split_001.html
c97.html
c98.html
c99.html
c100.html
c101.html
c102.html
c103.html
c104.html
c105.html
c106_split_000.html
c106_split_001.html
c108.html
c109.html
c110.html
c111.html
c112.html
c113.html
c114.html
c115.html
c116.html
c117.html
c118.html
c119.html
c120_split_000.html
c120_split_001.html
c122.html
c123.html
c124.html
c125.html
c126.html
c127.html
c128.html
c129.html
c130.html
c131.html
c132.html
c133_split_000.html
c133_split_001.html
c135.html
c136.html
c137.html
c138.html
c139.html
c140.html
c141.html
c142.html
c143.html
c144.html
c145_split_000.html
c145_split_001.html
c147.html
c148.html
c149.html
c150.html
c151.html
c152.html
c153.html
c154.html
c155_split_000.html
c155_split_001.html
c157.html
c158.html
c159.html
c160.html
c161.html
c162.html
c163.html
c164_split_000.html
c164_split_001.html
c166.html
c167.html
c168.html
c169.html
c170.html
c171.html
c172.html
caboutBook.html
caboutAuthor.html