3

Amanda hatte recht behalten, es ging wirklich gut mit den beiden. Nein, es ging nicht nur gut, es ging ganz ausgezeichnet.

Zu seinem Erstaunen entdeckte Pagel, daß dieses Weibsbild Amanda Backs, von dem er geglaubt hatte, sie würde ihm schon nach einer Woche auf die Nerven fallen, ihm im Gegenteil guttat, daß ihr Wesen ihm über viele schwierige Dinge hinweghalf. Daß sie sauber, fleißig, rasch, anstellig war, das hatte er schließlich schon so halb und halb gewußt. Daß aber dieses junge Ding mit dem Maul eines alten Schandweibes sehr wohl zu schweigen verstand, daß sie zuhören konnte, daß sie lernen wollte, daß sie andere Ansichten gelten ließ, das überraschte ihn höchlichst. Dieses im Elend herumgestoßene uneheliche Kind, das in einem Jahr seines Lebens mehr böse Worte und Schläge bekommen hatte als ein anderer Mensch in seinem ganzen Leben, das von einem grimmigen Pessimismus dem ganzen Dasein, allen Menschen und den Männern zumal gegenüber erfüllt war, diese Elends- und Kellerpflanze war von einer Empfänglichkeit für jedes gute Wort, jeden leisen Hinweis, die ihn immer wieder bewegte.

»Mein Gott!« rief er den dritten Tag verblüfft, als er den Schreibtisch weiß gedeckt sah, mit anständigem Porzellan und Bestecken, die sie sich aus dem Schloß geholt haben mußte. Aber er sagte dies »Mein Gott!« halb gerührt, weil sie aus sich erraten hatte, wie sehr ihm das abgestoßene Steingutgeschirr und die schwärzlichen Blechbestecke widerstanden hatten.

»Na ja«, sagte sie herausfordernd. »Wat is denn nu wieder los? Jeder, wie er’s gewöhnt ist! Ich sage ja immer, die Verpackung is mir Wurscht, der Inhalt macht’s – aber wenn’s Ihnen anders Spaß macht, bitte schön!«

Diese beiden jungen Menschen lebten wie auf einer Insel, ohne jeden Umgang, ohne einen andern befreundeten Menschen, ohne ein freundliches Wort. Sie waren ganz aufeinander angewiesen. Wenn Pagel außer dem Gerenne und Gehaste des täglichen Betriebes, in dem alle von ihm zehrten, ein bißchen Eigenleben führen wollte, so mußte er es »daheim«, nämlich auf dem Büro, finden. Und wenn Amanda, diese vielverlästerte Liebste des Verräters Meier, diese letzte Angestellte des verhaßten Geheimrats, bei einem Menschen ein gutes, persönliches Wort finden wollte, so mußte es bei Pagel sein.

So wurde eines der Retter des andern. Ohne diese knallbackige Amanda Backs hätte Pagel in jenen schweren Tagen vielleicht doch noch schlappgemacht und wäre vor seiner Aufgabe ausgerissen, ganz wie ein Geheimrat von Teschow, ein Herr von Studmann oder gar ein Rittmeister. Aber daß der Fahnenjunker seine Fahne hochhielt, daran hatte Amanda Backs kein geringes Verdienst.

Und wer weiß, ob Amanda Backs heil über ihr Meiersches Erlebnis hinweggekommen wäre, wenn sie nicht immer den Wolfgang Pagel vor Augen gehabt hätte. Es gab eben doch andere Männer, saubere Männer, Männer, die nicht jeder Schürze nachliefen und auf jeden Weiberbusen losglotzten. Es war unvernünftig, auf alle Welt wütend zu sein, weil der Meier ein Lump gewesen war. Sie hatte auf sich allein wütend zu sein, weil sie nicht besser gewählt hatte. Denn im Anfang hat es doch fast jeder Mensch ein bißchen in der Hand, wen er liebhaben will – später freilich ist es meistens zu spät. Später hatte sie ihr Hänseken richtig liebgehabt.

Und da nun jedes von diesen beiden sein Gutes vom andern hatte, so gab es sich ganz von selbst, daß sie auch gut zueinander waren. Als Wolfgang frisch gewaschen und trocken angezogen wieder in das Büro kam, sah er, daß das Essen wohl geholt, die Suppe aber noch nicht aufgefüllt war.

»Nun?« fragte er lächelnd. »Fangen wir noch nicht an?«

»Sie haben auch Post, Herr Pagel«, sagte sie und hielt ihm zwei Briefe hin.

Er nahm sie hastig, und Amanda ging ohne ein weiteres Wort in das Schlafzimmer hinüber, um das nasse Zeug fortzulegen und den Waschtisch aufzuräumen.

Das war es, was man das Gutsein zueinander nennen konnte. Pagel dachte nicht weiter darüber nach, aber er empfand es. Er lehnte sich gegen den angenehm warmen Ofen, den Brief Herrn von Studmanns steckte er erst einmal ungelesen in die Tasche, dann riß er eilig den Brief seiner Mutter auf. Aber ehe er mit dem Lesen begann, brannte er sich doch noch eine Zigarette an. Er wußte, er würde in Ruhe und in aller Behaglichkeit lesen können, kein Ruf »Die Suppe wird kalt« würde ihn stören.

Amanda empfing den Briefträger, sie machte Haufen aus der Post auf dem Tisch: Gutsverwaltung, Forstverwaltung, die Herrschaft in der Villa, der Gutsvorsteher (der auch von Herrn Pagel dargestellt wurde) – und zum Schluß, manchmal, etwas für Herrn Pagel persönlich. Aber das legte sie nicht mit auf den Tisch. Sie hielt es irgendwie im Verborgenen, sie wartete, bis er sich wieder sauber, trocken und ein bißchen erfrischt fühlte, dann sagte sie: »Sie haben auch Post, Herr Pagel« und verschwand.

Nun war es aber keineswegs so, daß dies eine verabredete Sache zwischen den beiden war. Amanda hatte sich das ganz allein ausgedacht. Es war ein Wunder, daß solch grobes Frauenzimmer auch feinfühlig sein konnte. Und es war auch keineswegs so, daß Pagel Amanda Geständnisse gemacht hatte; er hatte ihr nie von seinem Daheim oder gar von seiner Liebsten erzählt, das lag nicht in seiner Art. Aber es war wiederum ein Wunder, wie dieses Mädchen ohne ein Wort erriet, wie es um den jungen Pagel stand. Sie hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt, es gab keinen häufigen, dickleibigen Briefwechsel mit einer jungen Dame. Es gab überhaupt keinen Briefwechsel mit einer jungen Dame, sondern bloß mit einer Frau Pagel, die nach Handschrift und Absender nur die Mutter sein konnte. Aber Amanda hätte jeden Eid darauf geschworen, daß Herr Pagel, mit ihren Worten zu reden, »in festen Händen« war. Und daß, so fest diese Hände auch hielten, bei dieser Sache irgend etwas nicht ganz im Lote war (weil eben alle Briefe von einer »sie« fehlten).

Das Mädchen räumt den Waschtisch auf, sie sieht sich noch einmal um: Es ist alles wieder in Ordnung. Wenn er will, kann er hier einen Nachmittagsschlaf halten. Hoffentlich entschließt er sich dazu, nötig täte es ihm. Sie horcht hinüber in das andere Zimmer, aber dort ist noch alles still. Sie ist nicht ganz zufrieden mit dieser Stille: Wenn Pagel sich freut, fängt er an zu pfeifen. Aber noch ist es still …

Amanda setzt sich auf einen Stuhl. Es wohnt kein betrübtes oder neidisches oder verliebtes Gefühl für den jungen Pagel in ihr. Im Gegenteil: Was sie sieht und erfährt, das tut ihr nur gut. Es bestätigt etwas, das stark ist in ihr: den Lebenswillen.

Sieh da, denkt sie etwa, das ist nun ein sauberer und anständiger Kerl, und bei den beiden ist auch nicht alles glatt gegangen. Warum soll ich da den Mut aufgeben und verzweifeln, wo ich erst seit zwei, drei Jahren aus dem schlimmsten Dreck herausgekrabbelt bin …?

So etwa gehen Amandas Gedanken. Aber nun werden sie unterbrochen, denn nebenan, auf dem Büro, wird ein durchdringendes, gelles Pfeifen laut – nicht das melodische Gesäusel eines behaglich Zufriedenen, sondern ein wildes, kriegerisches Gegell, etwas, das sogar Amandas unmilitärischer Geist wie ein Angriffssignal empfindet: Zur Attacke, marsch, marsch! – Ran an den Feind! Und nun: Sieg, Ruhm und Gloria!

Im gleichen Augenblick, Amanda ist eben vom Stuhl hochgefahren, wird die Tür aufgerissen. Pagel steckt den Kopf ins Schlafzimmer und schreit: »Amanda, Mensch, Mädchen, wo bleiben Sie denn? Hunger, Kohldampf, Suppe – los, los!«

Mit all jener Entrüstung, die Menschen aus dem Volk für jede exaltierte Gefühlsregung haben, schaut Amanda in das gerötete, in das völlig veränderte Gesicht Pagels. Unnahbar sagt sie: »Bei Ihnen piept’s ja wohl!« und geht an ihm vorbei, die Suppe aufzufüllen.

Neugierig schaut Pagel in die Teller, neugierig fragt er: »Was gibt’s denn, Amanda?« Aber sichtlich ist ihm die Antwort auf seine neugierige Frage ganz egal.

»Gänseklein mit Graupen«, erklärt Amanda.

»Ach, Amanda! Ausgerechnet heute wieder Gänseklein. Es müßte heute … Ach, ich habe bestimmt keine Ruhe, Gänseflügel abzuknabbern!«

»Wenn Sie nicht bald dafür sorgen«, antwortet die Backs mit gefährlicher Ruhe, »daß die Dorfbengels mir meine Gänse nicht ewig mit Steinen lahm schmeißen, werden Sie noch alle Tage Gänseklein essen müssen, Herr Pagel.«

»Ach, Amanda«, bittet Pagel kläglich, »können Sie mich heute mittag nicht mal mit aller Meckerei in Frieden lassen? Ich bin seit sehr langer Zeit zum erstenmal gewissermaßen glücklich …«

»Wenn meinen Gänsen darum weiter die Knochen zerschmissen werden sollen, weil Sie glücklich sind, Herr Pagel«, meint Amanda, »dann ist es besser, Sie laufen unglücklich rum und tun was für die Wirtschaft. Denn dafür sind Sie hier, nicht für Glücklichsein.«

Pagel schaut hoch und sieht Amanda mit vergnügt funkelnden Augen in das zornige Gesicht. »Verstellen Sie sich bloß nicht weiter. Denn daß Sie nicht die Spur wütend sind, das merke ich schon daran, daß Sie mir nichts zum Knabbern auf den Teller gepackt haben, sondern nur Magen und Herz. Was ich ja denn auch tatsächlich am liebsten esse. – Und was das andere angeht, so will ich Sie wirklich nicht länger ärgern, Amanda. Ich habe nämlich eben die Nachricht bekommen, daß ich demnächst Vater werde …«

»So«, sagte Amanda, und ihr Ton klang keineswegs besänftigt. »Das habe ich ja bisher noch gar nicht gewußt, daß der Herr Pagel verheiratet ist.«

Diese weibliche Antwort kam dem jungen Pagel so überraschend, daß er den Löffel nachdrücklich in die Gänsegraupen legte, seinen Stuhl zurückschob und Amanda mit großen Augen anstarrte. »Verheiratet – ich verheiratet?« fragte er erstaunt. »Wie kommen Sie denn auf diese wahnsinnige Idee, Amanda?«

»Weil Sie nämlich demnächst Vater werden, Herr Pagel«, antwortete Amanda boshaft. »Väter sind meistens verheiratet – oder sollten es wenigstens sein.«

»Sie sind eine Gans, Amanda«, sagte Wolfgang vergnügt und machte sich wieder an seine Suppe. »Sie wollen mich bloß aushorchen – aber jetzt esse ich.«

Eine Weile herrschte Stille, beide aßen.

Dann sagte Amanda hartnäckig: »Ich stelle mir das so vor, ob die junge Dame auch so fürchterlich gepfiffen und ob sie auch die Leute veralbert hat, als sie gemerkt hat, daß sie Mutter werden würde.«

»Sie stellen sich das ganz richtig vor, Amanda«, antwortete Pagel. »Die junge Dame war damals sicher nicht sehr vergnügt – obwohl sie sich vielleicht doch auch ein ganz klein bißchen gefreut hat.«

»Dann«, sagte Amanda entschieden, »würde ich auf der Stelle hinfahren und heiraten.«

»Das würde ich auch gerne tun, Amanda«, antwortete der junge Pagel. »Aber leider hat sie streng verboten, daß ich ihr vor die Augen komme.«

»Sie hat verboten, daß Sie –?« schrie Amanda fast. »Und sie erwartet ein Kind von Ihnen?!«

»Richtig!« nickte Pagel ernst. »Sie haben vollständig erfaßt, was ich sagen wollte.«

»Dann –«, sie wurde puterrot.

»Dann –«, sie wagte es nicht zu sagen.

»Dann würde ich …«, sie verstummte. »Was würden Sie, bitte?« fragte Pagel sehr ernst.

Sie sah ihn prüfend an. Sie war wütend auf sich, daß sie sich auf diese neugierige Fragerei eingelassen und nun etwas erfahren hatte, was sie gar nicht wissen wollte, und sie war wütend auf ihn, weil er genauso leichtfertig und dumm wie alle Männer von diesen Dingen redete, und sie hatte ihn doch sehr anders eingeschätzt.

Also sah sie ihn prüfend und ungnädig an.

Aber da waren ja nun seine Augen, seine sehr hellen Augen, in denen es blinkerte, und in den Winkeln, nach den Wangen zu, saßen viele kleine Fältchen. Und in demselben Augenblick, da sie diese Fältchen sah, begriff sie, daß er trotz seines ernsten Gesichtes voll von Freude war, daß er sie nur veralberte, sie und ihre dumme Neugierde, und daß er genau so war, wie sie ihn eingeschätzt hatte. Und wie es immer ist, von dem Glück, das einen Menschen ganz erfüllt, weht es hinüber zu den anderen. Glück ist etwas Ansteckendes … Und so empfand auch sie etwas von seinem Glück, sie schluckte einmal rasch.

Aber dann sagte sie ganz als Amanda Backs: »Ich würde mich jetzt mal ein halbes Stündchen hinlegen, wenn Sie nämlich genug in meinem Gänseklein rumgestochert haben. Warm ist es drüben, und die Wolldecke habe ich Ihnen auch aufs Sofa gelegt.«

Pagel sah Amanda einen Augenblick verblüfft an, dann aber sagte er ganz folgsam: »Schön, das will ich heute ausnahmsweise mal tun. Aber in einer halben Stunde wecken.«

Doch in der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte: »Ich denke, so zu Weihnachten, das Heiraten nämlich, Amanda. Der Sohn trifft schon drei Wochen früher ein.«

Und damit schloß er nachdrücklich die Tür, als Zeichen, daß er auf eine Antwort keinen Wert mehr legte, ja, daß dies Thema nun überhaupt erledigt war. Und da Amanda nun auch alles wußte, was ihr zu wissen not tat, fühlte sie auch kein Bedürfnis, weiterzureden. Leise räumte sie den Tisch ab, brachte das Geschirr fort und setzte sich an den Ofen, damit er die halbe Stunde nun auch wirklich einmal Ruhe hatte.

Aber er wird ja doch nicht schlafen, sondern wieder seinen Brief lesen!

Wolf unter Wölfen
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