4

Der Rittmeister von Prackwitz hatte den plötzlich auftretenden Erwerbssinn all jener, die nichts von Geschäften verstehen. Als der Schwager Egon in Birnbaum den Horchwagen zwar sehr bewundert, aber doch recht teuer gefunden hatte, war im Kopfe des Rittmeisters der Gedanke aufgetaucht, das wahr zu machen, was er seiner Frau vorgeschwindelt hatte: sich nämlich den Wagen von den Herren Putschisten in Ostade bezahlen zu lassen.

Mit einer überlegenen Miene hatte er seinem Schwager versichert, daß Wagen für rechte Schlauköpfe manchmal nicht das kosteten, was sie kosteten. Also fast gar nichts, also rein gar nichts – und mit Andeutungen, Zwinkern, vertraulichen Mitteilungen hatte er es dahin gebracht, daß auch im Kopf seines Schwagers eine Verbindung zwischen dem neuen Auto und dem bevorstehenden Putsch entstanden war. Von dem Putsch hatte Egon natürlich auch schon gehört. Von dem Putsch schienen alle längst gehört zu haben, der Rittmeister jedenfalls am spätesten. Den Putsch schien der Schwager nicht sehr hoffnungsvoll zu beurteilen. Aber als echter Sohn seines Vaters meinte der junge Teschow, daß keine Unternehmung ganz schlecht sein könne, die ein solches Auto abwürfe.

Als der Rittmeister dann sehr aufgekratzt nach Haus fuhr, die nicht minder aufgekratzte Weio an seiner Seite, war er schon fest davon überzeugt, daß die Reichswehr verpflichtet sei, ihm den Wagen zu bezahlen. Wie kam dieser kleine Major dazu, ihm das Antreten mit einem Wagen zu befehlen?! Sein Blut konnte das Vaterland jederzeit von ihm verlangen, mit seinem Gut mußte er haushälterischer umgehen. Und da von den Unkenrufen Evas und des Schwagers doch einiges in seinen Ohren haftengeblieben war, so beschloß der Rittmeister, gleich morgen, noch vor dem Putsch, einmal nach Ostade zufahren, den Kameraden von der Reichswehr auf den Zahn zu fühlen und eine kleine Abschlagszahlung herauszuschinden. Am zweiten Oktober sehr pünktlich würde die Anzahlung auf den Wagen eingefordert werden; der Rittmeister hatte nicht die geringste Vorstellung, woher er das Geld nehmen sollte. Aber es war auch überflüssig, sich darum Gedanken zu machen. Morgen in Ostade würde man schon sehen!

Er wandte sich zur Seite und erkundigte sich bei seiner vergnügt vor sich hin summenden Tochter, wie sie über eine Fahrt nach Ostade denken würde.

Violet war natürlich begeistert. Sie warf sich ihrem Vater an den Hals und küßte ihn mit solcher Wärme ab, daß der Rittmeister beinahe ein bißchen bedenklich wurde. Aber es war wohl nur der Alkohol, die lockende Autofahrt, die nun endlich überstandenen langen, eintönigen Wochen des Stubenarrestes!

Trotzdem hatte der Rittmeister einen Augenblick lang die richtige Witterung gehabt: nicht der Vater, der Geliebte war geküßt worden. Was galt das neue Auto, was die Fahrt – Ostade bedeutete den Leutnant. Es war unmöglich, nach Ostade zu fahren und den Leutnant nicht zu sehen!

Nur der Gedanke an die Mutter machte Violet einige Sorgen, darum fragte sie sehr vorsichtig: »Und die Mama?«

Richtig war der Vater sofort leicht verärgert. »Deine Mama ist nicht für diese militärischen Unternehmungen. Am besten behelligen wir sie nicht damit. Am schönsten ist es doch, wir machen unsere Sache richtig und überraschen sie nachher mit dem Erfolg.«

»Aber vielleicht möchte Mama gerne mitfahren?« Violet war sehr ängstlich, die Mama konnte sie bei ihrem Wiedersehen mit dem Leutnant bestimmt nicht gebrauchen. »Oder sie erlaubt nicht, daß ich mitfahre?«

»Wenn ich es dir erlaube, Violet!«

Es klang sehr nach dem Herrn im Hause, im Innern war der Rittmeister sich seines Bestimmungsrechts über die Tochter nicht ganz so sicher. Er verstand nicht viel von Mädchen; die Art, wie Violet ihn eben abgeküßt hatte, war direkt beängstigend gewesen. Aber wahrscheinlich verstand Eva ebensowenig davon. Der wegen nichts und wieder nichts verhängte Stubenarrest war eine rechte Blamage gewesen. Gottlob war Violet nicht nachtragend. Doch hätte Eva gut in der letzten Zeit – zur Entschädigung – etwas netter zu ihr sein können! Nein, Violet hatte diesen Ausflug nach Ostade regelrecht verdient –!

»Ich werde heute abend noch mit Mama sprechen. Aber wie gesagt, sie wird nicht mitfahren mögen. Sei zeitig unten. Um sieben trinken wir Kaffee, und um halb acht fahren wir. – Und sei leise auf der Treppe – du weißt, deine Mutter schläft gern lange.«

Wieder ein Stich, wenn es auch besorgt klang. Ganz wohl war dem Rittmeister nicht dabei, wie er die Stellung der Mutter bei der Tochter untergrub. Aber Eva wollte es ja leider nicht anders! Wenn sie ihn wie einen Narren behandelte, in ein Sanatorium schickte, von der Verwaltung des Gutes ausschloß, so hatte er noch das Recht, seiner Tochter zu zeigen, was für ein Mann er war und daß die Mutter auch ihre kleinen Schwächen hatte! Er ging doch wahrhaftig mit aller Diskretion vor!

Dann war der Streit am Abend gekommen, Frau Eva war nicht aufgefordert, ja nicht einmal benachrichtigt worden. Dies wurde vergessen. Nicht vergessen wurde die Verabredung zwischen Vater und Tochter, nicht vergessen wurde das Leisesein. Weio war am zeitigsten aufgewesen, wie eine Katze war sie leichtfüßig die Treppe hinabgeschlichen.

Im Speisezimmer hatte sie den Diener Räder beim Anrichten des Frühstückstisches getroffen. Was war natürlicher, als daß sie ihn endlich zur Rede stellte?! Sie war ihm lange Zeit aus dem Wege gegangen, er war ihr so unheimlich geworden. Sie war froh gewesen, wenn sie kein Wort mit ihm reden mußte, sie hatte nie mehr vergessen, die Tür ihres Zimmers abzuschließen, tags wie nachts. Ihre Liebesgeschichte mit dem Leutnant war so aussichtslos gewesen, selbst sie mußte sich eingestehen, daß er sie aufgegeben hatte. Nicht ihretwegen, aber die Sache mit dem Brief, den der kleine Meier aufgefangen hatte, hatte ihn so verärgert!

Doch nun war alles anders geworden, sie fuhr mit dem Vater nach Ostade, heute vormittag noch würde sie ihren Fritz wiedersehen! Er stand vor großen Ereignissen, seine Sache würde siegen. Morgen schon würde er kein heimlicher Verschwörer mehr sein, der sich vor jedermann verstecken mußte. Morgen würde er ein großer Mann sein, der Vater hatte es auch gesagt, ein Held, der sich offen zu seiner Liebe, zu ihr bekennen konnte! Dann durfte es keine Heimlichkeiten mehr geben, nichts, was sie ihm verbergen mußte – dann durfte es auch keinen Diener Räder mehr geben, der etwas von ihr wußte!

Sie verlangte ihren Brief zurück.

Er wußte von keinem Brief.

Sie sagte, sofort erregt, er solle nicht so gemein sein!

Er antwortete, er sei eben nur ein gemeiner Diener, kein feiner Leutnant.

Sie erklärte, sie fahre nach Ostade zu ihm, und sie würde ihn herschicken, er würde was erleben –!

Der Diener Räder sah sie bloß an, mit seinen trüben, toten Augen, sie erschauerte. Zu spät sah sie ein, daß sie es falsch angefangen hatte. Zu spät fing sie an zu betteln, sie machte ihm Angebote, sie versprach ihm Geld, ja, sie versprach ihm sogar die Stelle des alten Elias auf dem Schloß. Sie würde es bei den Großeltern durchsetzen!

Er lächelte bloß.

Sie dachte lange nach, sie war blaß geworden, sie mußte den Brief zurückhaben. Sie wußte, ein zweites Mal würde ihr Fritz solchen Leichtsinn nicht verzeihen. Mit halblauter Stimme, stockend, versprach sie, ihm noch einmal das zu erlauben, was er damals … er wisse es schon … auf ihrem Zimmer … Sie gab ihm ihr Ehrenwort, aber den Brief müsse er ihr sofort aushändigen …

Sie kam weiter als ihre Mutter. Sie sah ihn schwankend werden. Die Erinnerung an jene dunkle Stunde, an den höchsten Genuß seines Lebens stieg in seine dürren Wangen und zirkelte kreisrunde rote Flecken auf den Backenknochen ab. Er schluckte.

Dann besann er sich. Er hatte lange nachgedacht, Wochen und Wochen. Er hatte einen bestimmten Plan, in dem dieser Brief eine bestimmte Rolle spielen sollte. Violet genügte nicht, Violet allein war gar nichts, bloß ein Weib, ein bißchen ansehnlicher als die Armgard – nein, der Leutnant gehörte dazu. Die Schmerzen um den Leutnant gehörten dazu, ihre Liebe zu diesem Burschen, ihr Ekel vor ihm, dem Diener.

Er fragte: »Gnädiges Fräulein fahren heute nach Ostade?«

Sie war schon siegessicher. »Sie hören es doch, Hubert! Gleich geht es los. Holen Sie den Brief nur schnell – ehe Papa runterkommt!«

»Wenn gnädiges Fräulein heute nicht nach Ostade fahren und mir heute abend erlauben, was Sie mir versprochen haben, dann will ich heute abend den Brief hergeben.«

Sie hätte ihm beinahe ins Gesicht gelacht. Seinetwegen auf eine Fahrt nach Ostade zum Leutnant verzichten! Er war ja ein Idiot! Dann übermannte sie der Zorn: »Wenn Sie mir nicht gleich den Brief geben, erzähle ich alles Papa, und dann fliegen Sie raus und kriegen nie wieder eine Stellung im Leben –!«

»Wie gnädiges Fräulein wünschen«, sagte er ganz unerschüttert.

Dann war der Rittmeister dazugekommen. Seinem Diener hätte er nie etwas angemerkt, der war leblos wie ein Stock Holz, ganz wie immer. Aber Violet kochte. Keine drei Minuten, so kochte sie über. Vielleicht hatte Räder das sogar gewollt. Mit unbewegtem Gesicht hatte er dem gnädigen Fräulein Schmalz gereicht, wenn sie die Butter wünschte, und Zucker statt Salz. In Tränen ausbrechend, hatte Violet gerufen, sie halte es nicht mehr aus, wenn ihr Vater diesen elenden Kerl nicht auf der Stelle rausschmeiße! Seit Tagen und Wochen peinige und reize er sie! Einen Brief habe er ihr unterschlagen …

Unbewegt, fischig bot der Diener Räder dem Rittmeister die Platte mit den Spiegeleiern an. Der Rittmeister, der nach einer sehr schlecht verbrachten Nacht schon recht verdrossen heruntergekommen war, erzürnte sich sofort. Mit der Gabel schlug er heftig gegen den Rand der Eierpfanne und schrie seine Tochter an, was denn das für ein Brief sei?! Was sie in aller Welt denn für Briefe zu schreiben habe, etwa gar an den Herrn Diener?!

Er fuhr herum und funkelte den Diener drohend an. Der Diener servierte weiter.

Violet gab eine fliegende, unzusammenhängende Erklärung. Sie habe das Waffenlager durch die Geschwätzigkeit des Försters bedroht geglaubt. Sie habe dem Leutnant ein paar warnende Zeilen durch den Diener Räder schicken wollen. Und dieser Kerl habe den Brief unterschlagen, er verweigere die Rückgabe …

Der Rittmeister stand entflammt. Er schrie den Diener an: »Sie haben einen militärischen Brief meiner Tochter unterschlagen! Sie haben das Waffenlager in der Hand –!«

Hubert setzte die Platte mit den Spiegeleiern aus der Hand auf die Anrichte. Er sah den Rittmeister kalt an: Nichts reizt den Zorn mehr als die Gelassenheit des andern. Er sagte: »Verzeihen, Herr Rittmeister, aber es sind ungesetzliche Waffenlager …«

Der Rittmeister faßte seinen Diener an den Aufschlägen des dunkelgrauen Rockes und schüttelte ihn. Hubert ließ sich widerstandslos schütteln. Der Rittmeister schrie, aber Hubert schrie nicht dagegen. (Wenn das Mädchen Armgard später behauptete, der Diener habe dem Rittmeister gedroht, so war das eine Lüge. Aber Armgard hatte den hochnäsigen Räder ja nie ausstehen können.)

Der Rittmeister schrie: »Verräter gehören an die Wand!« Im Augenblick darauf sagte er: »Wenn Sie den Brief aushändigen, soll dies verziehen und vergessen sein.«

Violet rief: »Wirf ihn doch raus, Papa!«

Der Rittmeister ließ den Diener los und sagte finster: »Haben Sie noch etwas zu Ihrer Rechtfertigung zu sagen? Sonst sind Sie auf der Stelle entlassen!«

Violet erzitterte. Sie wußte: Hubert brauchte nur den Mund aufzutun, er brauchte dem Vater nur einiges zu erzählen, und sie war verloren. Aber sie hatte es gewagt, aus einem Gefühl heraus, daß Hubert nicht reden würde, daß er gar kein Interesse daran hatte, dem Vater ihre Geheimnisse zu erzählen.

Und sie behielt recht.

Hubert sagte nur: »Ich bin also auf der Stelle entlassen.«

Er sah sich noch einmal im Speisezimmer um. Er legte seine Serviette, die er während des ganzen Streites unter dem Arm gehalten hatte, auf die Anrichte. Er entdeckte die Spiegeleier. Kühl fragte er: »Darf ich die Eier noch einmal warm setzen lassen?«

Er bekam keine Antwort.

Er ging zu der Tür, er machte eine kleine Verbeugung, er sagte unerschütterlich: »Wünsche noch angenehme Fahrt, Herr Rittmeister!«

Er ging. Ohne einen Blick auf Violet.

Der Rittmeister aß gedankenvoll weiter. Zorn verschlug ihm nicht den Appetit, er förderte ihn. Gedankenvoll sah er seine Tochter an. Dann trank er zwei Kognaks und stieg in den Wagen. Er sagte nur: »Also nach Ostade, Finger« – und schwieg weiter.

Es war nach der Veranlagung des Rittmeisters unvermeidlich, daß nach der Periode des Handelns die Periode des Nachdenkens über seine Handlungen kam. Der Rittmeister hatte seinen Diener hinausgeworfen, er fing jetzt an, darüber nachzudenken, warum er ihn eigentlich hinausgeworfen hatte. Es war gar nicht so leicht, Klarheit in diese Sache zu bekommen. Vieles schien hinterher ziemlich unverständlich zu sein, was ihm in seinem Zorn verständlich erschienen war. War dieser Kerl einfach frech geworden? Natürlich war er frech geworden, der Rittmeister entsann sich dessen genau. Aber wieso war er frech geworden? Was hatte er eigentlich gesagt –?

Violet saß schweigend neben ihrem Vater. Sie hütete sich, sein Nachdenken jetzt mit einer jener jungmädchenhaften Dalbereien zu unterbrechen, die sie sonst für ihn bereithielt und die ihn stets in die beste Laune versetzten. Ein Kind kennt die Fehler seiner Eltern besser als die Eltern die Fehler ihrer Kinder. Ein Kind sieht erbarmungslos scharf, nicht Liebe, nicht Sympathie bestechen sein Auge auf den ersten Entdeckungsreisen in die neue Welt. Violet sah, ihr Vater dachte über sie nach. Jedes ablenkende Wort würde ihn jetzt nur argwöhnisch machen. Sie mußte warten, bis er anfing zu sprechen, zu fragen. Der Papa gehörte zu den Leuten, die von einer Frage mühelos auf die andere geraten und darüber ihr ursprüngliches Ziel völlig aus den Augen verlieren.

Zudem hatte Violet noch etwas anderes getan; sie war auf den Gedanken gekommen, als sie ihren Vater die beiden Kognaks trinken sah. Sie hatte am Nachmittag vorher beim Onkel eine ganze Menge Likör getrunken, sie wußte nicht einmal, wieviel, auch der Vater hatte keine Ahnung davon gehabt. Dieser Likör hatte ihr gutgetan, er hatte ihr Mut gemacht, der Mutter zu trotzen, was sie sonst nie gewagt haben würde. Er hatte sie mit Kampfgeist und guter Laune erfüllt. – Als der Vater vom Frühstückstisch ging, seinen Mantel anzuziehen, hatte sie sich schnell, mit vorsichtigem Umblicken nach der Tür, in das Glas ihres Vater auch einen Kognak geschenkt. Sie hatte das Glas randvoll gegossen, dann hatte sie es ohne abzusetzen ausgetrunken. Und fast ohne nachzudenken hatte sie wie der Vater ein zweites Glas dem ersten folgen lassen.

Nun saß sie behaglich in eine Ecke des Wagens geschmiegt. Sie war warm zugedeckt, langsam glitt an den Fenstern die Landschaft vorüber: endlose Felderbreiten, verlassen oder mit den wenigen, in der Weite verlorenen Pflügergespannen; Kartoffelschläge, hügelan, in den Himmel hinein, mit dem nassen, unansehnlich gewordenen, fast abgewelkten Kraut; die langen Ketten der Kartoffelbuddler, die, auf den Knien rutschend, die dreizinkige Hacke in der Hand, einen Augenblick den Kopf hoben und dem vorübereilenden Wagen nachsahen. Schließlich die fast endlosen Waldungen, in denen die Bäume oft so eng an den Weg traten, daß ein Zweig klatschend die Scheiben des Wagens streifte. Man schreckte zurück, lachte über den eigenen Schreck und sah die Scheibe betaut mit vielen kleinen Wassertropfen, die der Zweig auf ihr zurückgelassen hatte, die der Fahrtwind so rasch trocknete.

Die Landwege, diese vom Regen aufgeweichten, von den Kartoffelfuhren zerfahrenen Nebenstraßen, auf denen man von Neulohe Ostade erreichte, waren schlecht, der starke Wagen konnte seine Schnelligkeit nicht beweisen. Mit einem Tempo, das kaum an dreißig Stundenkilometer heranreichte, führte ihn der Chauffeur Finger achtsam über die Schlaglöcher und durch die Pfützen ländlicher Straßenbaukunst. Aber trotz dieses langsamen Tempos erzeugte das tiefe Brummen des Motors, das elastische Abfedern des Wagens, das mühelose Gleiten ein Gefühl wohliger, ruhiger Kraft in Violet. Es war, als übertrage der Motor einen Teil seiner ungenützten Stärke auf sie, in sie. Noch erhöht wurde dieses Gefühl durch den Alkohol, der sich langsam in dem ruhigen Körper auszubreiten schien, zuerst als Wärme, dann in der Gestalt vieler Bilder, die, kaum angedeutet, schon wieder vergingen und doch etwas wie Fröhlichkeit in ihr zurückließen.

Der junge Körper hatte das Gift gierig in sich eingetrunken. Geschmack und Gaumen hatten sich gewehrt gegen den Geruch des Alkohols, beim hastigen Hinuntertrinken hatte sie sich am ganzen Leibe geschüttelt – aber was der Zunge nicht gemundet hatte, das hatte einer anderen Instanz in ihr um so mehr zugesagt, sei es nun ihrem Hirn, sei es einem noch geheimnisvolleren Zentrum, das oft gegen unsern Willen entscheidet, was wir zu hassen, was wir zu lieben haben. Weio wäre jetzt gerne stumm an der Seite ihres Vaters weiter bis Ostade, bis zu »ihm« gefahren, wenn sie auch die kommende Auseinandersetzung nicht mehr fürchtete. So wie sie jetzt dahinfuhr, war sie vollkommen glücklich: sie ruhte in sich!

Schließlich war es dann natürlich soweit; grade in einem Moment, da Violet besonders angenehmen Gedanken über die Wiedervereinigung mit ihrem Leutnant nachhing, hob der Rittmeister den Kopf und fragte ziemlich mißmutig: »Wieso kennst du eigentlich diesen Leutnant?«

»Aber, Papa«, rief Violet vorwurfsvoll, »den kennen doch alle!«

»Alle? Ich kenne ihn nicht!« widersprach der Rittmeister recht gereizt.

»Aber, Papa, du hast ihn mir doch gestern erst so gelobt!«

»Na ja!« Der Rittmeister war etwas betroffen. »Aber ich kenne ihn nicht – was wir kennen nennen. Er ist mir nicht einmal vorgestellt. Ich weiß auch seinen Namen nicht …«

»Ich auch nicht, Papa!«

»Was? Unsinn! Schwindle nicht, Violet!«

»Aber wenn ich es dir sage, Papa! Mein Ehrenwort! Im ganzen Dorf heißt er nur der Leutnant Fritz, Papa. Das hat dir doch auch der Förster gesagt.«

»Mir hast du nichts davon gesagt! Du hast kein Vertrauen zu mir, Violet!«

»Aber ja, Papa! Ich sage dir doch alles!«

»Nicht dies vom Putsch und vom Leutnant.«

»Du warst doch verreist, Papa!«

»Kam er denn nicht schon früher?«

»Aber nein, Papa! Erst die letzten Wochen.«

»Dann ist er nicht der Mann gewesen, der mit dir und Hubert nachts über den Hof gegangen ist?«

»Das war doch der Förster Kniebusch, Papa! Das habe ich euch schon hundertmal gesagt.«

»Mama hat dir also unrecht getan –?«

»Aber ja, Papa!«

»Ich habe es der Mama immer gesagt!«

Der Rittmeister versinkt wieder in Schweigen. Aber dieses Schweigen ist schon nicht mehr so düster wie das vorhergegangene. Der Herr von Prackwitz hat das Gefühl, die Angelegenheit schon sehr befriedigend aufgeklärt zu haben. Was ihm aber vor allem guttut, ist, daß er wieder einmal seiner Frau gegenüber recht behalten hat! Da er sich ihr unterlegen fühlt, und jetzt ganz besonders, muß er sich immer wieder beweisen, daß er ihr überlegen ist. Der einzige Gedanke, der ihn in seiner Zufriedenheit noch stört, ist, daß Violet den Warnungsbrief an den Leutnant hinter seinem Rücken hat abschicken wollen. Das beweist, daß sie entweder kein Vertrauen zu ihm hat oder daß sie doch in geheimnisvollen Beziehungen zu diesem Leutnant steht.

Plötzlich überfällt ihn siedend heiß der Gedanke, daß Violet ihn doch belogen hat! Wie sie den Leutnant am Waffenlager gesehen hat, da haben die beiden so getan, als kennten sie einander nicht. Ja, der Leutnant ist direkt unhöflich gegen Violet geworden. Und doch hat ihm Weio einen Brief geschrieben! Sie haben ihn also täuschen wollen. Oder die beiden haben sich wirklich erst später kennengelernt – warum hat ihm dann Weio ihre Mahnung wegen des Försters nicht mündlich gesagt?

Es ist für den Rittmeister ein reichlich schwieriger Fall, eine wahnsinnig komplizierte Geschichte, er muß sehr intensiv nachdenken, sehr schlau sein, um hinter diese Sache zu kommen.

»Du, Weio?« fragt er mit unmutig gerunzelter Stirn.

»Ja, Papa?« Sie ist die Bereitwilligkeit selbst.

»Als wir den Leutnant bei dem Waffenlager trafen, kanntest du ihn da schon?«

»Natürlich nicht, Papa, sonst wäre er doch nicht so zu mir gewesen!« Aber Violet spürt die Gefahr, sie ist nicht dafür, daß der Vater diesen Gedankengang zu sehr verfolgt. So geht sie zum Gegenangriff vor. »Hör mal, Papa«, sagt sie energisch. »Ich glaube, du denkst wie die Mama, ich habe Männergeschichten.«

»I wo!« antwortet der Rittmeister hastig. Die Zauberworte »wie die Mama« haben sofort seine Abwehr ausgelöst. Nun denkt er nach und fragt dann argwöhnisch: »Was weißt du von Männergeschichten, Violet?«

»Na, knutschen und so, Papa«, sagt Violet mit jenem mädchenhaften Trotz, der ihr grade richtig erscheint.

»Knutschen ist ein widerliches Wort!« ruft der Rittmeister empört. »Von wem hörst du so was?«

»Von den Mädchen, Papa. Das sagen doch alle!«

»Unsere Mädchen auch? Armgard? Lotte?«

»Sicher, Papa, alle sagen so. Aber ich kann es nicht beschwören, daß ich es grade von Armgard oder Lotte gehört habe.«

»Ich schmeiße sie raus!« murmelt der Rittmeister bei sich. Dies ist nun eben seine Art, die unangenehmen Dinge des Daseins aus der Welt zu schaffen.

Violet hat es nicht gehört. Sie ist sehr zufrieden mit dem Weg, den diese Vernehmung nimmt. Also lacht sie und erzählt: »Neulich habe ich gehört, Papa, wie ein Mädchen zum andern im Dorf gesagt hat: ›Bist du denn zum Tanzen oder zum Knutschen in den Krug gekommen?!‹ – Ich habe ja so lachen müssen, Papa!«

»Daran ist gar nichts Lächerliches, Weio!« ruft der Rittmeister empört. »So was ist einfach ekelhaft! Ich wünsche, nichts Derartiges mehr zu hören, und ich wünsche auch nicht, daß du dir je etwas Derartiges anhörst! Knutschen ist ein ganz gemeines Wort!«

»Ist es denn nicht dasselbe wie küssen, Papa?« fragt Violet sehr erstaunt.

»Violet!!« brüllt der Rittmeister fast.

Der Klang seines Zornschreis muß den Chauffeur durch die Glasscheibe hindurch erreicht haben: Er dreht sich um und macht ein fragendes Gesicht. Herr von Prackwitz zeigt ihm mit zorniger Gebärde, daß er weiterfahren soll, daß ihn die Sache nichts angeht. Der Chauffeur versteht nicht, er zieht die Bremsen, hält, öffnet die Glasscheibe und fragt: »Wie bitte? Ich hatte nicht ganz verstanden, Herr Rittmeister.«

»Weiterfahren sollen Sie, Mensch!« ruft der Rittmeister ärgerlich. »Immer weiterfahren.«

»Jawohl, Herr Rittmeister«, antwortet der Chauffeur höflich. »In zwanzig Minuten werden wir wohl in Ostade sein.«

»Also los!« sagt der Rittmeister noch einmal.

Die Glasscheibe wird wieder zugeschoben, der Wagen fährt an.

Nun erst schilt der Rittmeister zu der geschlossenen Glasscheibe ärgerlich: »Trottel!« Und dann sanfter zu seiner Tochter: »Für viele Dinge gibt es eine anständige und eine unanständige Bezeichnung. Du sagst auch nicht: ich fresse, sondern du ißt. So sagt ein anständiger Mensch nicht für küssen jenes andere unanständige Wort …«

Violet dachte einen Augenblick nach. Dann sagte sie, ihren Vater vergnügt anfunkelnd: »Ich versteh, Papa. Das ist so: Wenn du guter Laune bist, sagst du Scheibenhonig, und wenn du schlechter Laune bist, sagst du das Wort, das ich nie sagen darf, nicht wahr, Papa?«

Der Rittmeister sprach bis Ostade kein Wort mehr. Violet wurde keiner Anrede mehr gewürdigt, sie war sehr zufrieden.

Nun fuhren sie schon längs der Oder. Etwas auflebend, gab der Rittmeister dem Chauffeur die Weisung, vor dem »Goldenen Hut« am Alten Markt zu halten. Im »Goldenen Hut« verkehrten die Offiziere. Man saß dort am Vormittag, las Zeitungen, trank ein Glas Sherry oder Portwein, die Pioniere begrüßten die Kameraden von der Artillerie, die Jünger der heiligen Barbara erfuhren das Neueste aus der Pionierkaserne –: es war, außerhalb des Kasinos, ein neutraler Boden. Der Großgrundbesitz verkehrte natürlich auch im »Goldenen Hut«.

Der Rittmeister sorgte dafür, daß das neue Auto nicht auf den Hof fuhr, sondern vor dem Hotel halten blieb.

»Wir fahren doch gleich weiter«, sprach er zum Chauffeur Finger.

Aber er hatte keineswegs die Absicht, gleich weiterzufahren; er wollte, daß der Glanz des neuen Wagens jeden Ankömmling sofort begrüßte.

In der Gaststube war keiner, wenigstens keiner, der in Frage kam für den Rittmeister. Bloß ein paar Zivilisten. Obwohl der Rittmeister selber Zivil trug, rechnete er sich nicht zu den Zivilisten.

Es war kurz nach elf Uhr. Um diese Zeit, vielleicht auch erst um halb zwölf, pflegten die Offiziere zu kommen. Der Rittmeister sammelte alle illustrierten Zeitschriften, alle Witzblätter um sich. Eine Unterhaltung mit seiner Tochter kam nicht in Frage, sie hatte ihn zu schwer gekränkt. Für sich bestellte er ein Glas Portwein, für Violet bestellte er eine Tasse Fleischbrühe – und versenkte sich in den Lesestoff.

Es war absolut ekelhaft, daß dieses Mädchen ihm nun auch wieder den heutigen Tag verdorben hatte. Man konnte in Neulohe seines Lebens einfach nicht froh werden! Der Rittmeister erwog drei Minuten lang ernstlich den Gedanken, Neulohe aufzugeben und wieder zum Militär zurückzukehren. Er brauchte nur diesen Putsch abzuwarten, und alle Möglichkeiten standen ihm offen! Beruhigt, daß er erst übermorgen seine Entscheidung werde treffen müssen, vertiefte der Rittmeister sich in den »Kladderadatsch« und die neuesten Ausfälle gegen die Regierung.

Violet saß so, daß sie aus dem Fenster auf den Marktplatz sehen konnte. Für eine Stadt, die morgen einen großen Putsch zu erwarten hatte, der die Verfassung und Regierung eines Sechzigmillionenvolkes völlig ändern würde, sah der Marktplatz überraschend friedlich aus. Ein paar Bauernwagen mit Kartoffeln oder Kohl waren aufgefahren, ein paar Frauen gingen mit ihren Marktaschen ab und zu – nichts Auffälliges, nichts Verändertes, vor allem aber keine Uniformen.

»Du, Papa, man sieht ja heute überhaupt keine Uniformen«, rief Violet.

»Die haben heute etwas anderes zu tun, als spazierenzulaufen«, antwortete der Rittmeister scharf. »Im übrigen lese ich.«

Doch ließ er nach wenigen Augenblicken seine Zeitung sinken und sah ebenfalls auf den Platz hinaus. Mit einem Blick auf die Uhr rief er den Kellner: »Wo bleiben die Herren Offiziere –?«

»Sie müßten schon hier sein«, antwortete der Kellner, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte.

Von dieser klaren Auskunft vollkommen befriedigt, bestellte der Rittmeister ein zweites Glas Portwein. Violet bat auch um eines, aber der Rittmeister sprach drohend: »Bleib du bei deiner Fleischbrühe!«

Leise lächelnd ging der Kellner.

Violet fühlte sich infam blamiert. Nie wieder konnte sie in den »Goldenen Hut« kommen. Papa war direkt gemein. Mit flimmernden Augen starrte sie auf den Platz. Im Auto saß der Chauffeur Finger, sie fragte: »Wo willst du denn eigentlich noch hinfahren, Papa?«

Der Rittmeister fuhr zusammen: »Ich –? Gar nicht will ich hinfahren! Wieso –?«

»Du hast doch dem Chauffeur gesagt, wir fahren gleich weiter, Papa!«

»Kümmere dich bitte um deine Angelegenheiten!« sagte der Rittmeister gereizt. »Im übrigen ist Alkohol am Vormittag nichts für junge Mädchen.«

Er verstummte. Violet blieb auch stumm. Eine lange Weile starrten beide auf den Marktplatz. Aber nichts geschah. Schließlich blieb dem Rittmeister nichts anderes übrig, als sich ein drittes Glas Portwein zu bestellen. Er fragte den Kellner sehr ärgerlich, wo denn eigentlich die Herren Offiziere blieben?!

Der Kellner bedauerte außerordentlich, er konnte es sich auch nicht erklären!

Trostlos, immer gereizter starrten die beiden aus dem Fenster. Die Zivilisten hatten sich die Zeitschriften längst wiedererobert, nur den »Kladderadatsch« hielt der Rittmeister noch in der Hand. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick hinein, aber er fand die Witze albern: Diese Situation war wirklich nicht zum Witzemachen! Was in aller Welt sollte er hier den ganzen Tag in diesem langweiligen Ostade anfangen, wenn sich die Offiziere nicht sehen ließen! Das Mittagessen zu Haus war nun schon abbestellt, außerdem hatte er nicht die geringste Lust, jetzt schon nach Haus zu fahren! Er hörte am Abend früh genug, was seine Frau zu der Entlassung Huberts zu sagen hatte –! Am liebsten wäre er mal zu einer der beiden Kasernen gefahren und hätte sich erkundigt. Aber er hat ja leider gerade eben Violet gesagt, daß er nicht daran denkt, weiterzufahren!

Eine Bewegung seiner Tochter läßt ihn aufmerken. Sie starrt so vergessen, so hingegeben nach der Tür des Gastzimmers, daß der Rittmeister all seine guten Formen vergißt, sich auf dem Stuhle umdreht und auch starrt.

In der Tür steht ein junger Mann in grauen Knickerbockern und gelbgrüner Windjacke. Er sieht musternd in das Lokal, dann nach dem Büfett zum Kellner. Der Mann sieht so verändert aus in seinem Räuberzivil, daß der Rittmeister eine ganze Weile braucht, bis er ihn wiedererkennt. Dann springt er aber hoch, eilt auf den jungen Mann zu und begrüßt ihn in seiner Freude über diese Abwechslung sehr eifrig: »Guten Morgen, Herr Leutnant, Sie sehen, ich bin schon heute zur Stelle …«

Der junge Mann ruft scharf zu dem Kellner hinüber: »Ober, zwanzig Zigaretten!«

Er sieht den Rittmeister kühl an und entschließt sich dann, sehr zurückhaltend »Guten Morgen« zu sagen.

»Aber Sie erinnern sich doch!« ruft der Rittmeister, sehr erstaunt über diesen Empfang. »Rittmeister von Prackwitz. Wir trafen uns gestern im D-Zug. Der Herr Major«, er flüstert den Namen nur, »Rückert. Sie … Ich …« Lauter: »Ich habe den Wagen schon gekauft. Ein ziemlich guter Wagen. Horch. Sicher haben Sie ihn vor der Tür stehen sehen …«

»Ja, ja«, flüstert der Leutnant zerstreut. Der Kellner ist herangetreten, der Leutnant nimmt seine Zigaretten in Empfang, gibt einen Schein, dankt für das Wechselgeld und fragt: »Die Herren noch nicht da?«

Der Kellner sagt seine zwei Sätze: »Sie müßten längst hier sein, ich verstehe es auch nicht.«

»So«, sagt der Leutnant bloß, aber selbst der Rittmeister spürt, daß dies für den andern keine gute Nachricht ist.

Der Kellner ist gegangen, die beiden Herren sehen sich einen Augenblick schweigend an.

Der Leutnant entschließt sich: »Entschuldigen Sie mich bitte, ich bin sehr beschäftigt …«

Er sagt es ganz gedankenlos, er geht nun nicht etwa, er bleibt stehen und sieht den Rittmeister an, als erwarte er etwas von ihm.

Der Rittmeister ist sehr gekränkt, daß seine Nachricht von dem Autokauf so wenig Eindruck gemacht hat. Trotzdem will er den Leutnant nicht gehen lassen. Der ist jetzt der einzige Mensch, mit dem er reden, von dem er etwas erfahren, dem er etwas erzählen kann. Er sagt: »Wenn Sie einen Augenblick an meinem Tisch Platz nehmen wollten, Herr Leutnant? Ich hätte Ihnen etwas zu sagen …«

Der Leutnant ist sichtlich tief in Gedanken. Er bewegt die Hand, er sagt abwehrend: »Ich bin wirklich sehr beschäftigt.«

Aber als der Rittmeister eine einladende Bewegung mit der Hand macht, geht er mit ihm zu dem Tisch. Kein Auge hat die ganze Zeit Violet von ihm gelassen.

»Meine Tochter kennen Sie ja wohl, Herr …« Der Rittmeister lacht verlegen. »Nun habe ich doch Ihren Namen vergessen, Herr Leutnant!«

Der Leutnant ist unter Violets Blick etwas wacher geworden. Sie sieht ihn so flehend, so liebevoll an, daß sofort stärkste Abwehr sich in ihm regt. Sie hat wahrhaftig noch immer nicht verstanden, daß sie für mich erledigt ist! Bei der muß man auch erst grob werden!

»Meier«, stellt er sich vor. »Meier! Meier ist ein sehr angenehmer, ein sehr brauchbarer Name, nicht wahr?«

Er sieht ihren Blick, diesen Blick, der um Gnade und Verzeihung förmlich bettelt.

Noch schärfer sagt er: »Nein, ich glaube nicht, daß ich das gnädige Fräulein kenne. Oder doch –?«

»Doch – in Neulohe …«, flüstert Violet, zusammenschreckend unter diesem grausamen Blick und Wort.

»In Neulohe? Ach so! Haben wir uns da schon gesehen? Verzeihung, gnädiges Fräulein, ich wenigstens erinnere mich nicht mehr.«

Und zum Rittmeister, der ganz verständnislos diese rätselhafte Szene anstarrt, denn das spürt er ja doch, daß seine Tochter im Innersten erschüttert, aufgeregt, verzweifelt ist: »Nein, für mich bitte nichts zu bestellen. Ich muß sofort weiter. Sie hatten mir etwas zu sagen, Herr Rittmeister?«

»Ich weiß doch nicht …«, zögerte der Rittmeister.

Mit einem weißen, sehr stillen Gesicht saß seine Violet am Tisch.

Der Leutnant schlug ein Bein über das andere, er trug eine infame, gelangweilte Miene zur Schau, als wüßte er schon, was nun kommen würde. Jetzt brannte er sich eine Zigarette an und sagte überlegen: »Wenn Sie es nicht wissen, Herr – Herr – der Name, entschuldigen Sie, ist mir entfallen« (rachsüchtiger Blick zu Violet), »wenn Sie es nicht wissen, bitte ich gehen zu dürfen. Ich bin, wie gesagt, sehr beschäftigt.«

Und blieb herausfordernd sitzen. Es fehlte nicht viel, und er hätte dem Rittmeister und seiner Tochter ins Gesicht gegähnt.

Der Rittmeister bezwang sich. Fern seinem Heim, konnte er sich bezwingen. Er sagte: »Kurz und gut: Meine Tochter hat Ihnen einen Brief« – kurzes Stocken – »in Ihrer Sache geschrieben, der in falsche Hände geraten ist.«

Es kam alles genau wie erwartet. Der Leutnant stieß seine Zigarette in die Aschenschale, flehend spürte er den Blick des Mädchens auf sich. Von dem verglühenden Tabak hob er das Auge zum Rittmeister. Er sah ihn an, er sagte: »Ich stehe Ihnen natürlich zur Verfügung, Herr Rittmeister. Ich bestreite nichts. Nur«, sagte er rascher, »wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie bis zum Schluß der morgigen Aktion warten würden. Meine Freunde werden sich direkt hinterher bei Ihnen melden.«

Der Rittmeister war ein sehr alter Mann, hohle Schläfen, weißes Haar, verfallenes Gesicht. Er sagte mit fast unverständlicher Stimme: »Ich – verstehe – doch – richtig –?«

»Papa –! Fritz!« rief das Mädchen beschwörend.

»Sie verstehen vollkommen richtig«, belehrte ihn der Leutnant mit seiner überlegenen, unverschämt klingenden Stimme.

»Fritz, ach, Fritz! Ach, Papa …«, murmelte das Mädchen, die Augen voller Tränen.

Der Rittmeister saß wie gelähmt. Mit den Fingern hielt er den Fuß des Portweinglases, er drehte es, er schien die Farbe des Weins zu prüfen. Aber auf der Zunge schmeckte er nicht den Wein, Bitternis schmeckte er, Asche … Bitternis und Asche eines ganzes Lebens …

»Fritz, ach, Fritz …«, erreichte die klagende Stimme der Violet sein Ohr.

Mit einer raschen Bewegung schwenkte er den Rest seines Portweinglases in das freche, überlegene Gesicht des jungen Kerls. Mit tiefer Freude sah Joachim von Prackwitz dieses Gesicht fahl werden, das feste Kinn zitterte …

»Habe ich Sie jetzt recht verstanden, Herr Leutnant …?!« fragte er rachsüchtig.

Violet schrie auf, aber nur leise. Der Leutnant war jung genug, ehe er den Wein aus dem Gesicht wischte, einen angstvollen Blick in das Lokal zu werfen: Die Zivilisten saßen hinter ihren Zeitungen. Aber der Kellner am Büfett fuhr erschrocken zusammen und fing an, mit verlegener Hast das Zinkblech zu reiben.

»Dies war überflüssig«, flüsterte der Leutnant voll Haß und stand auf. »Im übrigen habe ich Ihr Fräulein Tochter nie ausstehen können.«

Der Rittmeister stöhnte. Er wollte hoch, er wollte hineinschlagen in dieses brutale, hassenswerte Gesicht, aber seine Beine zitterten, alles drehte sich, er hielt sich am Tisch. In den Ohren brauste das Blut wie Brandung – ferne nur hörte er seine Tochter sprechen.

Hat sie denn gar keinen Stolz? dachte er verwundert. Daß sie noch mit ihm sprechen mag!

Er verstand nicht mehr, was sie sagte.

»Ach, Fritz«, rief Violet klagend, »warum hast du das nur getan?! Nun ist alles kaputt! Papa wußte doch gar nichts …«

Er sah sie mit seinen hellen, bösen Augen an, ohne ein Wort, voller Verachtung und Ekel.

Sie kam um den Tisch herum, ihr war es gleich, daß sie in einem Lokal standen. Sie faßte seine Hand, sie flehte: »Fritz, sei doch gut … Papa tut alles, was ich will, ich rede ihn herum … Ich kann doch nicht ohne dich sein … Und wenn du nur einmal die Woche, nur einmal im Monat zu mir kommst, wir können doch heiraten …«

Er machte eine Bewegung, ihr die Hand fortzuziehen …

Sie sieht ihn mit ihren angsterweiterten, tränenden Augen an. Sie versucht, sich zusammenzunehmen, sie sagt mit einem Versuch zu lächeln: »Papa rede ich sicher ein, daß alles ein Irrtum war, er hat doch gar nichts gewußt! Er muß sich bei dir entschuldigen, Fritz, wegen des Weins … Das war so häßlich von ihm! Ich schwöre dir, er wird sich entschuldigen …«

»Wieso hat dein Vater nichts gewußt?« fragt er. »Er hat doch von dem Brief gesprochen?«

Es ist das erste Wort, das er zu ihr sagt, eine kalte, argwöhnische Frage, einzige Antwort auf ihr flehendes Gestammel …

Aber sie ist schon glücklich, daß er nur wieder mit ihr spricht, sie drückt seine Hand fester, diese knochige, grausame Hand, sie sagt eilig: »Papa hat doch von einem ganz andern Brief gesprochen! Ich habe dir doch noch einmal geschrieben, wegen des Waffenlagers, weil der Förster zugesehen hat, wie du es eingegraben hast! Und der Brief ist doch unterschlagen worden. Sieh mich nicht so schrecklich an, Fritz! Fritz! Fritz! Das Waffenlager ist noch da … Ich habe nichts falsch gemacht, Fritz, bitte …«

Sie hat lauter und lauter gesprochen, nun hat sich seine Hand über ihren Mund gelegt. Die Zivilisten sind hinter ihren Zeitungen emporgetaucht und betrachten entrüstet, verlegen, amüsiert diese Szene. Der Rittmeister hat sich am Tisch bewegt wie im Schlaf, er hat geflüstert: »Lassen Sie meine Tochter …«

Er meint, er habe es geschrien. Der Kellner hat einen Schritt vom Büfett fort auf das Paar zu gemacht und steht nun wieder da, unentschlossen, ob er eingreifen soll oder nicht …

Aber der Leutnant hat alles verstanden: das Fehlen der Offiziere heute im Lokal, die abgerissene Verbindung mit der Reichswehr … Er begreift, daß der ganze Putsch gefährdet ist, diese durch Monate vorbereitete Aktion – und er trägt die Schuld! Nein, sie trägt sie!

Seine Hand auf ihrem Mund, flüstert er in ihr Ohr – und sein Haß entzündet sich immer stärker an diesem weichen, hingebenden, willenlosen Gesicht. Er flüstert: »Du, du hast mir nur Unglück gebracht! Du bist mir zum Ekel – ich möchte dich nicht, und wenn du in Gold eingewickelt wärst! Ich ekle mich vor dir; ich schüttle mich, wenn ich an dein Seufzen denke; ich möchte mich selber zerreißen, wenn ich daran denke, daß ich dich mal angefaßt habe! Hörst du, verstehst du mich auch«, flüstert er lauter, denn sie hat die Augen geschlossen und liegt wie leblos in seinem Arm. »Alles hast du mir kaputt gemacht mit deiner verfluchten schmierigen Liebe! Höre, du!« Wieder lauter, er schüttelt sie. »Hör gut zu, wenn das Waffenlager noch da ist, dann will ich sehen, daß ich morgen falle –. Aber wenn das Waffenlager weg ist, schieße ich mich noch heute nachmittag tot – deinetwegen, hörst du, deiner großartigen Liebe wegen!« Er sieht sie an, einen Augenblick wird er irre. Aber er muß ihr doch noch eines sagen, ganz gleich, ob der Kellner ihn jetzt beschwörend an der Schulter rüttelt. Er flüstert ihr ins Ohr: »Besuch mich heute abend, verstehst du – Liebste?! Dort!! Ich werde nett aussehen – deine Lebtage sollst du an mich denken, wie ich daliege – mit zerschossenem Kopf!«

Ihr Schrei läßt alle auffahren, hinzulaufen. Der Leutnant sieht sich um, wie erwachend.

»Da, nehmen Sie sie – ich brauch sie nicht mehr!« schreit er den Kellner an und läßt das Mädchen so plötzlich los, daß es doch auf die Erde sinkt.

»Hören Sie mal, heben Sie sie wenigstens auf!« schreit der Kellner wütend.

Aber der Leutnant läuft schon aus dem Lokal.

Wolf unter Wölfen
titlepage.xhtml
ccover.html
cinnertitle.html
cimprint.html
cnavigation.html
ctoc.html
c5_split_000.html
c5_split_001.html
c7.html
c8.html
c9.html
c10.html
c11.html
c12.html
c13.html
c14_split_000.html
c14_split_001.html
c16.html
c17.html
c18.html
c19.html
c20.html
c21.html
c22.html
c23_split_000.html
c23_split_001.html
c25.html
c26.html
c27.html
c28.html
c29.html
c30.html
c31.html
c32.html
c33_split_000.html
c33_split_001.html
c35.html
c36.html
c37.html
c38.html
c39.html
c40.html
c41.html
c42_split_000.html
c42_split_001.html
c44.html
c45.html
c46.html
c47.html
c48.html
c49.html
c50.html
c51.html
c52.html
c53_split_000.html
c53_split_001.html
c55.html
c56.html
c57.html
c58.html
c59.html
c60.html
c61.html
c62.html
c63.html
c64_split_000.html
c64_split_001.html
c66.html
c67.html
c68.html
c69.html
c70.html
c71.html
c72.html
c73.html
c74_split_000.html
c74_split_001.html
c76.html
c77.html
c78.html
c79.html
c80.html
c81.html
c82.html
c83.html
c84.html
c85.html
c86_split_000.html
c86_split_001.html
c88.html
c89.html
c90.html
c91.html
c92.html
c93.html
c94.html
c95_split_000.html
c95_split_001.html
c97.html
c98.html
c99.html
c100.html
c101.html
c102.html
c103.html
c104.html
c105.html
c106_split_000.html
c106_split_001.html
c108.html
c109.html
c110.html
c111.html
c112.html
c113.html
c114.html
c115.html
c116.html
c117.html
c118.html
c119.html
c120_split_000.html
c120_split_001.html
c122.html
c123.html
c124.html
c125.html
c126.html
c127.html
c128.html
c129.html
c130.html
c131.html
c132.html
c133_split_000.html
c133_split_001.html
c135.html
c136.html
c137.html
c138.html
c139.html
c140.html
c141.html
c142.html
c143.html
c144.html
c145_split_000.html
c145_split_001.html
c147.html
c148.html
c149.html
c150.html
c151.html
c152.html
c153.html
c154.html
c155_split_000.html
c155_split_001.html
c157.html
c158.html
c159.html
c160.html
c161.html
c162.html
c163.html
c164_split_000.html
c164_split_001.html
c166.html
c167.html
c168.html
c169.html
c170.html
c171.html
c172.html
caboutBook.html
caboutAuthor.html