Keine Stütze, keine Hausfrau hätte die Villa sorglicher vorbereiten können, als es der junge Pagel getan hatte. Die Zimmer waren aufgeräumt und warm, der Badeofen war geheizt. In der Küche wartete ein Abendessen auf die Heimkehrenden, und der junge Mann hatte es sogar fertiggebracht, aus dem von Sommerhitze ausgedörrten, im Herbstregen ersoffenen Garten ein paar Sträuße zusammenzuholen: Gladiolen, Dahlien, Astern …
Wo Frau Eva von Prackwitz eine von Hilfskräften entblößte Wüste hinterlassen hatte, da fand sie wieder ein Heim vor, und sogar das trostlose Mädchen Lotte, das fest entschlossen gewesen war, auch zu fliehen, war so munter und aufgeräumt wie kaum je zuvor. Denn der »junge Mann« hatte das Scheuerfest zu einer Lustbarkeit gemacht: mit den räumenden Weibern war er mitgewandert, das Koffergrammophon in der Hand, und wie es sich kehren ließ, wie sich Betten machten, wenn dazu Musik erscholl wie »Puppchen, du bist mein Augenstern« oder »Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen« – das war gar nicht zu sagen! In einem halben Jahr war nicht soviel und nicht so herzlich in der Villa gelacht worden wie an diesem einen Abend.
Aber dem Lachen folgt Weinen, Regen vertreibt den Sonnenschein, und – es ist nicht alle Tage Sonntag. Dem schneidigen Horchwagen sah man es nicht an, als er vorfuhr, welche Unglücksfuhre er barg. Eher schon dem recht betreten aussehenden Herrn Finger, der den Schlag noch vor dem herbeieilenden jungen Pagel öffnete. Als man dann in den Wagen sah …
Das gnädige Fräulein freilich schlief noch immer, und etwas so Beängstigendes dieser starre, bleiche Schlaf auch hatte, er allein hätte die Gesichter nicht so ernst und verlegen gemacht. Aber der Rittmeister, dieser unselige Rittmeister von Prackwitz! Er war noch nicht wieder bei Besinnung, aber er hatte während der Fahrt zu brechen angefangen – kaum bekleidet, stöhnend, beschmutzt hoben sie ihn aus dem Wagen.
Die gnädige Frau mußte fürchterliche Stunden hinter sich haben, sie sah fahl und alt aus. Ihr schöner, voller Mund war fest geschlossen, traurig und bitter sah sie aus.
»Ja«, nickte sie streng, »ich bringe das Unglück ins Haus.«
Sie warf einen kurzen Blick auf die Gesichter um sich, geisterhafte Gesichter im spärlichen Schein der Außenlampe. Der junge Pagel, der Chauffeur Finger, Lotte, erschrocken und angstvoll, ein paar Frauen aus dem Dorf – nein, es gab kein Versteckenspielen, kein Heimlichtun mehr. Das Unglück war in die Villa eingekehrt. Aber Frau Eva trug auch das – trug es? Nein, es machte sie stark, im wirklichen Unglück vergeht die Anstellerei …
»Herr Finger, Herr Pagel, Sie sind so freundlich und tragen meinen Mann hinauf. Am besten legen Sie ihn erst auf die Chaiselongue im Badezimmer, bis ein Bad fertig ist. Es ist fertig? Schön! Ihr Mädchen helft mir bei Fräulein Violet. Habe doch keine Angst, Lotte, sie ist nicht tot, sie ist nur betäubt. Der Arzt hat ihr ein Mittel gegeben. So – nun los!«
Brennen die Lampen plötzlich düsterer im Haus? Hat es hier eben noch gesungen, geklungen und gelacht? Was sollen die Blumen in den Vasen? Das Unglück kam heim – alle gehen auf den Zehen, alle flüstern –. Horch, was ist das? Es ist nichts, es ist nur der Rittmeister, er stöhnt wieder. Die Außenlampe an der Villa brennt weiter, für nichts werfen die Scheinwerfer des Autos ihre Lichtkegel in die Nacht.
Die beiden Männer, Pagel und Finger, haben den Rittmeister ausgezogen, in die Badewanne gelegt.
»Nein, ich habe keine Zeit für ihn. Tun Sie das. Violet ist jetzt wichtiger …«
Und sie hat sich neben das Bett der Tochter gesetzt, sie verläßt das Zimmer nicht – denkt sie an eine Mahnung? Ist sie noch nicht geborgen – hier, in ihrem Heim? Um Neulohe steht der Wald, ferne ist die Welt, wie kann noch größeres Unheil kommen –? Noch größeres Unheil als eine geschändete, verwirrte Tochter, ein Mann, der nun endgültig allen Halt verloren hat –? Noch größeres Unheil –?
»Lotte«, sagt sie. »Gehen Sie sofort hinunter. Schließen Sie alle Türen ab, im Souterrain und im Erdgeschoß. Sehen Sie nach, daß alle Fenster wirklich zu sind. Machen Sie niemandem die Tür auf, ehe Sie mich nicht gefragt haben.«
Das Mädchen geht, angstvoll, verwirrt. Die Frau sitzt neben dem Bett. Um halb eins, eins wird die Tochter erwachen. Auf diesen Moment kommt alles an, daß weiß sie vom Arzt. Die Stunde soll sie bereit finden. Keinen Schritt aus diesem Zimmer! Es ist Violets Zimmer – hier hat sie als Kind, als junges Mädchen gewohnt. Was sie damals war, ach! vor noch so kurzer Zeit, das muß ihr die Kraft geben, zu überwinden, was sie geworden ist!
Die beiden Männer arbeiten stumm an dem Rittmeister. Der junge Pagel wäscht ihn sorgfältig ab, der Chauffeur hält ihn, denn die weichen, schlafenden Glieder verlieren immer wieder den Halt in der Wanne. Trotzdem scheint es, als ob Besinnung in den Körper zurückkehren will, die Augenlider bewegen sich, zucken, der Mund flüstert.
»Bitte sehr, Herr Rittmeister?«
»Was zu trinken …«
Jawohl, etwas wie Erinnerung regt sich in dem betäubten Hirn, die erste wieder erwachende Ahnung von dem Unheil, das diesen Mann befallen hat. Und schon verlangt er, der noch nicht wieder denken kann, nach neuer Betäubung, neuer Flucht …
Pagel sieht den Chauffeur an. Herr Finger bewegt verneinend den Kopf: »Er bricht ja schon Galle. Der Magen nimmt nichts mehr an.«
Pagel nickt.
Es ist nicht leicht, den bewußtlosen, nassen, glatten Körper aus der Wanne zu heben. Der Rittmeister widersetzt sich, er murmelt heftig. »Portwein!« murmelt er. »Ober, noch eine Flasche …«
»Was ist –?« ruft Frau Eva aus der Tür von Violets Zimmer.
»Wir bringen Herrn Rittmeister jetzt ins Bett«, berichtet Pagel. »Er möchte zu trinken haben, gnädige Frau.«
»Er bekommt nichts«, entscheidet sie. »Keinen Schluck Alkohol. Sehen Sie nach, Herr Pagel, in meinem Nachtschränkchen muß Veronal sein. Geben Sie ihm eine Tablette …«
Schließlich liegt der Rittmeister im Bett, erschöpft, in einem unruhigen Halbschlaf. Das Veronal hat er bekommen, aber sofort wieder erbrochen.
Herr Finger sagt zögernd: »Ich müßte meinen Wagen aus dem Regen fahren. Es ist ein ganz neuer Wagen, es ist schade um ihn.«
»Ihre Firma wird das Geld schon kriegen«, sagt Pagel.
»Es ist überhaupt schade um den Wagen!« meint der Chauffeur ärgerlich. »Wie der eingesaut ist! – Und ich habe den ganzen Tag auch nichts Rechtes zu essen gekriegt, immer draußen in der Nässe und Kälte …«
»Ich werde mit der gnädigen Frau sprechen«, sagt Pagel bereitwillig. »Bleiben Sie bitte solange bei Herrn Rittmeister.«
Er spricht mit Frau von Prackwitz. Dann läßt er den Chauffeur, die Frauen, auch Lotte aus dem Haus. Alle haben es eilig, aus der Villa fortzugehen, die vom Unheil heimgesucht ist.
Wolfgang Pagel selbst kehrt auf seinen Wachtposten bei dem Rittmeister von Prackwitz zurück. Der Mann ist sehr krank, das ist nicht schwer zu sehen, aber nicht nur sein Körper ist krank, vergiftet vom Alkohol, noch kränker ist seine Seele. Das Selbstbewußtsein des Mannes ist tödlich verletzt worden. Er windet sich qualvoll unter den düsteren Gedanken, die ihn heimsuchen.
Alle seine Fehler fallen ihm ein – dann möchte er die Augen schließen.
Aber das hilft nichts. Er setzt sich auf im Bett, er starrt den jungen Mann im Sessel am Bettrand an; er möchte wissen, ob der auch weiß, ob alle wissen, wie jämmerlich, wie klein, wie hohl er ist, war, sein wird …
Aber alles verwirrt ihn, es ist eine Jagd, die Lampe brennt so trüb, es sind Bilder, Schatten von Bildern … Warum ist die Nacht so still –? Warum atmet er allein, leidet er allein –!?
»Wo ist meine Frau? Wo ist Weio?! Kümmert sich denn keiner um mich? Soll ich denn ganz allein und verlassen sterben? O Gott!«
»Es ist tiefe Nacht, Herr Rittmeister. Die gnädige Frau und das gnädige Fräulein schlafen. Versuchen Sie auch ein bißchen zu ruhen.«
Der Kranke legt sich zurück im Bett, er scheint nachzudenken, beruhigt durch die Auskunft. Dann setzt er sich wieder auf, er fragt, mit einem listigen Ton in der Stimme: »Nicht wahr, Sie sind doch der junge Pagel?«
»Jawohl, Herr Rittmeister.«
»Und Sie sind doch mein Angestellter?«
»Jawohl, Herr Rittmeister.«
»Und Sie haben zu tun, was ich Ihnen befehle?«
»Jawohl, Herr Rittmeister.«
»Dann –«, er macht nun doch eine Pause, aber dann sagt er erst recht herrisch: »Dann holen Sie mir sofort eine Flasche Kognak herauf.«
Jawohl, Pagel, Wolfgang, hier hilft keine Liebenswürdigkeit, nicht Nachgeben, noch Fortsehen – der Rittmeister sieht dich gespannt, fast haßerfüllt an. Er will seinen Kognak haben, und wenn du nicht hart bist, wird er ihn bekommen!
»Sie sind krank, Herr Rittmeister, Sie müssen erst schlafen. Morgen früh sollen Sie Kognak haben.«
»Ich will ihn jetzt haben. Ich befehle es Ihnen!«
»Es ist nicht möglich, Herr Rittmeister. Die gnädige Frau hat es verboten.«
»Meine Frau hat mir gar nichts zu verbieten! Holen Sie jetzt den Kognak, oder –!«
Die beiden sehen einander an.
Ah, wie die Welt nackt geworden ist, wie der Flitter der Redensarten abfiel, der holde Dunst der Phrasen sich verflüchtigte! Hinein in das Familienleben, die Schminke ist abgewischt, und der hohle Totenkopf des Egoismus grinst dich mit seinen schwarzen Augenhöhlen an. Wie ein Gespenst sieht Pagel sich plötzlich neben Peter im Zimmer der Pottmadamm liegen, die Vorhänge hängen in der stickigen Luft gelblichgrau. Wie ein Symbol scheint ihm das jetzt, nein, wie die Vorstufe einer schwereren Probe. Damals noch hatte er sein Köfferchen nehmen und sich feige drücken können, hier gab es das nicht mehr! Vorbei die holde Lüge, die uns so gut schmeckt, vorübergeweht die zärtliche Gestalt der Liebe – Mensch gegen Mensch, Wolf unter Wölfen, mußt du dich entscheiden, wenn du dich vor dir selbst behaupten willst –!
»Nein, Herr Rittmeister. Es tut mir leid, aber …«
»Dann hole ich mir meinen Kognak alleine! Sie sind entlassen!«
Mit einem Satz ist der Rittmeister aus dem Bett. Nie hätte Wolf gedacht, daß der kranke Mann, dessen Glieder sie eben noch zu zweien nur mit Mühe aus der Wanne gehoben haben, solche Beweglichkeit, solche Kraft entwickeln könnte.
»Herr Rittmeister!« bittet Wolf.
»Sie werden es doch nicht wagen, Ihren Arbeitgeber anzurühren, wie?!« schreit der Rittmeister mit verzerrtem Gesicht und läuft im Pyjama gegen die Tür.
Es ist der entscheidende Moment. »Doch!« antwortet Pagel und faßt den Rittmeister um.
»Lassen Sie mich los!« schreit der Rittmeister. Die Wut, die nie erlebte Entwürdigung, die Sucht nach Alkohol geben ihm Kräfte.
»Achim, Achim! Was soll das?« ruft es von der Tür her. Der Lärm des Kampfes, das Geschrei haben die gnädige Frau herübergerufen, von dem Krankenbett der Tochter, das sie doch nicht verlassen will.
»Du! Du!« schreit der Rittmeister voller Wut und strebt nur um so stärker, sich aus Pagels Armen loszureißen. »Du hast diesen jungen Bengel gegen mich aufgehetzt! Was heißt das, daß ich keinen Kognak haben soll?! Bin ich hier der Herr oder du?! Ich …«
Er strebt aus Pagels Armen, als wollte er sich auf seine Frau stürzen.
»Bringen Sie ihn ins Bett, Herr Pagel!« befiehlt Frau Eva zornig. »Genieren Sie sich nicht, fassen Sie ordentlich zu. Achim!« mahnt sie, »Achim, drüben liegt Violet krank, nimm dich zusammen, sei einmal ein Mann! Sie ist so krank …«
»Ich gehe ja schon«, sagt der Rittmeister, plötzlich fast weinerlich. »Wenn ich krank bin, machst du gar kein Aufhebens. Ich will nur einen Kognak trinken, einen einzigen, kleinen Kognak …«
»Geben Sie ihm noch ein Veronal. Geben Sie ihm zwei Veronal – daß er endlich Ruhe hält, Herr Pagel«, ruft Frau Eva verzweifelt aus. »Ich muß zurück zu Violet.«
Und von ihrer Angst getrieben, eilt sie zurück in das Zimmer der Tochter. Als sie über den Gang läuft, klopft ihr Herz so wild – was wird sie jetzt sehen –?!
Aber – und das Herz geht ruhiger – sie sieht nichts anderes, als was sie verließ: die Tochter liegt ruhig schlafend im Bett, sehr weiß, das Gesicht eine Spur gedunsen, mit einem Ausdruck, als grüble sie.
Frau Eva faßt nach dem Puls, er schlägt langsam, aber kräftig spürbar. Keine Angst – Violet wird erwachen, man wird mit ihr sprechen oder nicht sprechen, ganz wie es die Stunde verlangt. Sie wird wieder gesund werden, man wird fortgehen von Neulohe, in einem stillen Winkel leben. Der Vater wird mit sich reden lassen wegen des Geldes. Keiner braucht zu verzweifeln wegen einer Niederlage, auch Violet nicht. Eigentlich besteht das Leben, genau betrachtet, aus lauter Niederlagen. Aber der Mensch lebt doch weiter und freut sich am Leben, der Mensch, dieses zäheste, dieses widerstandsfähigste aller Geschöpfe …
Frau Eva von Prackwitz, geborene von Teschow, sieht hoch, es ist fünf Minuten nach zwölf Uhr. Die entscheidende, die verhängnisvolle Stunde hat begonnen.
Sie fröstelt, jawohl, es herrscht eine drückende Hitze im Zimmer. Sie öffnet das Fenster, leise geht in der dunklen Nacht der Wind, leise fallen die Tropfen von den Bäumen. Sie sieht hinaus, aber sie erkennt nichts, nur Schatten im Schatten. Und aus dieser Schattenwelt soll die Gefahr kommen, die ihre Menschwelt bedroht –?!
Sie fröstelt wieder. Was tue ich denn? denkt sie erschrocken. Ich friere, und ich mache das Fenster auf? Ich bin ja auch ganz verwirrt! Es ist alles zuviel für einen Menschen …
Und sie legt sorgfältig die Halter zwischen die Fensterflügel, damit sie vom Winde nicht klappern.
In diesem Augenblick schlägt laut gellend unten im Haus die elektrische Klingel an.