10

Von der Landsberger Straße biegt er in die Gollnowstraße ein. Rechts bleibt die Weinstraße, links die Landwehrstraße. Nun kommt rechts die Fliederstraße, die mit ihren paar Häusern aber nur ein Sträßchen ist, an ihrer Ecke liegt eine »Groß-Destillation«, in der Pagel noch nie war.

Langsam und bedächtig steigt er die Stufen empor, geht an die Theke und verlangt einen Wermut. Der Wermut kostet siebzigtausend Mark, er schmeckt fuselig. Pagel bezahlt, er geht zur Tür, da fällt ihm ein, daß er keine Zigaretten mehr hat. Er kehrt um und verlangt ein Päckchen Lucky Strike. Aber Lucky Strike haben sie nicht, dafür haben sie Camel. Auch nicht schlecht, denkt Pagel, nimmt Camel, brennt sich eine an und verlangt noch einen Wermut.

Eine Weile steht er vor der Theke, es fröstelt ihn ein wenig in seiner nassen Kleidung, der fuselige Wermut hilft auch nicht dagegen. So nimmt er noch einen doppelten Kognak, zwei Stock hoch, aber der schmeckt scheußlich nach Sprit. Doch steigt jetzt eine leichte Wärme aus seinem Magen auf und verbreitet sich langsam in ihm. Es ist nur eine physische Wärme, die nicht zu ihm gehört, sie vermittelt nicht jenes Gefühl gelassenen Glücks, das Petra nach dem Verzehren des Brotkantens empfand.

Pagel steht lässig da, er sieht gleichgültig durch den riechenden Schankraum mit seinen randalierenden Gestalten. Eine grenzenlose Verzweiflung hat ihn plötzlich erfaßt; er ist überzeugt, daß schon jetzt, ehe er noch einen Schritt für Petra getan hat, alles mißglückt ist. Es macht nicht mehr das geringste aus, daß dies sorgsam behütete Geld nun doch angerissen wurde. Ja, er möchte eher, daß es dahinflösse, sich verstreute – möglichst, ohne daß er etwas dabei tun muß –, denn was kann Geld helfen? Aber wenn Geld nicht hilft – was hilft dann?! Ach, muß denn überhaupt immer geholfen werden?! Es ist ja doch alles ganz egal!

So steht er da. Am liebsten stände er immer so weiter da; jeder Schritt, den er tut, bringt ihn einer Entscheidung näher, die er nicht fassen mag, die er hinauszögern will bis aufs letzte. Ihm fällt ein, daß er eigentlich den ganzen Tag nichts anderes getan hat als hinauszögern. Wenn er erst Geld hatte, dann wollte er etwas tun, dann würde er losgehen, so groß –! Nun hatte er Geld – und stand geruhsam abwartend an einer Theke.

Ein junger Bengel, die Schiebermütze schief auf einem Ohr, tritt an ihn heran, schnuppert nach dem Rauch und bettelt um eine Zigarette: »Schenk mir doch eine, ich bin wild auf die süßen Engländer. Mensch, sei doch nicht so, gib mir wenigstens deine Kippe!«

Wolfgang schüttelt leise lächelnd ohne ein Wort den Kopf, das Gesicht des Burschen wird plötzlich finster. Er dreht sich um und geht. Wolfgang faßt in die Tasche, holt in der Tasche aus dem Päckchen eine Zigarette, ruft scharf: »Fang!« und wirft die Zigarette dem Burschen zu. Er fängt sie, nickt kurz – und sofort sind drei oder vier Bengel um Pagel und betteln auch um Zigaretten. Er zahlt rasch an der Theke, sieht die Blicke der Jungen auf seinem dicken Geldpacken und rempelt den einen, der sich an ihn drängen will, beim Hinausgehen kräftig mit der Schulter.

Er hat nur noch drei Minuten bis zu seiner Wohnung, und diesmal braucht er wirklich nur drei Minuten für den Weg. Er klingelt bei der Pottmadamm. Wie die Klingel rasselt, spürt er plötzlich, daß die kleine Belebung, die aus dem Zusammenstoß in der Destille aufgestiegen war, schon wieder verflogen ist – die grenzenlose Traurigkeit hat ihn von neuem erfaßt. Sie scheint sich schwer und lastend in ihm auszubreiten, wie die dunkle Gewitterwolke heute nachmittag am Himmel.

Er hört den widerlichen Schlurfeschritt der Pottmadamm auf dem Flur, ihr schleimiges, fettes Hüsteln. Diese Geräusche verändern schon wieder die Wolke Trauer in ihm, etwas zieht sich zusammen. Er spürt, er wird dieser Frau noch etwas tun, er wird sie strafen für das, was geschehen – gleichgültig, was immer geschah.

Die Tür öffnet sich vorsichtig nur einen Spalt breit, aber von einem Fußstoß Pagels fliegt sie ganz auf, groß steht er vor der erschreckten Frau.

»Jotte doch, Herr Pajel, wat haben Se mir erschreckt!« jammert sie.

Er steht ohne Laut vor ihr, vielleicht wartet er darauf, daß sie etwas sagt, daß sie anfängt von dem, was geschehen. Aber er hat ihr wohl wirklich einen Schreck eingejagt, sie bringt kein Wort heraus, sie streicht nur immer mit den Händen über die Schürze.

Plötzlich – Pagel selber hat die Sekunde vorher nicht gewußt, daß er dies tun würde – tritt er hinein in den dunklen Flur, rempelt wie vorhin in der Destille mit der Schulter die aufkreischende Frau und geht ohne Zögern in den dunklen Flur hinein, auf sein Zimmer zu.

Frau Thumann, die aufkreischte, stürzt hinter ihm drein. »Herr Pajel! Herr Pajel! Bitte doch bloß uff eenen Momang!« flüstert sie aufgeregt.

»Nun?« fragt er und bleibt mit rascher Wendung so plötzlich vor ihr stehen, daß sie von neuem erschrickt.

»Jott, wat ham Se denn bloß, Herr Pajel?! Ick versteh Se nich!« Und rasch, da er wieder losgehen will: »Es is bloß, ick habe Ihre Bude wieda vamietet. An eene Freundin von de Ida. Sie is jetzt drin, nich alleene. Se vastehn schon! – Wat kieken Se mir so an?! Se wollen mir wohl angst machen?! Det ham Se nich nötich, ick hab schon so Angst genug! Wenn bloß Willem kommen wollte! Wo Se doch jar keene Sachen drin haben und Ihre Kleene von de Polente abjeholt is …«

Sie ist wieder mal in Gang gekommen, die Pottmadamm. Aber Pagel hört nicht mehr. Er stößt die Tür seines Zimmers auf – wenn sie abgeschlossen gewesen wäre, hätte er sie aufgebrochen, aber sie ist es nicht – und tritt ins Zimmer.

Auf dem Bett sitzt halbnackt ein Frauenzimmer, eine Nutte natürlich – es ist dasselbe schmale Eisenbett, in dem er an diesem Morgen noch mit Petra lag. Im Zimmer steht ein Jüngling, der gerade seine Hosenträger abknöpft.

»Raus!« sagt Pagel zu den Zusammenfahrenden.

Und die Thumannsche jammernd unter der Tür: »Herr Pajel, ick muß doch sehr bitten, jetzt platzt der Krajen aber! Ick rufe die Polizei. Det is mein Zimmer, und wo Se nich bezahlt haben, ick brauche meinen Zaster ooch. – Nee, Lotte, red nischt, der Mann is ja varückt, dem ham se seine Kleene mit uff de Wache genommen, davon hat sein Vogel heute Ausgang …«

»Maul halten!« sagt Pagel scharf und stößt den Jüngling mit der Faust ins Kreuz. »Wird’s bald?! Raus hier aus meinem Zimmer! Aber dalli!«

»Ich bitte doch sehr …«, sagt der Jüngling und pustet sich auf, aber nur zaghaft.

»Ich …«, sagt Pagel leise, aber sehr deutlich, »ich bin grade in der Stimmung, Sie ganz elend zu verhauen. Wenn Sie nicht in einer Minute mit der Hure aus dem Zimmer sind …«

Plötzlich merkt er, daß er nicht mehr sprechen kann. Er zittert vor Wut am ganzen Leibe. Er hat zwar nie auch nur mit einem Gedanken daran gedacht, dieses verfluchte Dreckloch für sich zu reklamieren. Aber jetzt wäre es ihm recht, wenn dieser verdammte Ladenschwengel nur mit einem Wort widerspräche –!

Aber das wagt der nicht. Ohne ein Wort, mit einer feigen Hast knöpft er an den Trägern, angelt nach Weste und Jackett …

An der Tür jammert die Pottmadamm mutlos: »Herr Pajel! Herr Pajel!! Ick vastehe nich! Sie als jebüldeter Mensch! Wo wa imma so gut miteinanda auskamen! Wo ick heute mittach noch dem Mächen ’ne Schnecke und een Pott Kaffee geben wollte, bloß, daß de Ida es nicht jelitten hat … Von de Ida is übahaupt allens jekommen, ick habe doch nie nischt gegen Sie jehabt! – Jotte doch – nu sticht er mich noch die Wohnung an!«

Pagel hat, ohne auf das Geschwätz zu achten, am Fenster gestanden. Aufmerksam, gedankenlos hat er zugeschaut, wie das Mädchen auf dem Bett sich in fliegender Hast die Bluse angezogen hat. Dann fiel ihm ein, daß er nicht mehr rauchte. Er nahm eine Zigarette, steckte sie an, betrachtete nachdenklich das brennende Streichholz in seiner Hand. Direkt daneben war die Gardine, die widerliche, gelbgraue Gardine, die er immer gehaßt hatte. Er führte das brennende Streichholz daran. Der gesäumte Rand bäumte sich, krümmte sich dann. Nun lief eine helle Flamme daraus hervor.

Die Thumannsche, das Mädchen schrien. Der Mann machte einen Schritt auf ihn zu, blieb wieder zögernd stehen.

»So!« sagte Pagel dann, knüllte die Gardine zusammen und löschte dadurch die Flamme. »Dies ist nämlich mein Zimmer. Was bekommen Sie, Frau Thumann? Ich bezahle bis zum Ersten. Hier …«

Er gab ihr Geld, irgendwas, ein paar Scheine, es kam nicht darauf an. Er war schon im Begriff, den Packen wieder in die Tasche zu stecken, als er den traurig-begehrlichen Blick des Mädchens darauf sah. Wenn du ahntest, dachte er, doch irgendwie von diesem Gedanken befriedigt, daß dies nur einer von sechs Geldpacken ist – und der wertloseste …

»Da!« sagte er zu dem Mädchen und hielt ihn ihr hin.

Sie sah das Geld an, dann ihn. Er verstand, daß sie ihm nicht glaubte. »Also nicht!« sagte er gleichmütig und steckte das Geld wieder in die Tasche. »Schön dumm bist du. Hättest du zugefaßt, hättest du’s gehabt. Jetzt nicht mehr.«

Er geht wieder gegen die Tür.

»Ich gehe jetzt auf die Polizei, Frau Thumann«, sagt er. »In einer Stunde bin ich mit meiner Frau wieder hier. Sorgen Sie, daß was zum Abendessen da ist.«

»Wird jemacht, Herr Pajel«, sagt sie. »Aber die Jardine, die müssen Se noch bezahlen. – Vor ’ner Viertelstunde war ooch eener von de Polente da nach Sie. Ick habe ihm azählt, Se sind abjehauen …«

»Gut, gut«, sagt Pagel. »Ich gehe jetzt hin.«

»Und, Herr Pajel«, eilt sie hinter ihm drein, »nehmen Se’s mir nich für übel, Se hören’s dann ja doch uff de Wache. Ick habe nur een Wort jesacht, daß Se noch een bißken in Rückstand sind, gleich mußt ick wat unterschreiben. Aber ick nehme es zurück, Herr Pajel, ick habe jleich nich jewollt. Ick jeh sofort uff de Wache und nehme es zurück, ick habe det doch nicht jewollt von wejen Strafantrach wejen Betruch, det hat der jesacht von der Polente. Jleich bin ick ooch da, nur erst det Mächen aus de Wohnung. So een fieses Mächen, die bringt doch nie de Miete, und wat det for een Kavalier is, ham Se det jesehen, Herr Pajel, mit det Brettchen vor de Brust an eenem Knopp …«

Pagel steigt schon die Treppe hinunter; den Letzten beißen die Hunde, und so ist es auch ganz richtig, daß Frau Thumann Strafantrag wegen Betruges gestellt hat. Ihn trifft es ja nicht, es ist bloß wegen Petra …

Er dreht wieder um, steigt noch einmal hinauf und sagt zur Pottmadamm, die auf dem Treppenabsatz erst einmal einer Nachbarin von den Ereignissen berichtet: »Wenn Sie nicht in zwanzig Minuten auf der Wache sind, dann donnert’s, Frau Thumann!«

 

Der gelbliche Sekretär auf dem Polizeibüro hat einen schlechten Tag. Es ist richtig ein Gallenanfall geworden, wie er schon am Morgen beim Aufstehen fürchtete; der dumpfe Druck in der Gallengegend, eine leise Übelkeit hatten ihn gewarnt. Er weiß recht gut, und der Arzt hat es ihm auch oft genug gesagt, er müßte sich krank melden, eine Kur gebrauchen. Aber welcher Verheiratete kann heute seine Familie den der Entwertung nachhinkenden Krankengeldern ausliefern?

Nun hat ihm die Aufregung über den Fall Gubalke eine richtige Gallenkolik gebracht. Er hat kaum noch die Papiere für den Siebenuhrtransport nach dem Alex fertigmachen können, dann hat er gekrümmt auf der Toilette gesessen, während sie draußen schon wieder nach ihm rufen. Er hätte brüllen können vor Schmerzen. Natürlich kann man nach Haus gehen, wenn man krank ist, kein Reviervorsteher, und dieser zumal nicht, wird etwas dagegen sagen, aber man kann seinen Dienst nicht so plötzlich im Stich lassen, grade jetzt nicht. Nun zur Stunde wirft der Geschäftsschluß die Tausende von Angestellten und Kaufleuten auf die Straße, an tausend Lokalen leuchten die Lichtreklamen auf, der Taumel aus Amüsement, Fieber und Angst reißt die Menschen fort, und die Hauptarbeit der Polizei beginnt. Er wird es schon bis zu seiner Ablösung um zehn aushalten.

Er sitzt nun wieder hinter seinem Tisch. Besorgt merkt er, daß der Gallenanfall mit seinen Schmerzen zwar aufgehört hat, daß aber statt dessen ein Zustand äußerster Gereiztheit in ihm zurückgeblieben ist. Es ärgert ihn alles, und fast mit Haß schaut er in das bleiche, schwammige Gesicht eines Straßenhändlers, der ohne Gewerbeschein aus einem Handkoffer Toilettenseifen dunkler Herkunft verkauft und Krakeel angefangen hat, als der Schutzmann ihm das verwies. Ich muß mich zusammennehmen, denkt der Sekretär. Ich darf mich nicht gehenlassen, so darf ich ihn nicht anschauen …

»Es ist verboten, ohne Wandergewerbeschein Waren auf der Straße feilzubieten …«, sagt er zum zehnten Male, möglichst sanft.

»Bei euch ist alles verboten!« schreit der Händler. »Alles macht ihr einem kaputt! Bei euch ist nur erlaubt, vor Hunger zu krepieren!«

»Ich mache ja die Gesetze nicht!« sagt der Sekretär.

»Aber du läßt dich dafür bezahlen, daß du die Scheißgesetze durchführst, Speckjäger, verdammter!« schreit der Mann.

Hinter dem Mann halblinks steht ein junger, gut aussehender Bursche in einer feldgrauen Uniform. Der Bursche hat ein offenes, recht intelligentes Gesicht. Er gibt dem Sekretär die Kraft, ohne Ausbruch solche Beschimpfungen zu ertragen. »Wo haben Sie die Seife her?« fragt der Sekretär.

»Riech deinen eigenen Dreck auf!« schreit der Händler los. »Müßt ihr Brüder euch in alles mischen?! Ihr wollt unsereinen bloß ruinieren, ihr Leichenwürmer! Wenn wir alle krepiert sind, seid ihr fett!«

Er schreit noch weiter Beschimpfungen, während ihn ein Schupo an den Schultern gegen den Zellengang schiebt. Der Sekretär schlägt trostlos den Deckel des Seifenkoffers zu und stellt ihn auf den Tisch. »Bitte!« sagt er zu dem jungen Mann in der feldgrauen Uniform.

Der junge Mann hat mit gerunzelter Stirn und vorgeschobenem Kinn dem Abtransport des tobenden Händlers zugesehen. Jetzt merkt der Sekretär, daß dies Gesicht doch nicht so offen ist, wie er dachte, es liegt Trotz darin und ein verbohrter Eigensinn. Auch kennt der Sekretär diesen krampfigen Gesichtsausdruck; es haben ihn manche Männer, wenn sie einen Uniformierten Gewalt gegen einen Zivilisten brauchen sehen. Solche Männer – die geborenen Löcker wider den Stachel – sehen dann rot, ganz besonders, wenn sie ein wenig getrunken haben.

Aber dieser junge Bursche hat sich recht gut in der Gewalt. Fast mit einem Aufatmen wendet er den Blick von dem Abtransport fort, sobald die Eisentür zu dem hinteren Zellengang wieder geschlossen ist. Er ruckt in dem etwas zu engen Waffenrock mit der einen Schulter, geht an den Tisch und sagt ein wenig herausfordernd, eine Spur trotzig, aber vollkommen anständig: »Ich heiße Pagel. Wolfgang Pagel.«

Der Sekretär wartet, aber weiter kommt nichts. »Ja«, sagt der Sekretär dann, »und Sie wünschen?«

»Ich werde hier wohl erwartet«, antwortet der junge Mann fast ärgerlich. »Pagel, Pagel aus der Georgenkirchstraße.«

»Ach so«, sagt der Sekretär. »Ja, richtig. Wir haben einen Mann zu Ihnen geschickt. Wir hätten Sie gerne gesprochen, Herr Pagel.«

»Und Ihr Mann hat meine Wirtin genötigt, einen Strafantrag gegen mich zu unterschreiben!«

»Nicht genötigt. Kaum genötigt«, verbessert der Sekretär. Und in dem festen Entschluß, mit dem jungen Mann im guten auszukommen: »Wir haben kein besonderes Interesse an Strafanträgen. Wir ersticken.«

»Trotzdem haben Sie vollkommen grundlos meine Frau verhaftet«, sagt der junge Mann heftig.

»Nicht Ihre Frau«, verbessert der Sekretär wieder. »Ein lediges Mädchen – Petra Ledig, nicht wahr?«

»Wir wollten heute mittag heiraten«, sagt Pagel und wird ein wenig rot. »Unser Aufgebot hängt auf dem Standesamt.«

»Die Festnahme erfolgte erst heute nachmittag, nicht wahr? Und mittags haben Sie also nicht geheiratet?«

»Nein«, sagte Pagel. »Aber es wird rasch nachgeholt. Ich hatte heute vormittag nur kein Geld.«

»Ich verstehe«, sagte der Sekretär langsam. Aber sein Gallenleiden brachte ihn doch dazu, noch zu sagen: »Also doch ein lediges Mädchen, nicht wahr?«

Er schwieg, sah auf den grünen, tintenbefleckten Filz vor sich. Dann griff er nach dem Papierstoß links, holte ein Blatt hervor und sah darauf. Er vermied es, den jungen Mann anzusehen, konnte es nun aber doch nicht lassen, wiederum zu sagen: »Und auch nicht grundlos festgenommen. Nein.«

»Wenn Sie die Betrugsanzeige der Wirtin meinen – ich habe eben die Rechnung bezahlt. Die Wirtin wird innerhalb zehn Minuten hier sein und den Strafantrag zurücknehmen.«

»Heute abend haben Sie also Geld«, lautete die überraschende Antwort des Sekretärs.

Pagel hatte Lust, diesen gallengelben Mann zu fragen, was ihn das anginge, aber er ließ es. Statt dessen fragte er: »Ist der Strafantrag zurückgenommen, steht der Entlassung von Fräulein Ledig nichts mehr im Wege, nicht wahr?«

»Ich glaube, doch«, sagte der Sekretär.

Er war sehr müde, all dieser Dinge müde, und vor allem fürchtete er sich vor Streit. Er hätte gerne in seinem Bette gelegen, die Wärmflasche auf dem Bauch; seine Frau würde ihm die heutige Romanfortsetzung aus der Zeitung vorlesen. Statt dessen würde es unbedingt Streit mit diesem jungen Manne geben, der erregt war; seine Stimme wurde immer schneidiger. Stärker aber als das Ruhebedürfnis des kranken Sekretärs würde die Gereiztheit sein, die ununterbrochen aus seiner Galle sickerte und ihm das Blut vergiftete.

Aber noch hielt er an sich; von all seinen Argumenten wählte er das schwächste, um diesen Herrn Pagel nicht noch mehr aufzubringen: »Als sie festgenommen wurde, war sie obdachlos und nur mit einem Herrenüberzieher bekleidet.« Er beobachtete die Wirkung seiner Worte auf Pagels Gesicht. Er erklärte: »Erregung öffentlichen Ärgernisses.«

Der junge Mann war sehr rot geworden. Er sagte eilig: »Das Zimmer ist bereits wieder gemietet und bezahlt. So hat sie ein Obdach. – Und was ihre Kleider angeht, so kann ich in einer halben, in einer Viertelstunde ihr so viel Kleider und Wäsche kaufen, wie gewünscht wird.«

»Sie haben also auch dafür Geld? Ziemlich viel Geld?«

Der Sekretär war Kriminalist genug, alles, was ein Vernommener nebenher zugab, sofort festzunageln.

»Genug! Dafür genug!« sagte Wolfgang heftig. »Sie wird dann also entlassen?«

»Die Läden sind jetzt geschlossen«, antwortete der Sekretär.

»Egal!« rief Pagel. »Ich beschaffe die Kleider trotzdem!« Und fast bittend: »Sie entlassen Fräulein Ledig?«

»Wie gesagt, Herr Pagel«, antwortete der Sekretär, »wir hätten Sie auch unabhängig von dieser Geschichte gerne einmal gesprochen. Darum haben wir ja auch einen Beamten bei Ihnen vorbeigeschickt.«

Der Sekretär flüsterte noch einen Augenblick mit einer Uniform. Die Uniform nickte kurz und verschwand.

»Aber Sie stehen noch immer, bitte, nehmen Sie doch einen Stuhl.«

»Ich will keinen Stuhl! Ich verlange, daß meine Freundin sofort entlassen wird!!« schrie Pagel.

Aber er riß sich im gleichen Augenblick zusammen.

»Entschuldigen Sie«, sagte er leiser. »Das wird nicht wieder vorkommen. Ich bin sehr in Sorge. Fräulein Ledig ist ein sehr gutes Mädchen. An allem, was man ihr vorwerfen kann, bin ich allein schuld. Ich habe die Miete nicht bezahlt, ich habe ihre Kleider verkauft. Bitte, geben Sie sie frei!«

»Bitte, setzen Sie sich«, antwortete der Sekretär.

Pagel wollte aufbrausen, besann sich und setzte sich.

Es gibt eine Art von Vernehmung durch Kriminalisten, die fast alle Menschen, und gewiß jeden Unerfahrenen, völlig zermürbt. Sie ist fern jeder Milde, aller Menschlichkeit. Sie kann auch nicht anders sein. Der Vernehmende, der in den meisten Fällen eine Tatsache entdecken soll, die der Vernommene um keinen Preis zugeben will, muß den Befragten um Sinn und Verstand bringen, daß ihm diese Tatsache wider seinen Willen entschlüpft.

Der Sekretär hatte einen Mann vor sich, der einer vagen Beschuldigung nach sein Geld durch gewerbsmäßiges Falschspiel verdiente. Der Mann würde die Richtigkeit dieser Beschuldigung in ruhigem, besonnenem Zustande nie zugeben. Um ihn unbesonnen zu machen, mußte man ihn reizen. Oft ist es schwer, etwas zu finden, was einen Beschuldigten so reizt, daß er darüber die Besinnung verliert. Hier hatte der Sekretär sofort gefunden, was er brauchte: Dieser Mann schien in wirklicher, unverlogener Sorge um sein Mädchen zu sein. Das mußte der Hebel werden, mit dem die Tür zu einem Geständnis zu öffnen war. Aber ein solcher Hebel war nicht mit Zartheit zu benutzen; man befreit nicht die Bauern aus dem Osten von einem Kümmelblättchenspieler durch sanfte Rücksichtnahme. Man mußte diesen jungen Mann besonders kräftig anfassen, er hatte Selbstbeherrschung, er hatte eben nicht getobt, er hatte sich auf den Stuhl gesetzt.

»Ich müßte Sie nach ein paar Dingen fragen«, sagte der Sekretär.

»Gerne«, antwortete Pagel. »Nach was Sie wollen. Wenn Sie mir nur zuerst bestätigen würden, daß Fräulein Ledig heute abend noch entlassen wird.«

»Darüber können wir uns noch unterhalten«, sagte der Sekretär.

»Sagen Sie es mir doch bitte gleich«, bat Pagel. »Ich bin unruhig. Seien Sie«, sprach er, »seien Sie nicht unmenschlich. Quälen Sie mich nicht. Sagen Sie ja.«

»Ich bin nicht unmenschlich«, antwortete der Sekretär. »Ich bin Beamter.«

Pagel lehnte sich entmutigt, gereizt zurück.

Durch die Tür kam ein großer, schwerer, uniformierter Mann, er hatte einen grauschwarzen Wachtmeisterschnurrbart und sah traurig aus, mit dicken, geschwollenen Tränensäcken unter großen Augen. Der Mann trat hinter den Stuhl des Sekretärs, er nahm seine Zigarre aus dem Mund und fragte: »Ist er das?«

Der Sekretär legte den Kopf zurück, sah zu seinem Vorgesetzten auf und sagte, recht vernehmlich flüsternd: »Das ist er!«

Der Reviervorsteher nickte langsam, sah Pagel lange prüfend an und sagte: »Fahren Sie fort!« Er rauchte weiter.

»Nun zu unsern Fragen …«, fing der Sekretär an.

Aber Pagel unterbrach ihn. »Sie gestatten, daß ich mir eine Zigarette anbrenne?«

Er hatte das Päckchen schon in der Hand.

Der Sekretär klopfte mit der Hand auf den Tisch. »In den Diensträumen ist das Rauchen untersagt – für das Publikum.«

Der Reviervorsteher zog kräftig an seiner Zigarre. Ärgerlich, nein, wütend steckte Pagel seine Zigaretten wieder ein.

»Nun zu unsern Fragen …«, fing der Sekretär wieder an.

»Einen Augenblick«, unterbrach der Reviervorsteher und legte seine große Hand dem Sekretär auf die Schulter. »Vernehmen Sie den Mann in seiner eigenen Sache oder in der von dem Mädchen?«

»Ich habe hier also auch eine eigene Sache?« fragte Pagel verwundert.

»Das werden wir dann sehen«, sagte der Sekretär. Und zu seinem Vorgesetzten, wieder in diesem albernen, vernehmlichen Flüsterton: »In seiner eigenen Sache.«

Die treiben ja hier Schindluder mit dir, dachte Pagel erbittert. Und sofort: Aber ich lasse mich nicht reizen. Die Hauptsache ist, daß ich Petra heute abend noch herausbekomme. Und wieder: Mama hatte vielleicht doch recht, ich müßte einen Anwalt hier haben. Dann würden sich die Brüder mehr in acht nehmen.

Er saß aufmerksam und äußerlich ruhig da. Aber in ihm war es unruhig. Seit er in jene Destille gegangen war, verließ ihn nicht mehr das Gefühl von trauriger Verzweiflung, als sei doch alles umsonst.

»Nun zu unsern Fragen …«, hörte er den beharrlichen Sekretär wieder sagen.

Und jetzt ging es wirklich los.

»Sie heißen?«

Pagel sagte es.

»Geboren wann?«

Pagel sagte es.

»Wo?«

Er sagte es.

»Beruf?«

Er war ohne Beruf.

»Wohnung?«

Pagel sagte es.

»Haben Sie Ausweispapiere?«

Pagel hatte sie.

»Zeigen Sie mal her!«

Pagel zeigte sie her.

Der Sekretär sah sie an. Der Reviervorsteher sah sie auch an. Der Reviervorsteher zeigte dem Sekretär etwas, und der Sekretär nickte. Er gab Pagel die Papiere nicht zurück, sondern legte sie vor sich auf den Tisch.

»So«, sagte der Sekretär, lehnte sich zurück und sah Pagel an.

»Nun zu unsern Fragen …«, sagte Pagel.

»Wie?!« fragte der Sekretär.

»Ich sagte: nun zu unsern Fragen …«, antwortete Pagel höflich.

»Richtig«, sagte der Sekretär. »Nun zu unsern Fragen …«

Es war nicht festzustellen, ob Pagels Ironie Eindruck auf die beiden Beamten gemacht hatte.

»Ihre Mutter lebt in Berlin?«

»Wie aus den Papieren ersichtlich«, antwortete Pagel. Und dachte: Dumm wollen sie mich machen. Oder sie sind dumm. Übrigens: dumm sind sie bestimmt!

»Sie leben nicht bei Ihrer Mutter?«

»Meine Anmeldung lautet auf die Georgenkirchstraße.«

»Und Sie leben nicht bei Ihrer Mutter?«

»Sondern in der Georgenkirchstraße.«

»Wohnt es sich in der Tannenstraße nicht angenehmer?«

»Das ist Geschmackssache.«

»Sind Sie etwa verfeindet mit Ihrer Mutter?«

»Kaum.« (Eine ganze Lüge wurde Pagel schwer, dafür war diese Sache nun doch nicht wichtig genug. Aber die Wahrheit zu sagen war unmöglich: die Wahrheit hätte eine nicht enden wollende Kette von Fragen heraufbeschworen.)

»Ihre Mutter wünscht wohl nicht, daß Sie bei ihr wohnen?«

»Ich wohne mit meiner Freundin zusammen.«

»Und Ihre Mutter wünscht das nicht?«

»Es ist meine Freundin.«

»Also nicht die Ihrer Mutter? Ihre Mutter mißbilligt also die beabsichtigte Heirat?«

Der Sekretär sah den Reviervorsteher, der Reviervorsteher den Sekretär an.

Wie stolz sie sind, daß sie das rausgebracht haben, dachte Pagel. Aber sie sind nicht dumm. Nein, gar nicht. Ich möchte wissen, wie sie es anfangen, aber sie kriegen es raus. Ich muß besser aufpassen.

»Ihre Mutter hat Vermögen?« fing der Sekretär wieder an.

»Wer hat jetzt in der Inflation noch Vermögen?« fragte Pagel dagegen.

»Dann unterstützen Sie also Ihre Mutter?« fragte der Sekretär.

»Nein«, sagte Pagel ärgerlich.

»Sie hat also zu leben?«

»Sicher!«

»Und unterstützt vielleicht Sie?«

»Nein«, sagte Pagel wieder.

»Sie verdienen selbst Ihren Unterhalt?«

»Ja.«

»Und den Ihrer Freundin?«

»Auch.«

»Womit?«

Halt, halt! dachte Pagel. Die wollen mich fangen. Sie haben etwas läuten gehört. Es kann mir bestimmt nichts passieren, spielen wird nicht bestraft. Aber besser fange ich gar nicht davon an. Peter hat bestimmt nichts verraten.

»Ich verkaufe Sachen.«

»Was für Sachen verkaufen Sie denn?«

»Zum Beispiel die meiner Freundin.«

»An wen verkaufen Sie?«

»Zum Beispiel an den Pfandleiher Feld in der Gollnowstraße.«

»Und wenn nichts mehr zu verkaufen da ist?«

»Es ist immer noch was da.«

Der Beamte überlegte einen Augenblick, er sah zu dem Vorsteher auf. Der Vorsteher nickte leicht.

Der Sekretär nahm einen Bleistift, stellte ihn auf die Spitze, betrachtete ihn nachdenklich und ließ ihn umfallen. Leichthin fragte er: »Ihre Freundin verkauft nichts?«

»Nichts!«

»Sie verkauft bestimmt gar nichts?«

»Gar nichts!«

»Es ist Ihnen bekannt, daß man auch anderes verkaufen kann als grade Sachen?«

Was in aller Welt, dachte Pagel verblüfft, kann Peter verkauft haben, daß die so dämlich fragen?!

Laut sagte er: »Auch ich meinte mit Sachen nicht nur Kleider und so was.«

»Sondern zum Beispiel?«

»Bilder.«

»Bilder –?!«

»Jawohl, Bilder!«

»Was für Bilder denn in aller Welt?!«

»Zum Beispiel Ölbilder.«

»Ölbilder … Ja, sind Sie denn Maler?«

»Ich nicht – aber ich bin der Sohn eines Malers.«

»So«, sagte der Sekretär sehr unzufrieden. »Sie verkaufen also Ölbilder Ihres Vaters. Nun, davon werden wir später sprechen. Jetzt nur noch einmal die Bestätigung: Fräulein Ledig verkauft nichts?«

»Nichts. Alles, was verkauft wird, verkaufe ich.«

»Es könnte ja auch sein«, sagte der Sekretär, und seine Gallenschmerzen plagten ihn wieder sehr – dieser junge Bengel tat gar zu überlegen. »Es könnte ja auch sein, daß Fräulein Ledig irgend etwas hinter Ihrem Rücken verkaufte – ohne daß Sie es zu wissen brauchen?«

Pagel dachte nach. Er drängte alle Unruhe, alle dunkle Befürchtung, die sich immer wieder in ihm zusammenballten, zurück. Er gab zu: »Theoretisch wäre das möglich.«

»Und praktisch –?!«

»Praktisch nicht.« Er lächelte. »Wir besitzen nämlich nicht so sehr viel, ich würde das Fehlen auch der geringsten Kleinigkeit sofort merken.«

»So … so …«, sagte der Sekretär. Er sah zurück auf den Reviervorsteher, der Vorsteher erwiderte den Blick – Pagel war es so, als ob der Schatten eines Lächelns in den Augenwinkeln der beiden auftauchte. Seine Unruhe, sein Argwohn wurden immer stärker. Der Sekretär senkte die Lider: »Und wir waren uns ja darüber einig, daß man nicht nur Sachen, Bilder, greifbare Dinge verkaufen kann, sondern – auch anderes?«

Wieder die dunkle Drohung, kaum noch versteckt. Was in aller Welt konnte Petra verkauft haben?!

»Zum Beispiel –?« fragte Wolfgang böse. »Ich kann mir nämlich keine Vorstellung machen von den ungreifbaren Dingen, die meine Freundin scheinbar verkauft haben soll!«

»Zum Beispiel …«, fing der Sekretär an und sah wieder zum Reviervorsteher hoch.

Der Reviervorsteher schloß die Augen, er bewegte dabei das traurige Gesicht einmal von rechts nach links, verneinend. Pagel sah es deutlich. Der Sekretär lächelte. Es war noch nicht ganz soweit, aber es war beinahe soweit.

»Zum Beispiel – das werden wir gleich sehen«, sagte der Sekretär. »Zuerst noch einmal zurück zu unsern Fragen. Sie geben also zu, Ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von Bildern …«

»Meine Herren!« sagte Pagel, stand auf und stellte sich hinter seinen Stuhl. Er faßte die Lehne vor sich fest mit beiden Händen. Er sah auf diese Hände hinunter: die Knöchel traten weiß durch die gerötete Haut. »Meine Herren!« sagte er entschlossen. »Sie spielen aus irgendeinem Grunde, den ich nicht kenne, Katze und Maus mit mir. Ich mache das nicht länger mit! Wenn Fräulein Ledig, wie es scheint, irgendeine Dummheit begangen hat, so trage ich allein die Verantwortung. Ich habe mich nicht genug um sie gekümmert, ich habe ihr nie Geld gegeben, wohl nicht einmal genug zu essen. Ich stehe für alles ein. Und soweit Schaden entstanden ist, kann ich den Schaden ersetzen. Hier ist Geld …« Er riß an seinen Taschen, er warf die Pakete, eines nach dem andern, auf den Tisch. »Ich will bezahlen, was an Schaden geschehen ist, aber sagen Sie mir endlich, was geschehen ist …«

»Geld, viel Geld …«, sagte der Sekretär und sah den unsinnigen, immer höher werdenden Haufen böse an.

Der Reviervorsteher schloß die Augen, als wolle er davon wegsehen, als könne er den Anblick nicht ertragen.

»Hier sind noch zweihundertfünfzig Dollar!« rief Pagel, selber von neuem durch die Menge Geld überwältigt. Er warf den Packen als letzten auf den Tisch. »Ich kann mir keinen Schaden denken, der heute damit nicht zu bezahlen wäre. Ich will alles hergeben«, sagte er hartnäckig, »aber lassen Sie Fräulein Ledig heute abend noch frei!«

Auch er starrte auf das Geld, das eintönige Weiß oder Bräunlich der deutschen, auf die Regenbogenfarben der amerikanischen Scheine.

Durch die Tür hinein ließ der Uniformierte die Frau Thumann, die Pottmadamm. Ihre schlampige Fülle schlotterte in hängenden Gewändern. Der Rocksaum, abgetreten selbstverständlich, ging noch bis zu den Absätzen der Schuhe, in einer Zeit, da die Frauen die Röcke nicht mehr bis zum Knie trugen. Ihr graues, wabbliges, faltiges Gesicht zitterte, ihre Unterlippe hing und hatte das Innere nach außen gedreht.

»Jotte doch, det ick noch zurechtkomme, Herr Pajel! Wat bin ick jeloofen! Wat ha’ ick for eenen Schiß jehabt, Se kokeln mir die Bude noch mal an, wie Se jedroht haben! Ick wär ja ooch zeitich jekommen, aba wie ick in de Gollnowstraße bin und ick denke an jar nischt als an Sie und det ick zurechtkomme, rennt doch ein Auto in een Pferd rin. Da konnt ick doch nicht weiter! Det janze Jedärme draußen, und ick denke mir: Aujuste, bekiek dir das! Se saren ja imma, Mensch und Tier soll man nich vergleichen, aba innen muß et doch ’ne ziemliche Ähnlichkeit sind, und da ha’ ick mir jedacht, wo du doch imma mit deine Blase zu tun hast, und ’ne Blase hat so ’n Hafamotoa ooch …«

»Herr Pagel hat Ihnen also gedroht, Ihnen die Wohnung anzustecken, wenn Sie nicht sofort hierherkommen und die Anzeige zurücknehmen?«

Aber die Frau Thumann kann man nicht für dumm kaufen, die redet viel, aber auf nichts läßt sie sich festnageln. Sie hat das Geld auf dem Tisch gesehen, sich die Lage klargemacht, und schon redet sie los: »Wer sacht denn dat?! Er soll mia jedroht haben?! Det ha’ ick nich jesacht, det valang ick ins Protokoll, Herr Leutnant, solche Worte schieben Se sich man lieba selba in de Schuhe! Mir drohen, wo er so ’n umgänglicha, lieba Herr is, der Herr Pajel! Und de Anzeije gegen ihn und det Mädchen hett ick ooch nich unterschrieben, wenn mir der Mann von Ihnen nich von Sinn und Unsinn jeschwatzt hätte. Es ist Jesetz, sacht er – und wie kann denn det Jesetz sind, bitt ick Sie, wo ick mein Jeld alles habe, und von Betruch is nich de Rede! Nee, meine Anzeije will ick wieder, davor mache ick Sie haftbar …«

»Ruhe jetzt!« donnert der Reviervorsteher, denn die schüchternen Unterbrechungsversuche des Sekretärs verfangen nicht gegen diesen Redestrom. »Treten Sie bitte einen Augenblick vor die Tür, Herr Pagel. Wir möchten allein mit Ihrer Wirtin reden …«

Pagel sieht einen Augenblick die beiden an, dann das Geld und die Papiere auf dem Tisch. Er verbeugt sich stumm und tritt auf den Gang hinaus. Ihm gegenüber ist nun die Tür zum Meldebüro, etwas weiter nach der Straße zu, direkt an der Ausgangstür, das Wachtzimmer. Er sieht durch die offenstehende Tür draußen auf der Straße die Leute gehen. Es scheint aufgehört zu haben mit dem Regen, ein kühler Luftzug kommt herein und kämpft gegen die abgestandene Luft des Flurs.

Pagel lehnt sich gegen die Wand und brennt die lang ersehnte Zigarette an. Die ersten, tief eingeatmeten Züge sind eine Wohltat. Aber dann vergißt er gleich wieder, daß er raucht.

Verhaftet haben sie mich noch nicht, denkt er. Sonst hätten sie mich nicht so allein vor die Tür geschickt.

Drinnen geht wieder die Stimme der Thumannschen, aber weinerlicher. Dazwischen bellt die Stimme des Reviervorstehers – komisch, wie gut der traurige Mann schnauzen kann. Aber er muß es ja können, so was muß man in seinem Beruf können. – Übrigens beweist das gar nichts, daß sie mich vor die Tür geschickt haben. All mein Geld liegt da drinnen auf dem Tisch, sie wissen ganz gut, so leicht läuft keiner von so viel Geld weg. Aber warum sollten sie mich eigentlich verhaften? Und was ist mit Petra? Was kann Petra verkauft haben?

Er grübelt. Immer wieder gerät er darauf, daß sie vielleicht irgend etwas von der Thumann verkauft hat, Bettwäsche oder so was, um sich Essen zu kaufen. Aber das ist ja Unsinn! Das hätte die Pottmadamm längst ausgequatscht. Und sonst hat doch Peter gar keine Gelegenheit, an irgend etwas heranzukommen!

In Gedanken geht er zur Ausgangstür, die Luft im Gang macht ihm Kopfschmerzen, auch stören ihn die Stimmen im Zimmer des Sekretärs.

Er steht auf der Straße. Der Asphalt ist spiegelblank. Schwerer Tag für die Taxichauffeure, denkt er, als die Wagen so vorsichtig an ihm vorüberfahren, tastend gleichsam. Nein, ich möchte kein Taxichauffeur sein. Aber was in aller Welt möchte ich sein? Zu nichts bin ich mehr nutze. Ich habe den ganzen Tag nur Unsinn gemacht, und auch jetzt werde ich Peter nicht herausbekommen. Ich fühle es. Was kann Peter nur getan haben?

Er bleibt stehen, am Rande der Fahrbahn. Im regennassen Asphalt spiegeln sich die Lichter, kein Licht leuchtet ihm. Dann stößt ihn jemand an, und natürlich ist es die Pottmadamm.

»Jotte doch, Herr Pajel, gut, det ick Sie hier stehen sehe! Ick dachte schon, Se sind jetürmt. Machen Se bloß det nich, holen Se sich Ihr schönet Jeld. Wat wern Se det den Brüdern lassen?! Ick vasteh nich und ick weeß nich, so wat will Behörde sind, mit eenem kriminalistischen Scharfblick und Jehalt und allens, und da hat irjendeen Roß denen wat vorjeäppelt, Sie sind een Bauernfänger mit Kümmelblättchen. Se wissen doch, wo man die Karte so indrückt und schmeißt se über ’n Tisch, und der andere soll raten, wo de Karte is … So doof! Ein feiner Mann wie Sie! Ick habe denen aber de Ohren ausjeputzt, da is de Haut mit det Schmalz wegjegangen! Allet solidet Jlücksspiel, ha’ ick jesacht, fein mit Bank und die Herren im Frack, aba nur wat die Herren sind, die det Jeld innehmen, Sie natürlich nich, wie ick ja allens oft durch die Tür jehert habe, wie Se et dem Peter erzählt haben …«

»Und was ist denn mit dem Peter?«

»Ja, wissen Se, Herr Pajel, wat mit der is, det weeß ick ooch nich. Da jeben sie keenen Laut von, mit der Petra stinkt es! Aba wejen Betruchanzeije und so, det is nich mehr – det haben se mir wieda rausrücken müssen, und ick habe es dem Jelbäugigen vor seine Quitte zerrissen. Und mit de Jardine, det ha’ ick ooch jesacht, det is een anjeheiterter Scherz von Sie jewesen, und wenn Se mir jetzt wat jeben wollten for de neue Jardine …«

»Erst muß ich mir mein Geld wiederholen, Frau Thumann«, sagt Pagel und geht zurück in das Hinterzimmer.

Der Sekretär ist jetzt allein dort, der Reviervorsteher ist nicht mehr da. Ja, das Interesse hat nachgelassen, es scheint nun doch, der Sterbende hat sich getäuscht. Es ist keine wichtige Sache, es ist nur eine Bagatelle. Dies ist keine Zeit für Bagatellen. Der Sekretär hat keine Lust mehr, mit kriminalistischen Tricks zu arbeiten, die letzte Amtshandlung Leo Gubalkes ist dahingewelkt, ehe der Sterbende noch den letzten Atemzug getan hat.

Gleichgültig prüft der Sekretär die Durchschrift von der Kaufbestätigung des Kunsthändlers, sie wird schon richtig sein. Er ruft nicht einmal mehr dort an – es ist ja auch zu unwahrscheinlich, daß jemand mit Kümmelblättchen in ein paar Nachmittagsstunden tausend Dollar gewinnt.

»Aber in Spielklubs dürfen Sie nicht spielen«, sagt er gelangweilt und gibt Pagel die Kaufbestätigung zurück. »Glücksspiele sind gesetzlich verboten.«

»Gewiß«, sagt Pagel höflich. »Ich spiele auch nicht wieder. – Darf ich vielleicht für Fräulein Ledig eine Kaution stellen?«

»Die ist nicht mehr hier«, sagt der Sekretär, und für ihn existiert sie wirklich überhaupt nicht mehr. »Die ist schon im Polizeigefängnis Alexanderplatz.«

»Aber warum denn?!« schreit Pagel. »Sagen Sie mir doch endlich, warum!!«

»Weil sie Unzucht betreibt, ohne unter Kontrolle zu stehen«, sagt der Sekretär todmüde. »Sie soll übrigens auch geschlechtskrank sein.«

Es ist gut, daß der Stuhl noch dasteht. Pagel packt ihn so fest, daß er meint, er muß zerbrechen. »Das ist unmöglich«, sagt er endlich mühsam.

»Sie ist«, erklärt der Sekretär und möchte nun endlich an seine Arbeit kommen, »von einem andern Mädchen gleichen Gewerbes hier erkannt worden. Übrigens hat sie es auch zugegeben.«

»Sie hat es zugegeben?!«

»Sie hat es zugegeben …«

»Danke«, sagt Pagel, läßt den Stuhl los und geht gegen die Tür.

»Ihr Geld, Ihre Papiere!« ruft der Sekretär ungeduldig.

Pagel macht eine abwehrende Bewegung, besinnt sich dann aber und stopft alles wieder in die Taschen.

»Sie werden Ihr Geld verlieren«, sagt der Sekretär gleichgültig.

Pagel macht wieder eine Bewegung der Abwehr und marschiert aus der Tür.

Erst fünf Minuten später, mitten in seiner mechanischen Schreiberei, fällt dem Sekretär ein, daß er dem Herrn Pagel eine falsche, zum mindesten eine mißverständliche Antwort gegeben hat. Petra Ledig hat nur zugegeben, daß sie vor etwa einem Jahr in einigen wenigen Fällen Unzucht betrieben hat. Geschlechtskrankheit hat sie überhaupt nicht zugegeben.

Der Sekretär denkt einen Augenblick nach. Vielleicht ist das gar nicht schlecht, überlegt er. Vielleicht heiratet er sie nun nicht. Man sollte solche Mädchen nicht heiraten. Nein, nie!

Und er kehrt zurück zu seiner Schreiberei. Endgültig versinkt für ihn der Fall Ledig … die letzte Amtshandlung des Polizeioberwachtmeisters Leo Gubalke.

Wolf unter Wölfen
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