7

An diesem Nachmittag hatte der Empfangschef des Hotels, Oberleutnant a. D. von Studmann, ein recht unangenehmes Erlebnis. Etwa um drei Uhr nachmittags, zu einer Zeit, da keine Reisenden von den Zügen kamen, war in der Eingangshalle ein ziemlich großer, kräftig gebauter Herr erschienen, tadellos in englische Stoffe gekleidet, ein Schweinslederköfferchen in der Hand.

Einbettiges Zimmer mit Bad, ohne Telefon, im ersten Stock, hatte der Herr verlangt.

Ihm wurde gesagt, daß alle Zimmer des Hotels Telefon hätten. Der Herr, ein Dreißiger etwa, mit scharfgeschnittenem, aber gelblichblassem Gesicht konnte außerordentlich schreckenerregend mit diesem seinem Gesicht zucken. Das tat er jetzt und verbreitete solchen Schrecken, daß der Portier zurückfuhr.

Studmann trat näher. Wenn es gewünscht würde, könne das Telefon natürlich aus dem Zimmer entfernt werden. Immerhin …

»Es wird gewünscht!« schrie der Fremde plötzlich unvermittelt. Und ohne Übergang verlangte er ganz friedlich, daß auch die Klingelknöpfe auf seinem Zimmer außer Tätigkeit gesetzt würden. »Ich wünsche all diese moderne Technik nicht«, hatte er stirnrunzelnd gesagt.

Von Studmann hatte sich schweigend verbeugt. Er wartete darauf, daß als nächstes die Entfernung des elektrischen Lichtes verlangt werden würde, aber entweder rechnete der Herr elektrisches Licht nicht zur modernen Technik, oder er hatte diesen Punkt vergessen. Er stieg murmelnd die Treppe hinauf, einen Boy mit dem Schweinslederköfferchen hinter, den Zimmerkellner mit dem Meldeblock vor sich.

Von Studmann war nun lange genug Empfangschef in einer Großstadtkarawanserei, um sich noch allzusehr über Wünsche von Gästen zu wundern. Von der allein reisenden Südamerikanerin an, die schreiend ein Zimmerklosett für ihr Äffchen verlangt hatte, bis zu dem soignierten älteren Herrn, der nachts um zwei Uhr im Pyjama auftauchte und flüsternd sofort – aber bitte sofort! – die Besorgung einer Dame aufs Zimmer verlangt hatte (Stellen Sie sich bloß nicht so an! Wir sind doch alle Männer!) – fast nichts konnte noch die Gelassenheit Studmanns verwirren.

Trotzdem war etwas an diesem neuen Gast, das ihn zur Vorsicht mahnte. Im Durchschnitt werden Hotels vom Durchschnitt besucht, und der Durchschnitt liest lieber Skandale in der Zeitung, als daß er sie miterlebt. Irgend etwas in des Empfangschefs Brust warnte ihn. Nicht so sehr die albernen Wünsche, eher schon das Fratzenschneiden, das plötzliche Schreien, der unruhige, bald freche, bald gehetzte Blick in den Augen des Gastes hatten ihn gestört.

Immerhin waren die Rapporte, die von Studmann binnen kurzem empfing, befriedigend. Der Boy hatte einen ganzen amerikanischen Papierdollar Trinkgeld bekommen, die Geldtasche des Gastes war außerordentlich gut gefüllt gewesen. Der Zimmerkellner brachte den Meldeschein. Der Herr hatte sich als »Reichsfreiherr Baron von Bergen« eingetragen.

Der vorsichtige Kellner Süskind hatte sich auch noch den Reisepaß des Fremden vorlegen lassen, wozu er nach einer Bestimmung des Polizeipräsidenten berechtigt war. Der Paß – ein Inlandspaß, ausgestellt von der Amtshauptmannschaft in Wurzen – war zweifelsohne in Ordnung gewesen. Der sofort zu Rate gezogene Gotha erwies, daß es Reichsfreiherren von Bergen tatsächlich gab, sie waren in Sachsen ansässig.

»Also alles in Ordnung, Süskind«, sagte von Studmann und klappte den Gotha wieder zu.

Süskind wiegte unsicher den Kopf. »Ich weiß nicht«, meinte er. »Komisch ist der Herr.«

»Wieso komisch? Hochstapler? Wenn er zahlt, kann es uns egal sein, Süskind.«

»Hochstapler? Kein Gedanke! Aber ich glaube, der spinnt.«

»Spinnt –?« fragte von Studmann, ärgerlich, daß auch Süskind denselben Eindruck wie er selbst hatte. »Unsinn, Süskind! Vielleicht ein bißchen nervös. Oder angetrunken.«

»Nervös? Angetrunken? Kein Gedanke! Der spinnt …«

»Aber wieso denn, Süskind? Hat er sich denn oben irgendwie komisch benommen –?«

»Gar nicht!« gab Süskind bereitwillig zu. »Das bißchen Gesichterschneiden und Faxenmachen will gar nichts sagen. Manche denken doch, die imponieren uns mit so was.«

»Also –?«

»Man hat es so im Gefühl, Herr Direktor. Wie vor einem halben Jahr sich der Trikotagenonkel auf 43 aufhängte, hab ich’s auch im Gefühl gehabt …«

»Um Gottes willen, Süskind! Malen Sie bloß nicht den Teufel an die Wand! – Na, ich muß jetzt weiter. Halten Sie mich auf dem laufenden und haben Sie immer ein Auge auf den Herrn …«

Von Studmann hatte einen sehr anstrengenden Nachmittag. Der neue Dollarkurs hatte nicht nur eine Neuauszeichnung aller Preise notwendig gemacht, nein, der ganze Etat mußte neu kalkuliert werden. Studmann saß wie auf Kohlen im Sitzungszimmer der Direktion. Unendlich umständlich setzte Generaldirektor Vogel auseinander, daß man erwägen müsse, ob nicht, vorsorglich weiterer Dollarsteigerungen, ein gewisser Aufschlag auf den jetzigen Kurs kalkuliert werden müsse, um sich nicht »auspowern« zu lassen.

»Wir müssen die Substanz erhalten, meine Herren! Die Substanz!« Und er setzte auseinander, daß beispielsweise unser Vorrat an Alabasterschmierseife im letzten Jahre von siebzehn auf einen halben Zentner gesunken sei.

Trotz der mißbilligenden Blicke seines Vorgesetzten rannte Studmann immer wieder in die Halle hinaus. Nach der vierten Stunde hatte der Strom der Reisenden sehr kräftig eingesetzt, im Empfang hatten alle Angestellten fieberhaft zu tun, und der Strom der Ankommenden staute sich gegen die, die plötzlich den Entschluß, abzureisen, gefaßt hatten.

Flüchtig nur nickte Studmann mit dem Kopf, als Süskind ihm zuflüsterte, der Herr auf 37 habe ein Bad genommen, sich dann ins Bett gelegt und eine Flasche Kognak und eine Flasche Sekt kommen lassen.

Also doch ein Trinker, dachte er gehetzt. Wenn er zu randalieren anfängt, schicke ich ihm den Hotelarzt und lasse ihm ein Schlafmittel geben.

Und er eilte weiter.

Studmann kam grade wieder aus dem Sitzungszimmer, wo Generaldirektor Vogel jetzt dabei war auseinanderzusetzen, daß Kalkeier der Ruin des Hotelgewerbes seien. – Immerhin sei unter den heutigen Umständen zu erwägen, ob nicht ein gewisser Vorrat – da die Zufuhren an Frischeiern … und da leider auch die Kühlhauseier …

Idiot! dachte von Studmann im Wegstürzen. Und verwundert: Wieso bin ich eigentlich so gereizt? Ich kenne diese Nölerei doch schon seit ewig … Das Gewitter muß mir in den Knochen sitzen …

Der Zimmerkellner Süskind hielt ihn an. »Jetzt geht es los, Herr Direktor«, sagte er mit gramverzerrtem Gesicht über der schwarzen Frackbinde.

»Was geht los? Sagen Sie schnell, was Sie wollen, Süskind. Ich habe keine Zeit.«

»Aber der Herr von 37 doch, Herr Direktor!« sagte Süskind vorwurfsvoll. »Er sagt, es ist eine Schnecke im Sekt!«

»Eine Schnecke –?« Von Studmann mußte lachen. »Unsinn, Süskind, lassen Sie sich doch nicht durch den Kakao ziehen! Wie sollen Schnecken in den Sekt kommen?! Habe noch nie so was gehört.«

»Aber es ist eine drin«, beharrte Süskind kummervoll. »Ich habe sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Eine große, schwarze Nacktschnecke …«

»Sie haben –?« Plötzlich war Studmann ernst geworden, er überlegte. Es war völlig unmöglich, daß in dem Sekt seines Hauses Schnecken waren! Hier verkaufte man keinen gemanschten Schiebersekt! »So hat er sie reingesteckt, um uns einen Possen zu spielen«, entschied er. »Bringen Sie ihm unberechnet eine andere Flasche. Hier – für den Kellermeister.«

Er schrieb mit fliegender Hand den Bon aus.

»Und passen Sie gut auf, Süskind. Daß er den Spaß nicht noch einmal macht!«

Süskind wiegte ganz gebrochen den Kopf. »Wollen Sie nicht doch lieber einmal selbst zu ihm gehen? Ich fürchte …«

»Unsinn, Süskind. Ich habe keine Zeit für solche Späße. Wenn Sie das nicht selbst in Ordnung bringen können, nehmen Sie sich den Kellermeister mit als Zeugen oder wen Sie wollen …«

Studmann rannte schon. In der Halle schrie der bekannte Eisenmagnat Brachwede, er habe die Zimmer für zehn Millionen täglich gemietet, und hier auf der Rechnung stünden fünfzehn …

Er hatte den Magnaten über das zu unterrichten, was er längst wußte, nämlich über den gestiegenen Dollar, er hatte hier zuzureden, dort zu lächeln, einem Boy einen zornigen Wink zu geben, er solle etwas besser aufpassen, den Transport einer gelähmten Dame in den Fahrstuhl zu überwachen, drei Telefonanrufe abzuweisen …

… als der betrübte Süskind schon wieder hinter ihm stand.

»Herr Direktor! Ach bitte, Herr Direktor!« flüsterte er, ein wahres auf die Nerven gehendes Bühnenintrigantengeflüster alten Stils.

»Was ist denn nun schon wieder los, Süskind?!«

»Der Herr auf 37, Herr Direktor …«

»Was denn? Was denn? Noch ’ne Schnecke im Sekt?«

»Herr Tuchmann« (dies war der Kellermeister) »machte eben die elfte Flasche auf – in allen sind Schnecken!«

»In allen!« schrie von Studmann förmlich. Und leiser, als er die Blicke der Gäste auf sich fühlte: »Sind Sie denn nun auch verrückt geworden, Süskind?«

Süskind nickte traurig. »Der Herr schreit. Schwarze Nacktschnecken verbittet er sich, schreit er …«

»Los!« schrie Studmann und raste schon die Treppe zum ersten Stock hinauf, ganz ohne Rücksicht auf die würdige Haltung, die der Empfangschef und Subdirektor eines so vornehmen Betriebes in jeder Lage zu bewahren hat. Der kummervolle Süskind raste hinterdrein.

Sie spritzten durch die verblüfften Gäste – und es verbreitete sich sofort das Gerücht, unkontrollierbar, woher: Die Koloratursängerin Contessa Vagenza, die heute abend in den Kammersälen auftreten sollte, habe soeben entbunden.

Sie kamen gleichzeitig vor Nummer 37 an. Angesichts der erhaltenen Berichte meinte von Studmann auf alle zeitraubenden Höflichkeiten verzichten zu können. Er klopfte nur kurz und trat ein, ohne das Herein abzuwarten. Ihm folgte auf dem Fuß der Kellner Süskind, der sorgfältig die gepolsterte Doppeltür schloß, um den Lärm der etwa kommenden Auseinandersetzung den anderen Gästen fernzuhalten.

In dem recht großen Zimmer brannte das elektrische Licht. Die Vorhänge der beiden Fenster waren dicht geschlossen. Ebenso war die Tür zu dem anstoßenden Badezimmer geschlossen – wie sich bald herausstellen sollte, war sie auch verschlossen. Der Schlüssel war abgezogen.

In dem breiten, ganz modernen Metallbett aus Chromstahl lag der Gast. Das Gelb seines Gesichtes, das Studmann schon in der Halle aufgefallen war, sah noch krankhafter gegen die weißen Kissen aus. Dazu trug der Gast einen purpurroten Pyjama aus einem scheinbar sehr kostbaren Brokatstoff – die gelben, dicken Stickereien dieses Pyjamas sahen fahl aus gegen das gallige Gesicht. Eine Hand, eine kräftige Hand mit einem auffallend schönen Siegelring, hielt der Gast offen auf der blauseidenen Steppdecke. Die andre lag unter der Decke.

All dies sah von Studmann mit einem Blick, er sah auch den an das Bett geschobenen Tisch, die Unzahl der darauf stehenden Kognak- und Sektflaschen verblüffte ihn. Es mußte viel mehr heraufgeschafft worden sein als die von Süskind erwähnten elf Flaschen.

Ärgerlich stellte von Studmann zugleich fest, daß der überängstliche Süskind sich nicht mit der Zeugenschaft des Kellermeisters begnügt hatte, auch ein Page, das Zimmermädchen, ein Liftboy und irgendein graues, weibliches Wesen, das vermutlich aushilfsweise mit Zimmerreinigen beschäftigt gewesen war, standen in der Nähe des Tisches, eine kleine, sehr ängstliche und verlegene Gruppe.

Einen Augenblick lang überlegte Studmann, ob er erst einmal diese Zeugen eines etwaigen Skandals vor die Tür setzen sollte, aber ein Blick auf das schrecklich zuckende Gesicht des Gastes belehrte ihn, daß Eile am Platz war. So trat er denn mit einer Verbeugung an das Bett, nannte seinen Namen und blieb abwartend stehen.

Sofort lag das Gesicht des Herrn ruhig. »Nicht angenehm!« näselte er in jenem arroganten Leutnantston, den von Studmann längst ausgestorben geglaubt hatte. »Außergewöhnlich unangenehm für – Sie! Schnecken im Sekt – irrsinnige Schweinerei!«

»Ich sehe keine Schnecken«, sagte von Studmann mit einem kurzen Blick auf Sektkelche und Flaschen. Was ihn zutiefst beunruhigte, war nicht diese alberne Reklamation, sondern der Blick grenzenlosen Hasses aus den dunklen Augen des Gastes, diesen Augen, die frech und zugleich feige waren, Augen, wie sie Studmann noch nie gesehen hatte.

»Sie sind aber drin!« schrie der Gast so plötzlich, daß jeder zusammenfuhr. Er saß jetzt im Bett, eine Hand in die Steppdecke gekrallt, die andere unter der Decke.

(Achtung! Achtung! sagte von Studmann zu sich. Der hat was vor!)

»Alle haben die Schnecken gesehen. Nehmen Sie die Flasche, nein, die!«

Gleichgültig nahm Studmann die Flasche in die Hand, hielt sie gegen das Licht. Er war vollkommen davon überzeugt, daß der Sekt ganz in Ordnung war – und daß der Gast das ebensogut wie er wußte. Mit irgendeinem Trick hatte er die einfältigen Gemüter von Kellner und Kellermeister überrumpelt – aus einer Absicht heraus, die Studmann jetzt noch nicht wußte, wohl aber rasch erfahren würde.

»Achtung, Herr Direktor!« rief da schon der Zimmerkellner Süskind – und Studmann fuhr herum. Aber es war schon zu spät. In die Betrachtung der Flasche vertieft, hatte Studmann den Gast aus den Augen gelassen. Unfaßbar leise war der aus dem Bett und zur Tür geglitten, hatte abgeschlossen – und nun stand er dort, in der einen Hand den Schlüssel, in der andern, erhobenen, eine Pistole.

Von Studmann war manches Jahr im Felde gewesen, eine auf ihn gerichtete Schußwaffe konnte ihn nicht sonderlich aus der Ruhe bringen. Was ihn erschreckte, war der Ausdruck von Haß und trostloser Verzweiflung, der auf dem Gesicht des geheimnisvollen Fremden lag. Dabei war dies Gesicht jetzt ganz ruhig, nichts mehr von Grimassen, eher ein Lächeln, ein sehr höhnisches Lächeln allerdings.

»Was soll das?« fragte Studmann kurz.

»Das soll heißen«, sagte der Gast leise, aber sehr deutlich, »daß die Stube jetzt auf mein Kommando hört. Wer nicht pariert, wird erschossen.«

»Haben Sie Absichten auf unser Geld? Die Beute wird sich kaum lohnen. Sind Sie nicht der Baron von Bergen?«

»Kellner!« sagte der Fremde. Prächtig stand er da, in seinem purpurnen, mit Gelb bestickten Pyjama, zu prächtig für das gelbe, kranke Gesicht darüber. »Kellner, schenken Sie jetzt in sieben Sektkelche Kognak. – Ich zähle bis drei, wer dann nicht ausgetrunken hat, bekommt einen Schuß. – Nun, wird es?!«

Mit einem hilfeflehenden Blick auf Herrn von Studmann hatte sich Süskind an das befohlene Einschenken gemacht.

»Was sollen diese Scherze?« fragte von Studmann unwillig. »Sie sollen trinken!« sagte der gastgebende Gast. »Eins – zwei – drei –! Trinkt!! Wird es wohl?! Ihr sollt trinken!«

Jetzt schrie er doch wieder.

Die andern sahen auf Studmann – Studmann zögerte …

Der Fremde schrie noch einmal: »Trinkt! Austrinken!« Und schoß. Nicht nur die Frauen schrien. Allein hätte von Studmann den Kampf mit dem Manne gewagt, aber die Rücksicht auf die fassungslosen Leute im Zimmer, der Ruf des Hotels befahlen ihm Zurückhaltung.

Er wandte sich um, sagte ruhig: »Also trinkt!«, lächelte ermutigend in die ängstlichen Gesichter und trank selbst.

Es waren mehrere sehr große Schlucke Kognak in dem Sektglas, Studmann bezwang sie rasch, aber hinter sich hörte er die andern, wie sie sich verschluckten und prusteten.

»Es muß ausgetrunken werden«, sagte der Fremde zänkisch. »Wer nicht austrinkt, wird erschossen.«

Von Studmann durfte sich nicht umdrehen, er mußte den Gast im Auge behalten; immer noch hoffte er, daß der Gast einen Augenblick nicht aufpassen und ihm so das Wegnehmen der Waffe ermöglichen würde.

»Sie haben in die Decke geschossen«, sagte er höflich. »Ich danke Ihnen für die Rücksichtnahme. Darf ich jetzt erfahren, warum wir uns hier betrinken sollen?«

»Es liegt mir nichts daran, Sie zu erschießen, wenn es mir auch nicht darauf ankommt. Es liegt mir daran, daß Sie sich betrinken. Keiner verläßt diesen Raum lebend, ehe nicht jeder Tropfen Alkohol ausgetrunken ist. – Kellner, gießen Sie jetzt Sekt ein.«

»Eben«, sagte von Studmann, dem daran lag, ein Gespräch in Gang zu halten. »Das hatte ich schon verstanden. Es würde mich nun nur interessieren, warum wir uns betrinken sollen.«

»Weil ich meinen Spaß haben will. – Jetzt trinkt.«

Eine Hand hatte Studmann von hinten einen Sektkelch in seine Hand geschoben, er trank. Dann sagte er: »Weil es Ihnen Spaß macht also.« Und möglichst gleichgültig: »Ich vermute, Sie wissen, daß Sie geisteskrank sind?«

»Ich bin«, sagte der andere ebenso gleichmütig, »bereits seit sechs Jahren entmündigt und in einer Klapskiste untergebracht. – Kellner, jetzt wieder, sagen wir, eine halbe Schale Kognak.« Erklärend: »Ich will nicht zu hastig vorgehen, das Vergnügen soll länger dauern.« Und wieder gleichmütig berichtend: »Ich konnte das Schießen im Felde nicht vertragen, alle schossen immer nur auf mich. Seitdem schieße ich allein. – Trinkt!«

Von Studmann trank. Er fühlte, wie der Alkohol vorerst wie ein feiner Nebel wolkig in seinem Hirn aufstieg. Aus dem Augenwinkel sah er, ohne den Kopf zu drehen, am andern Zimmerende den Kellner Süskind auftauchen und zu der Badezimmertür schleichen. Aber auch der Baron hatte ihn gesehen. »Leider abgeschlossen«, sagte er lächelnd, und Süskind verschwand wieder aus dem Gesichtsfeld des Empfangschefs, mit einer bedauernden Bewegung der Schultern.

Dann hörte von Studmann eine Frau hinter sich sanft kreischen und Getuschel der Männer. Achtung, Oberleutnant! Achtung! sprach es in ihm, und sein Kopf war wieder ganz klar.

»Ich verstehe«, sagte er. »Doch wie kommen wir zu der Ehre, in diesem Hotel mit Ihnen zu trinken, da Sie doch in einer Anstalt interniert sind?«

»Ausgerissen!« lachte der Baron kurz. »Die sind ja so dumm. Der alte Geheimrat wird schön fluchen, wenn er mich wiederholt. Ein paar hübsche Dinger habe ich unterdes angerichtet, ganz abgesehen von dem Wärter, dem ich eins auf die Birne gegeben habe. – Es geht zu langsam«, murmelte er plötzlich mürrisch. »Viel zu langsam. Noch einen Kognak, Kellner. Der ganze Kelch!«

»Ich würde um Sekt bitten«, versuchte Studmann.

Doch es war falsch.

»Kognak!« schrie der Gast um so wilder. »Kognak! – Wer nicht Kognak trinkt, wird erschossen! – Mir ist es egal!« schrie er mit Bedeutung zu Studmann. »Ich habe den Paragraphen 51, mir passiert nichts. Ich bin der Reichsfreiherr Baron von Bergen. Kein Polizist darf mich anfassen. Ich bin geisteskrank. – Trinkt!«

Dies muß schiefgehen, dachte von Studmann verzweifelt, während das ölige Zeug langsam seine Kehle hinunterrann. Die Weiber hinten lachen und kichern schon. In fünf Minuten hat er auch mich so weit, wie er uns haben will, und sieht die Gesunden wie irre Tiere vor dem Geisteskranken kriechen. Ich muß sehen … Aber es war nichts zu sehen. Mit einer unbeirrbaren Aufmerksamkeit stand der Narr unter der Tür, die Pistole in der Hand, den Finger am Abzug – und gab sich keine Blöße.

»Einschenken!« befahl er grade wieder. »Einen ganzen Kelch Sekt, daß der Mund wieder frisch wird.«

»Richtig, Meister, Sie sind richtig!« rief jemand, es war wohl ein Boy, aber die andern lachten zustimmend.

»Sie sind Kavalier«, versuchte es Studmann noch einmal. »Ich mache Ihnen den Vorschlag, daß wir wenigstens die beiden Damen aus dem Zimmer lassen. Keiner von uns andern versucht unterdessen herauszukommen, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort …«

»Damen raus – is nich!« grölte es von hinten. »Nich wahr, Miezeken? So fein und so nobel kriegen wir es nicht alle Tage …«

»Sie hören!« lächelte der Baron höhnisch. Und: »Trinkt! – Jetzt wieder Kognak. Und setzt euch endlich! Da, richtig, aufs Sofa. Immer los, auch aufs Bett! Sie werden sich auch setzen, mein Herr Direktor! Los! Glauben Sie, ich mach Witze? Ich schieße! Da!« Es knallte. Sie schrien. »So – trinkt erst wieder. Und nun macht es euch bequem. Röcke aus, Kragen ab, Mädchen da, bind die Schürze ab. Ja, zieht euch ruhig die Blusen aus …«

»Herr Baron!« sagte von Studmann erbittert. »Wir sind hier in keinem Bordell. Ich weigere mich …«

Und dabei fühlte er doch, wie unter der Einwirkung des Alkohols Wille und Tat nicht mehr parallel liefen: der Gehrock hing schon über der Sessellehne, er nestelte an der Binde.

»Ich weigere mich …«, rief er noch einmal schwach.

»Trinkt!« schrie der andere. Und höhnisch: »In fünf Minuten werden Sie sich nicht mehr weigern. – Jetzt Sekt!«

Es gab einen Krach, Geklirr zerbrochenen Glases. Der Kellner Süskind war quer über den Tisch gestürzt, dann zur Erde gefallen. Jetzt lag er da, röchelnd, sichtlich bewußtlos …

Der Kellermeister, die dicke Pranke fest auf der Brust des Mädchens, saß lachend auf dem Bett. Die ältliche Reinemachefrau hielt in jedem Arm einen von den Jungen; hochrot, schien sie nichts mehr von der Welt um sich zu merken.

»Ihr sollt trinken!« schrie der Irre. »Sie, Herr, gießen Sie jetzt ein! Sekt!«

In drei Minuten bin ich verloren, dachte Studmann, indem er zur Sektflasche griff. In drei Minuten bin ich so weit wie die andern …

Er fühlte das Ende der Flasche kühl und fest in der Hand, plötzlich war sein Kopf klar.

Es ist ja alles ganz leicht …, dachte er.

Die Sektflasche war zur Handgranate geworden. Er zog ab und warf sie gegen den Kopf des Rotröckigen. Er sprang hinterher.

Der Baron hatte Schlüssel und Pistole fallen lassen, er war hingestürzt, er schrie. »Sie dürfen mir nichts tun! Ich bin geisteskrank! Ich habe den Paragraphen 51! Schlagen Sie mich nicht, bitte nicht, Sie machen sich strafbar! Ich habe den Jagdschein!«

Und indes von Studmann immer neu in betrunkener Wut auf das Jammergeschöpf einschlug, dachte er wütend: Bin ich doch auf ihn reingefallen! Das ist ja bloß ein Feigling, wie sie sich im Felde bei jedem Trommelfeuer die Hosen füllten! In der ersten Minute hätte ich ihm in die Fresse schlagen sollen!

Dann ekelte es ihn, weiter in dieses weiche, feige Gewimmer hineinzuschlagen, er sah den Schlüssel neben sich auf der Erde, nahm ihn, stand taumelnd auf, schloß und trat auf den Gang.

 

Die Gäste, die vor dem niederbrechenden Gewitterregen sehr zahlreich Schutz in der großen Hotelhalle gesucht hatten, fuhren erschrocken zusammen, als sie oben auf der breiten, mit roten Läufern belegten Paradetreppe zum ersten Stock einen taumelnden Mann in zerrissenen Hemdsärmeln mit blutendem Gesicht auftauchen sahen. Erst bemerkten ihn nur einige, aber unter ihnen entstand abwartende Stille. Schon sahen sich andere um, starrten, als könnten sie es nicht glauben.

Der Herr, der Mann stand balancierend oben auf der ersten Stufe, er starrte in die menschenwimmelnde Halle hinab, er schien nicht zu wissen, was dies war, wo er war. Er murmelte etwas. Man konnte es nicht verstehen, aber unten wurde es immer stiller. Deutlich klangen jetzt aus dem Café die Geigen der Musiker herüber.

Der Rittmeister von Prackwitz war aus seinem Sessel aufgestanden, ungläubig starrte er auf die Erscheinung.

Die Angestellten des Hotels sahen hinauf, starrten, wollten etwas tun, wußten doch nicht, was …

»Narren!« schrie der Betrunkene jetzt da oben. »Wahnsinnig! Denken, sie haben den Jagdschein, aber ich dresche sie …!«

Schwächer schrie er noch einmal zu den von unten Starrenden: »Ich dresche euch Idioten!«

Er verlor den Halt. Lustig rief er: »Hoppla!«, sechs Stufen schaffte er noch aufrecht. Dann stürzte er vornüber, und so fiel er die Treppe hinab, den zurückweichenden Gästen vor die Füße.

Da lag er nun, bewegungslos, bewußtlos.

»Wo bringen wir ihn hin?« fragte der Rittmeister von Prackwitz hastig und faßte ihn schon unter den Achseln.

Plötzlich wimmelte es um den Gefallenen von Angestellten. Die Gäste wurden zurückgedrängt. Unter der Treppe, in dem Gang zu den Wirtschaftsräumen, verschwanden die Träger – mit Studmann und Prackwitz. Die ersten Nachrichten zirkulierten: Junger Deutschamerikaner. Alkohol nicht gewöhnt, Prohibition, Dollarmilliardär, stockbetrunken …

Alles war drei Minuten darauf wieder in Ordnung: schwatzte, langweilte sich, fragte nach Post, telefonierte, sah nach dem Regen.

Wolf unter Wölfen
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