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»Es ist eine Unverschämtheit!« schrie der Rittmeister.

»Ich wußte ja, du würdest dich aufregen«, sprach sanft Frau von Prackwitz.

»Ich lasse mir das nicht gefallen!« schrie der Rittmeister noch stärker.

»Es war bloße Fürsorge«, beruhigte Frau von Prackwitz. »Wo ist der Brief? Ich will meinen Brief haben! Es ist mein Brief!« brüllte der Rittmeister.

»Die Sache ist sicher längst erledigt«, vermutete Frau von Prackwitz.

»Ein drei Wochen alter Brief an mich – und ich bekomme ihn nicht zu sehen! Wer ist hier der Herr?!« donnerte der Rittmeister.

»Du!« sagte die Frau.

»Jawohl – und das werde ich ihm beweisen!« schrie der Rittmeister, aber schwächer, denn lauter konnte er nicht mehr schreien. Er lief zur Tür. »Der bildet sich ja Sachen ein –!«

»Du vergißt deinen Brief«, erinnerte die Frau.

»Welchen Brief –?« Der Rittmeister stand wie angedonnert. Außer dem einen Brief konnte er an keinen andern mehr denken.

»Den dort – aus Berlin.«

»Ach so!« Der Rittmeister stopfte ihn in die Tasche. Er sah seine Frau düster drohend an und sagte: »Daß du mir nicht mit dem Kerl telefonierst!«

»I wo! Rege dich bloß nicht so auf. Die Leute müssen jeden Augenblick kommen.«

»Die Leute können mir – – –«

Als wirklich gebildeter Mann sagte der Rittmeister es erst außerhalb des Zimmers seiner Frau, was die Leute ihm könnten. Die gnädige Frau lächelte. Gleich darauf sah sie ihren Gatten, die mageren, langen Glieder mächtig bewegt, barhaupt, den Weg zum Gut entlangstürmen.

Frau von Prackwitz trat zum Telefon, sie drehte die Kurbel, sie fragte: »Sind Sie das, Herr Pagel? Können Sie mir mal rasch Herrn von Studmann geben? Danke schön! – Herr von Studmann? Mein Mann ist im Ansturm. Er ist sauwütend, daß wir ihm den Brief wegen des elektrischen Stroms unterschlagen haben. Lassen Sie ihn sich bitte ein bißchen ausbrüllen. Das Schlimmste hat er schon bei mir abgeladen. – Ja, natürlich, danke schön. – O nein, mir macht es schon lange nichts mehr. Also im voraus meinen besten Dank.«

Sie legte den Hörer wieder auf, sie fragte: »Du wünschest, Weio?«

»Darf ich eine halbe Stunde spazierengehen?«

Frau von Prackwitz sah auf ihre Uhr. »Du kannst in zehn Minuten mit mir zum Schloß gehen. Ich muß sehen, ob es mit der Kocherei für die Leute klappt.«

»Ach, immer nur zum Schloß, Mama! Ich wäre so gerne mal wieder in den Wald gegangen. Darf ich nicht in den Wald? Und schwimmen –? Ich bin seit vier Wochen nicht zum Schwimmen gekommen!«

»Du weißt, Violet …« Trockenster Ton – gegen das eigene Herz.

»Oh, du quälst mich so! Du quälst mich so, Mama! Ich halte es nicht mehr aus! Dann hättest du mir früher nicht soviel Freiheit lassen sollen, wenn du mich jetzt so an die Kette legen willst! Wie eine Gefangene! Aber ich halte es nicht mehr aus! Ich werde verrückt in meinem Zimmer! Manchmal träume ich, alle Wände fallen auf mich. Und dann sehe ich die Gardinenschnur an und überlege, ob sie hält. Und dann möchte ich zum Fenster hinausspringen. Und in die Scheiben möchte ich schlagen, ich möchte sehen, wie mein Blut läuft, damit ich doch spüre, daß ich lebe … Ihr seid mir alle wie Gespenster, und ich bin mir auch wie ein Gespenst, als lebten wir gar nicht richtig – aber ich will nicht mehr. Ich tue etwas, es ist mir egal, was ich tue, es kommt mir nicht darauf an …«

»Ach, Weio! Weio!« sagte die Mutter. »Wenn du uns doch die Wahrheit sagen wolltest! Glaubst du denn, es wird uns leicht? Aber solange du uns weiter belügst, können wir doch gar nicht anders …«

»Du! Du allein! Papa hat auch gesagt, du machst es viel zu schlimm! Und Papa glaubt mir auch, daß ich die Wahrheit gesagt habe, daß es kein fremder Mann war, sondern der Förster Kniebusch. Alle glauben es mir – nur du nicht. Du willst uns alle beherrschen, Papa sagt es auch …«

»Also mach dich fertig«, sagte Frau von Prackwitz müde. »Ich will sehen, daß wir hinterher noch ein Stündchen in den Wald gehen.«

»Ich will nicht mit dir in den Wald gehen! Ich brauche keinen Aufseher … Ich will keine gebildeten Gespräche führen … Ich lasse mich nicht einsperren von dir! Ich – ich hasse dich überhaupt! Ich mag dich nicht mehr sehen! Ach, ich will, ich will nicht mehr …«

Da hatte sie es wieder, das Schreien war gekommen, dann das immer wieder erstickte, fortgeschriene Schluchzen, das schließlich doch übermächtig aus ihr hervorbrach, sie verkrümmte, hinwarf – in ein jammervolles, von Krämpfen geschütteltes Bündel Geschrei und Gewimmer verwandelte.

Frau von Prackwitz sah sie an. Sie hatte ein festes Herz, sie weinte nicht schon darum, weil andere weinten. Ein grenzenloses Mitleid mit dem armen, verlaufenen, ratlosen Kind erfüllte sie. Aber sie dachte auch: Du lügst doch! Wenn du kein Geheimnis zu verteidigen hättest, würdest du dich nicht so steigern.

Sie drückte auf den Klingelknopf. Als sie den Schritt des Dieners hörte, öffnete sie die Tür und sagte: »Kommen Sie jetzt nicht herein, Hubert. Rufen Sie mir Armgard oder Lotte – dem gnädigen Fräulein ist schlecht geworden … Ja, und dann bringen Sie mir die Hoffmannstropfen aus dem Apothekenschränkchen.«

Während die gnädige Frau sachte wieder die Tür schloß, lächelte sie traurig. Als sie mit dem Diener gesprochen hatte, hatte sie weiter auf das Wimmern und Weinen gelauscht. Merklich war es leiser geworden, als sie dem Diener ihre Weisungen gab, es war fast verstummt, als die verhaßten Hoffmannstropfen bestellt wurden.

Es geht dir wohl schlecht, mein Kind, dachte Frau von Prackwitz. Aber es geht dir nicht so schlecht, daß dich nicht mehr interessiert, was mit dir wird. Es hilft nichts, wir müssen durchhalten, bis eine nachgibt. Hoffentlich du!

Wolf unter Wölfen
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