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Kam Frau Eva von Prackwitz in diesen Wochen auf das Büro, um mit Herrn von Studmann die Wirtschaft zu besprechen, so vergaß Studmann nie, mit einem raschen, ernsten Aufblick zu fragen: »Und Ihr Herr Gemahl? Was schreibt Prackwitz –?«

Meistens bewegte Frau Eva dann nur verneinend ihre schönen, vollen Schultern, die sich in immer reizvolleren, leichteren Blusen verbargen (schien es Studmann). Manchmal aber sagte sie auch: »Wieder eine Postkarte! Es geht ihm gut. Er hat jetzt sein fünfhundertstes Karnickel geschossen!«

»Ausgezeichnet!« pflegte dann Herr von Studmann zu sagen. Und nun sprechen sie nicht weiter vom Rittmeister, sie sprechen von der Ernte, von der Arbeit. Sie sind beide zufrieden mit ihren Erfolgen, aber sie sind auch zufrieden miteinander. Was für zweckmäßig gehalten wurde, das wurde ohne langes Reden beschlossen und auch ausgeführt. Stellte sich dann hinterher heraus, daß es doch nicht zweckmäßig gewesen war, so wurde nicht lange bedauert, sondern geändert, verbessert, anderes erprobt.

Es kamen natürlich immer Fehler vor, große wie kleine. Es war nicht leicht für Herrn von Studmann, einen so großen, ihm ganz neuartigen Betrieb in der eiligsten Arbeitszeit zu übernehmen und zu leiten. Oft mußte er in einer Minute die schwierigsten Entscheidungen treffen. Es half kein Zögern: die Brücke zum Außenschlag 5 war zusammengebrochen, zwanzig Gespanne, achtzig Leute standen tatenlos herum, sahen tiefsinnig das in den Graben gesunkene Erntefuder an, rekelten sich schon im Schatten und sprachen: »Da kannste nichts bei machen!«

Herr von Studmann machte was dabei. In einer Minute sausten die Boten ab zum Hof, in fünf Minuten waren Hacken, Spaten, Schaufeln auf dem Felde. Eine Viertelstunde später war schon ein Damm durch den Graben gelegt, nach zwanzig Minuten kam ein Fuhrwerk aus dem Wald mit Knüppeln – es war noch keine halbe Stunde vergangen, so fuhren die Erntefuder wieder von Außenschlag 5 auf den Hof …

»Das ist ein Kerl!« sagten die Leute.

»Von dem möchte man direkt ein Kind haben!« sagte die Hartigen bewundernd, obwohl sie jetzt Feldarbeit statt Büroreinigung machen mußte.

»Das möchtste wohl, Frieda!« lachten die andern beifällig.

»Der ist eine andere Nummer als dein Negermeier!«

Ja, Herr von Studmann machte sich recht gut, aber er hatte auch gute Hilfe. Es war ein wahres Wunder, wie der alte, eingeschüchterte, demütige Leutevogt Kowalewski auftaute, wie mancher vorzügliche Ratschlag, aus alter Erfahrung geboren, seinem Kopfe entsprang! Bei den Leuten blieb er ja immer ein bißchen weich und lasch, aber da war es nun wieder erstaunlich anzusehen, wie der junge Pagel schwitzend, aber quicklebendig auf seinem Rade heranspritzte, mit den dollsten Weibern die unanständigsten Witze riß, aber genau sagte: »Bis hierher kommt ihr bis Mittag – und bis dorthin zu Feierabend!«

Wenn sie zeterten, das sei unmöglich, das Junkerchen möge es doch halbwege machen, sie seien doch bloß schwache Weibsen und kein solcher Kraftkerl wie er, so verspottete er sie, sie trauten sich doch wohl noch jeden Mann zu, und wenn man auf ihre Mäuler höre, sei der Knabe doch noch nicht geboren, der sie müde mache. Nun sollten sie es einmal beweisen!

Unter ihrem brüllenden Lachen fuhr das Junkerchen wieder ab, aber am Abend waren sie so weit, wie er gezeigt hatte. Oder vielleicht sogar ein Stückchen weiter, und das vergaß er nie festzustellen, lobend oder, besser noch, mit einem derben Witz. Er gefiel ihnen allen, besonders, da keine auf eine andere seinetwegen eifersüchtig sein konnte.

»Der paßt in die Welt!« sagten sie. »Der kriegt mal ’ne feine Frau – nicht so einen Besen wie dich!«

»Na, und du –?! Dich Dreckhaufen kehre ich noch immer weg!«

Als sie erfuhren, was er gewesen war – und mit ihrer wachen Neugier bekamen sie natürlich alles heraus –, da hatten sie ihn erst Fähnrich genannt, dann den Fahnenjunker, dann den Junker, dann das Junkerchen. Und da er oft mit Fräulein Violet aufs Feld kam, so war es ihnen ganz so, als wären die beiden Besitzerssohn und -tochter. – Denn daß sie kein Liebespaar waren, das hatten die Frauen schnell weg.

Ja, Weio war in ihrer Verlassenheit Wolfgang Pagels ständige Begleiterin geworden. Ihre Mutter hatte wenig Zeit für sie, die Mutter war ja auch viel auf dem Feld. Frau Eva hatte ihre ganze Jugend in Neulohe verlebt, früher war sie mit ihrem Vater, dem alten Geheimrat, oft aufs Feld gefahren. Sie hatte gehört, was der Alte vor sich hin brabbelte, sie hatte gesehen, worauf er achtete. Sie wunderte sich, wie viel davon in ihr haftengeblieben war, sie hätte es nicht geglaubt. War sie mit dem Rittmeister aufs Feld gekommen und hatte etwas gesehen, so durfte sie es doch nicht gesehen haben, denn der Rittmeister hatte gleich gesagt: »Davon verstehst du nichts. Kümmere dich bitte nicht um meine Wirtschaft!« Und war sofort ärgerlich geworden.

Herr von Studmann wurde nie ärgerlich. Aufmerksam hörte er ihren Berichten zu, er ermutigte sie noch. Er sagte zu ihren Vorschlägen: »Ausgezeichnet!«, und wenn er dann manchmal doch nicht das tat, was sie vorgeschlagen hatte, so begründete er seine abweichende Meinung so ausführlich und gut, daß sie ihm recht geben, aber auch rasch ein bißchen gähnen mußte. Herr von Studmann war sicher ein sehr zuverlässiger, ein tüchtiger Mann, aber er war ein bißchen umständlich. Es war nicht auszudenken, wie er es anstellen würde, wenn er ihr eines Tages seine Liebe erklären, begründen, motivieren, auseinandersetzen würde, sein Verhalten dem Freund gegenüber entschuldigen, erläutern würde, seine Forderungen für die Zukunft präzisieren würde. Nicht auszudenken war es! Herr von Studmann war bei aller Tüchtigkeit für einen Flirt das Untüchtigste von der Welt. Aber Frau Eva mußte zugeben, daß seine Art, bei einer nüchternen Kalkulation der Futtermittelmischung für den Kuhstall den Blick versonnen von ihrer Fußspitze bis zu ihrem Munde gehen zu lassen, dann »ähemm!« zu sagen und von neuem anzufangen, ihre Reize hatte.

Langsam, aber sicher, dachte Frau Eva. Sie hatte keine Eile, von Hast und Überstürzung hatte sie erst einmal genug. Übrigens bestanden wahrscheinlich gar keine festen Pläne und Absichten, die ruhige, achtungsvolle Verehrung Herrn von Studmanns tat ihr einfach gut; nach der Sturzflut von Unruhe, Streit, Hast der letzten Jahre ließ sie sich zufrieden von dem ruhigen Strom der Zuverlässigkeit und Ordnung, der von Studmann ausging, schaukeln und wiegen.

Aber es ist einzusehen, daß eine so vielseitig beschäftigte Mutter nicht genug Zeit für ihre Tochter haben konnte. Zuerst hatte Frau Eva noch den Versuch gemacht, Violet auf ihren Fahrten über das Feld, bei ihren Gängen zum Büro mit sich zu nehmen. Aber das hatte sich bald gegeben. Bei engerem, längerem Zusammensein hatte sich herausgestellt, daß das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter eine ernstliche Trübung erfahren hatte. Mit Besorgnis sah Frau Eva, daß Weio gereizt alles ablehnte, was von ihr kam. Sagte sie, das Wetter sei heute schön, so fand Violet es drückend; schlug sie vor, Violet solle doch einmal wieder baden gehen, so fand Violet Baden öde. Es war nichts zu machen, es war ein Widerstand da, eine Kampfstellung, etwas wie ernstliche Feindschaft.

Vielleicht habe ich ihr wirklich unrecht getan, überlegte Frau von Prackwitz. Vielleicht war da gar nichts – irgendeine harmlose Jungmädchengeschichte – von irgendeinem Fremden hat man ja wirklich nichts mehr gehört. Und sie ist nun tödlich in ihrer Mädchenehre gekränkt. Nun, dann ist es das beste, ich erzwinge nichts, sondern lasse ihr Zeit. – Eines Tages wird sie doch wieder zu mir kommen.

Weio hatte also ihre Freiheit zurück, von Stubenarrest war nicht mehr die Rede. Aber was sollte sie nun mit sich anfangen? Wie leer dieses Leben geworden war! Sie konnte doch nicht ewig so weiter warten! Bei dem Gedanken, ein, zwei, drei Jahre zu warten – und vielleicht vergeblich zu warten, schauderte sie. Dann lieber noch …, dachte sie. Aber sie wußte nicht, was lieber noch. Tod, der erste beste – sie wußte es nicht. Es mußte nur etwas geschehen! Aber es geschah nichts, rein gar nichts!

In den ersten Tagen ihrer wiedergewonnenen Freiheit war sie an all die alten Plätze gelaufen, wo sie mit Fritz gewesen war. Halbe Tage war sie im Walde auf und ab gegangen, dort, wo sie ihn einmal getroffen hatte. Die Stellen waren noch da, wo sie im Gras gelegen hatten, sie erinnerte sich an jede einzelne … Es war, als habe sich das Gras eben erst wieder aufgerichtet, als sei das Moospolster eben erst wieder glatt geworden – aber er kam nicht mehr. Manchmal schien es, als sei er nie mehr gewesen als ein Traum!

Sie war auch in den Schwarzen Grund gegangen, nach langem Suchen hatte sie die geschickt verborgene Stelle gefunden, wo die Waffen vergraben waren. Lange ging sie dort auf und ab, er mußte doch einmal kommen und nachsehen, ob das Geheimnis noch unverletzt war – er kam nicht!

Manchmal traf sie auf ihren Wegen im Walde den alten Förster Kniebusch. Er schüttete ihr sein Herz aus. Nun hatten sie ihn dem Wilddieb Bäumer gegenübergestellt, der Lump mußte Wind bekommen haben von den Prahlereien des Försters. Er, der nicht einen Augenblick bei Bewußtsein gewesen war, nach seinem Sturz vom Rade, behauptete frech, der Förster habe ihn vom Rad geworfen, mit dem Kopf viele Male auf den Stein gestoßen, ihn totschlagen, umbringen wollen! Sie hatten den alten Mann hart angefahren, sie hatten ihm gesagt, nur sein Alter schütze ihn vor sofortiger Haft. Von dem gewilderten Rehbock war nicht die Rede, erst sollte einmal der Totschlagversuch an dem Bäumer verhandelt werden! Und unterdessen lebte dieser Wilddieb wie ein Fürst im Krankenhaus, er hatte sein gutes Essen, fürsorgliche Pflege, ein Sonderzimmer, allerdings mit Gittern vor den Fenstern – es war ihm in seinem Leben noch nicht so gut ergangen, dem Lump, dem infamen!

Gelangweilt hörte Violet dies Gejammer an. Der Förster mußte ja selber wissen, was er von dem Gerede über einen Heldenkampf mit dem Wilderer Bäumer verantworten konnte! Sie hört erst wieder hin, wie der Förster berichtet, daß er auch den kleinen Inspektor Meier in Frankfurt getroffen hat. Doch der kleine Meier ist gar kein kleiner Mann mehr, er scheint ein großer Mann geworden zu sein, er hat Geld, viel Geld!

Der Förster schildert ausführlich, wie der Herr Meier gekleidet war, seine Eleganz, die kostbaren Ringe an seinen Fingern, eine goldene Uhr mit Sprungdeckel! Aber der kleine Herr Meier ist nicht hochmütig geworden, er hat den Förster zu einem Abendessen eingeladen, in ein feines Weinlokal. Es hat Rheinwein gegeben, und nachher Sekt, der zum Schluß mit rotem Burgunder gefärbt wurde, »Türkenblut« hat der kleine Meier das genannt! Der Förster leckt sich die Lippen bei dem Gedanken an diese Schlemmerei.

»Noch ein Schieber mehr!« sagt Weio verächtlich. »Dafür paßt der Negermeier ausgezeichnet! Und Sie haben ihm natürlich zum Dank für die Sauferei alles erzählt, was in Neulohe vorgeht?«

Der Förster protestiert rot und aufgeregt gegen diesen Verdacht. Er hat nicht einmal erzählt, daß der Herr Rittmeister nicht mehr hier ist, gar nichts hat er erzählt. Und im übrigen haben sie von ganz anderen Dingen geredet …

»Von was haben Sie denn geredet?« fragt Weio streitlustig. Aber das kann der Förster so genau nicht sagen. »Betrunken sind Sie gewesen, Kniebusch!« stellt Weio fest. »Sie wissen überhaupt nicht mehr, was Sie geredet haben. – Na, Weidmanns Heil!«

»Weidmanns Dank!« stammelt der Förster, und Violet geht allein weiter.

Der Förster langweilt sie mit seinem elenden Gewäsch, der Wald langweilt sie, die Großmutter mit ihren frommen Sprüchen langweilt sie. Der Großvater ist ewig geheimnisvoll verreist oder steckt beim Schulzen Haase oder ist schweigsam, nachdenklich und langweilig. Dem Diener Räder aber geht sie aus dem Wege, sie hat nicht einmal gefragt, wo er mit ihrem Brief geblieben ist. (Aber sie schließt jetzt, tags wie nachts, trotz des erstaunten Protestes der Mama, ihr Zimmer ab.) Ach, alles langweilt sie, ekelt sie … Ganz erstaunt fragt sich Violet, was sie denn eigentlich früher den ganzen Tag angefangen hat, ehe der Fritz kam? Sie grübelt, sie weiß es nicht. Alles ist schal und leer – alles ist langweilig.

Als einziges bleibt Wolfgang Pagel. Ihn müßte sie eigentlich noch mehr hassen als die Mutter, aber bei ihm ist es ihr ganz gleichgültig, wie er über sie denkt, was er ihr sagt, wenn er sie auslacht. Es ist, als habe sie gar keine Scham vor ihm, als sei er eine Art Bruder.

Die beiden haben einen unglaublichen Ton miteinander, die Großmutter im Schloß würde auf der Stelle in Ohnmacht sinken, wenn sie ihre Enkelin, für die sie den Lüstling Wolfgang von Goethe reinigt, mit dem jungen Pagel reden hörte.

»Nicht diese zärtlichen Berührungen, gnädiges Fräulein«, konnte Pagel sagen. »Ich sehe schon, Sie haben heute wieder Ihren gewendeten Tag, bei dem das Innere sich nach außen kehrt. Schwarze Ringe um die Augen, aber bedenken Sie, ich bin nur ein schwacher, hinfälliger Mann …«

Bei diesem Ton konnte Violet nicht ganz mit. Sie hing sich in seinen Arm, drückte ihn sehr und sagte: »Grade schön! Sie könnten ruhig mal ein bißchen nett zu mir sein, Sie brauchen nicht alles für Ihre Petra aufsparen.«

»Auf-zu-sparen!« korrigierte Pagel mit Studmännischer Pedanterie. »Sie könnten vielleicht einmal den Versuch machen, gelegentlich Deutsch zu lernen –?!«

Oh, er konnte sie ärgern, reizen, peinigen bis aufs Blut! Er hielt sie sich vom Leibe, zu Küssen kam es nicht wieder, da paßte er auf. Manchmal lief sie, Tränen der Wut in den Augen, mit hochroten Backen von ihm fort. Sie schwor, daß er ein Feigling, ein Lump, ein Schlappschwanz sei, daß sie nie wieder ein Wort mit ihm reden würde.

Am nächsten Morgen stand sie vor der Bürotür und wartete schon auf ihn.

»Na, wieder in Gnaden?« grinste er. »Ich schwöre Ihnen, Violet, ich bin heute noch feiger, noch lumpiger, noch schlappschwänziger aufgelegt.«

»Wenn mein Fritz wiederkommt«, rief sie mit blitzenden Augen, »erzähle ich ihm, wie Sie mich behandelt haben. Dann fordert er Sie und schießt Sie über den Haufen. Da freue ich mich aber!«

Pagel lachte nur.

»Denken Sie, ich tu’s nicht –? Ich tu’s bestimmt!« rief sie, schon wieder wütend.

»Imstande sind Sie dazu«, lachte er. »Das weiß ich schon lange, daß Sie eigentlich ein ganz kaltes Aas sind und daß die ganze Welt Ihretwegen gerne verrecken kann, wenn Sie nur kriegen, was Sie haben wollen.«

»Sie sollen verrecken!« schrie sie.

»Ja. Ja. Aber nicht jetzt, jetzt muß ich erst mal in die Pferdeställe. Die Senta hat heute nacht gefohlt – kommen Sie mit?«

Natürlich kam sie mit. Vor Rührung und Zärtlichkeit beinahe fassungslos, stand sie vor dem kleinen, hochbeinigen Geschöpf mit dem großen Kopf. Sie flüsterte aufgeregt: »Ist es nicht süß? Könnte man es nicht auffressen?! Ach, es ist himmlisch!«

Mit einem tiefinneren Vergnügen sah Wolfgang seine Violet von der Seite an. Und so was würde mich mit dem gleichen Vergnügen im Dreck liegenlassen, Herzschuß. Oder lieber noch Bauchschuß, daß ich ihr noch ein bißchen was vorjammere. Nee, da ist Peter mir doch hunderttausendmal lieber! Du taugst nichts; außen hopphe, aber innen faul! Ich habe nie was für die mulmigen Äpfel übrig gehabt!

Aber so ruhig und sicher sich Wolfgang Pagel sonst vor ihr fühlte, wie überlegen er seine kleine, gierige Violet anschaute, mit einem konnte sie ihn doch in eine fast sinnlose Wut bringen: wenn sie sich körperlich vor ihm gehenließ. Drängte sie sich an ihn, markierte sie halb ironisch Zärtlichkeit und Leidenschaft, nun gut, es mochte hingehen, es war nicht angenehm, aber es war zu ertragen. (Obwohl die Rolle des Joseph vor der Potiphar immer etwas Lächerliches hat.) Sie war nun einmal wach gemacht worden, sie hatte nicht gelernt, sich zusammenzunehmen, sich etwas zu versagen.

Aber wenn sie mitten auf einem Weg durch die Felder nachlässig überlegen zu ihm sagte: »Gehen Sie einen Schritt voraus, Pagel. Ich muß mal aufs Töpfchen«, wenn sie sich beim Baden mit einer Ungeniertheit vor ihm auszog, als sei er ihre Großmutter – dann kam ein wilder Zorn über ihn. Am liebsten hätte er sie geschlagen, er beschimpfte sie maßlos, zitternd vor Erregung.

»Verdammt noch mal, Sie sind doch keine Hure!« schrie er.

»Und wennschon!« sagte sie und sah ihn spöttisch, amüsiert an. »Sie hätten ja doch keinen Bedarf.«

Oder aber: »Wie Sie wieder angeben! Ich denke, Sie sind in festen Händen? Warum regt Sie denn so was auf?«

»Verrottet! Verfault! Verdorben bis ins Mark!« schrie er. »Da ist kein Fleck an Ihnen, der nicht Dreck ist!«

»Flecken sind meistens Dreck«, erklärte sie kühl.

Es war vielleicht nicht einmal die Beleidigung seiner Männlichkeit, die ihn so maßlos aufbrachte, trotzdem solche Dinge jeden Mann, und noch dazu einen dreiundzwanzigjährigen, empören müssen. Es war vielleicht viel stärker noch eine ihn plötzlich überkommende panische Angst: Wohin gleitet sie ab? Gibt sie sich schon ganz verloren? Will sie bewußt in den Dreck? Ist dieser Fünfzehnjährigen schon alles zum Ekel?

Jeder anständige Mensch fühlt sich ein wenig für seinen Mitmenschen verantwortlich –: nur die Bösen lassen ihre Brüder ohne Warnung in den Sumpf laufen. Pagel fühlte sich für seine tägliche Gefährtin Violet mitverantwortlich. War sein Zorn verraucht, versuchte er mit ihr zu reden, zu warnen. Aber es war unmöglich, ihr näherzukommen. Sie heuchelte ein völliges Unverständnis, sie saß in einem Stacheldrahtverhau alberner, landläufiger Redensarten: »Alle Menschen sind so – man muß gemein sein, sonst wird man bloß schlecht behandelt.« Oder aber: »Finden Sie es etwa anständig, wie Herr Studmann vor Mama balzt, grade wo Papa erst abgereist ist – und ich soll anständiger sein?! So dumm!« – Oder: »Sie erzählen mir auch nicht, was Sie alles mit Ihrem Fräulein Petra aufgestellt haben, ehe Sie zerplatzt sind! Sehr anständig werden Sie da auch nicht gewesen sein. Da brauchten Sie nicht grade bei mir mit der Anständigkeit anzufangen – wenn ich auch bloß ein Mädchen vom Lande bin.« – Oh, sie konnte teufelsschlau sein! Mit einem plötzlichen Übergang: »Ist es wahr, daß es in Berlin Lokale gibt, wo die Mädchen ganz nackt tanzen? Und da sind Sie drin gewesen? Na also! Und Sie wollen mir hier erzählen, Sie fallen in Ohnmacht, wenn Sie mal ein Stückchen von mir sehen?! Sie sind ja lächerlich!«

Es war nichts zu machen, sie wollte einfach nicht. Hundertmal war Wolfgang Pagel drauf und dran, mit Herrn von Studmann oder der gnädigen Frau über das Mädchen Violet zu sprechen. Wenn er es doch nicht tat, so schwieg er nicht aus irgendeinem albernen Gefühl lebemännischer Diskretion, sondern viel eher, weil er sich sagte: Was sollen die Alten dabei machen, wenn sie auf mich Jungen schon nicht hört?! Mit Strafen und Predigten wird so was bloß schlimmer. – Vielleicht muß ich reden, wenn sie mal ausreißen will oder hier etwas passiert, aber solange alles seinen alten Trott geht, passiert ihr schon nichts. Mit irgendeinem von den Bengeln hier läßt sie sich bestimmt nicht ein – dafür fühlt sie sich viel zu sehr als großmächtige Erbin und möchte nichts von ihrem Nimbus als künftige Besitzerin einbüßen. Und wenn dieser Lebejüngling, der Herr Leutnant Fritz, wieder auftauchen sollte, so erfahre ich es sofort. Dann werde ich mir diesen Knaben einmal vorknöpfen und ihm meine Ansicht auf den Buckel schreiben, daß er das Wiederkommen in diese glücklichen Gefilde für immer vergißt …

Pagel reckte und streckte sich. Er scheute sich nicht vor einer Prügelei mit dem längsten Laban des Dorfes. Das Vierteljahr Landleben hatte ihn in die Breite wachsen lassen, er fühlte sich für jeden Leutnant kräftig genug und für jeden Abenteurer hinreichend ausgekocht.

»Na, wen möchten Sie denn jetzt umarmen?« fragte Weio spöttisch.

»Ihren Leutnant Fritz!« sagte Pagel überraschend. Er sprang aufs Rad. »Tjüs, gnädiges Fräulein. Heute früh wird es nichts mit unserm Spaziergang, ich muß zu meinen Husaren! Aber vielleicht um eins –?«

Damit war er weg.

»Komm doch zu uns herein, Violet!« rief Frau Eva, die vom Bürofenster aus den Abschied der beiden beobachtet hatte und der das enttäuschte Gesicht Weios leid tat. »Ich fahre in einer Viertelstunde in die Stadt, Lohngeld holen. Komm mit – wir essen bei Kipferling Torte mit Schlagsahne.«

»Och!« machte Weio unentschlossen und schob die Unterlippe vor. »Ich weiß nicht, Mama. – Nein, danke schön, Schlagsahne macht auch bloß dick …«

Und sie ging rasch, um nicht wieder zurückgerufen zu werden, in den Park hinein.

»Manchmal mache ich mir doch rechte Sorge«, sagte Frau von Prackwitz.

»Ja?« fragte von Studmann höflich. Er saß über den Lohnlisten – obwohl er den Zahlen längst nicht alle Nullen gab, die ihnen zukamen, konnte keine Spalte den Reichtum fassen.

»Sie ist so unentschlossen, so lasch. Es steckt kein Leben in ihr …«

»Ein ziemlich kritisches Alter für junge Mädchen, nicht wahr?« schlug Herr von Studmann vor.

»Vielleicht ist es wirklich nur das«, sagte Frau Eva bereitwillig. »Was soll auch sonst dahinterstecken?« Sie dachte nach, dann sagte sie vorsichtig: »Sie ist eigentlich nur noch mit dem jungen Pagel zusammen, und der Ton zwischen den beiden scheint mir kräftig. Sie haben da keine Bedenken –?«

»Ich – Bedenken?«

Studmann sah ein wenig zerstreut von seinen Lohnlisten auf. Wenn man für das Anschreiben des Bruttolohns schon die Krankenkassenspalte zu Hilfe nehmen mußte, dann mußte man für die Kassenbeiträge die Invaliditätsspalte nehmen. Die Invaliditätsspalte war zu eng, man nahm die Lohnsteuerspalte dazu – und nun erwies sich, daß das Lohnbuch viel zu schmal war. Man hätte eine Art Atlas als Lohnliste haben müssen mit sämtlichen Längengraden des Erdballs … Verdammte Zucht! Und stimmen tat gar nichts. Mit strengem, unmutigem Gesicht sah der ordentliche Herr von Studmann seine unordentlichen Lohnlisten an.

»Herr von Studmann!« flötete die gnädige Frau mit jener Taubensanftheit, die jeden Mann zusammenschrecken läßt, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. »Ich fragte Sie eben, ob Sie nicht Bedenken wegen des jungen Pagel hätten –!«

Studmann fuhr zusammen, ganz wie es sich gehörte.

»Oh, Pardon, gnädige Frau, ich bitte tausendmal um Entschuldigung! Ich war hier ganz in meine elenden Lohnlisten vertieft. Es wird immer schlimmer, ich kriege sie nicht mehr stimmend. Und ich sehe ein: es hat keinen Sinn mehr, sich damit zu quälen. Ich schlage vor, wir zahlen jetzt nur noch runde Summen, zum Beispiel für jeden verheirateten Mann einen Milliardenschein. Wir legen zwar etwas drauf, aber ich sehe keinen andern Weg.«

Er sah Frau Eva gedankenvoll besorgt an.

»Einverstanden«, sagte sie friedlich. »Und wenn Sie sich nun noch, nachdem die Geldfragen geregelt sind, mit meinen Besorgnissen als Mutter beschäftigen würden? Mit meinen Bedenken wegen des jungen Pagel –?«

Herr von Studmann wurde sehr rot. »Gnädige Frau, ich bin ein schrecklicher Esel. Wenn ich mich in etwas verrannt habe, ist gar nichts mit mir anzufangen. Ich will es Ihnen erklären …«

»Nein, bitte nicht, lieber Studmann!« rief Frau Eva verzweifelt. »Ich möchte keine Erklärungen, sondern eine Antwort! – Manchmal«, meinte sie nachdenklich, »haben Sie doch eine verblüffende Ähnlichkeit mit Achim, sosehr Sie beide Gegensätze sind. Bei ihm kriege ich aus Hast, bei Ihnen aus Gründlichkeit keine Antwort. Das Ergebnis bleibt für mich gleich: Ich weiß noch immer nicht, ob ich mir wegen des Herrn Pagel Sorgen machen muß.«

»Bestimmt nicht«, erklärte Herr von Studmann eilig und schuldbewußt. »Ganz abgesehen davon, daß Pagel ein völlig zuverlässiger Ehrenmann ist, er ist auch ganz ungefährlich – bestimmt!«

»Ich weiß nicht«, sagte Frau Eva zweifelnd, »er ist doch sehr jung. Und er ist gewissermaßen jetzt völlig auf der Höhe, er sieht die letzten Wochen richtig strahlend aus. Ich merke das, da wird es ein junges Mädchen doch auch merken!«

»Nicht wahr?« fragte Herr von Studmann vergnügt. »Er hat sich mächtig rausgemacht! Ich bin ganz stolz auf meinen Erfolg! Als er aus Berlin kam, war er ein Wrack, krank, unlustig, faul – fast verdorben. Und jetzt? Sogar die Zuchthäusler strahlen, wenn sie ihn zu sehen kriegen.«

»Und meine Violet auch!« sagte die gnädige Frau trocken. »Sie führen nicht grade einen Beweis für die Ungefährlichkeit des jungen Mannes …«

»Aber, gnädige Frau!« rief Herr von Studmann vorwurfsvoll. »Er ist doch verliebt! So vergnügt und aufgeräumt und mit allem zufrieden ist doch nur ein Verliebter! Das muß man doch sehen – das sehe doch sogar ich vertrockneter Zahlenmensch.« (Er wurde wiederum rot, aber nur wenig, unter ihrem leicht spöttischen Blick.) »Als er hierherkam, hat er gedacht, die Sache wäre aus. Irgend etwas war ihm passiert, er war finster, ohne Leben. Nein, ich habe ihn nach nichts gefragt, ich wollte nicht. Ich halte Gerede über Liebe für unheilvoll, weil …«

Die gnädige Frau räusperte sich mahnend.

»Aber seit einiger Zeit hat sich die Sache wohl wieder eingerenkt, er bekommt und schreibt Briefe, er ist munter wie ein Vogel, er arbeitet mit Lust – er möchte die ganze Welt umarmen!«

»Aber bitte nicht meine Weio!« rief Frau Eva von Prackwitz mit Entschiedenheit.

Wolf unter Wölfen
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