8

»Was soll denn das?!« ruft der Leutnant empört. »Sie sind mir wohl nachgelaufen? Sie möchten mich wohl verhaften –?«

»Reden Sie doch keinen Unsinn, Mann«, sagt der Dicke ruhig. »Wie kann ich Sie denn verhaften? Wir sind doch nicht legal.«

»Bin ich jetzt schon ein Mann, kein Leutnant mehr?« fragt der Leutnant höhnisch. »Was wollen Sie also von mir?«

»Zum Beispiel gerne wissen, was Sie hier ausgerichtet haben?«

»Ich werde schon Herrn Richter darüber Bericht erstatten«, sagt der Leutnant höhnisch. »Alles wie befohlen.«

»Ich habe mir so gedacht«, entgegnet der Dicke, »daß Sie es vielleicht vergessen könnten. Darum bin ich Ihnen entgegengegangen.«

»Warum soll ich das vergessen? Ich habe in meinem Dienst noch nie was vergessen.«

»Ich habe es eben gedacht«, meint der Dicke entschuldigend. »Weil wir nämlich jetzt die Nachricht haben, welches Waffenlager ausgehoben ist.«

Er bleibt stehen, aber nur, weil der Leutnant auch stehengeblieben ist. Er richtet seinen kalten, erbarmungslosen Blick auf den Leutnant, er sagt sehr leise: »Na, Sie wissen es schon, Freundchen. Sie haben es schon drinnen gewußt beim Herrn Richter: Ihres ist es.«

»Ich habe es nicht gewußt!« schreit der Leutnant fast.

»Ruhig, ruhig, Freundchen«, sagt der Dicke und legt ihm die Hand auf die Schulter. Aber nicht beruhigend, sondern so, daß der Leutnant merkt, der andere hat Kräfte wie ein Ochs. »Es fragt sich nun nur, ob Sie mir erzählen wollen, wer geschwatzt hat. Ach, sagen Sie nichts«, meint er überlegen, »Sie kennen ihn oder Sie kennen sie, und wir möchten nun auch gerne Bescheid wissen. Für die Zukunft, verstehen Sie?«

»Ich weiß nichts«, leugnet der Leutnant hartnäckig.

»Reden Sie nicht! Der ehemalige Inspektor Meier aus Neulohe hat im Wagen von der Kontrollkommission gesessen, und der hat den Schnüfflern das Waffenlager gezeigt – das wissen wir nun auch. Machen Sie doch keine Geschichten, Mensch. Sie erzählen es mir doch nicht, damit ich einen Vorteil davon habe, sondern für Ihre früheren Kameraden, daß sie nicht noch einmal reinfallen.«

Den Leutnant überläuft es, wie der da von seinen »früheren Kameraden« spricht, aber er packt den Stier bei den Hörnern, er erklärt trotzig: »Ich hab gesagt, ich steh für das Waffenlager mit meinem Leben ein. Und wenn es wirklich futsch ist, tu ich, was ich gesagt hab.«

»Mein Lieber«, lächelt der andere und legt ihm wiederum die Hand auf die Schulter, aber nur sachte – und doch erzittert der Leutnant. »Mein Lieber, bilden Sie sich doch nichts ein, Sie sind erledigt, so oder so. Sie haben Mist gemacht, Sie haben gelogen – nein, Freundchen, Sie sind futsch …«

Er sieht den Leutnant mit seinem gefrorenen Blick an. Der Leutnant bewegt die weißen, dünnen Lippen, aber er bringt kein Wort heraus.

»Nein«, wiederholt der Dicke und nimmt die Hand zurück. »Um Sie handelt es sich nicht mehr, es handelt sich um die andern. Die wollen wir kennen …«

»Sie wissen ja doch alles«, sagt der Leutnant mühsam. »Sie sagen, der kleine Meier hat im Auto gesessen – da kennen Sie doch den Verräter!«

»Es gibt ein Verbindungsglied zwischen Ihnen und dem Verräter, das müssen wir kennenlernen.«

»Ich bin kein Verräter!« ruft der Leutnant.

»Habe ich das gesagt?« fragt der Dicke gleichmütig. »Glauben Sie, ich hätte Sie aus der Stube beim Richter gelassen, wenn Sie ein Verräter wären? Glauben Sie, ich ginge hier mit Ihnen, wenn Sie ein Verräter wären –? Nein, Sie sind bloß ein Windhund – und eine Art von Ehre haben Sie schon noch im Leibe … Trotzdem es ein besonderes Ding von Ehre sein muß – denn Sie haben bei Ihrer Ehre geschworen, das Waffenlager wäre sicher, und da wußten Sie schon, es war hops.«

»Ich habe es nicht gewußt!« ruft der Leutnant verzweifelt.

»Sie sind feige und dumm. Sie sollten nicht soviel an sich denken, Herr. Es ist gar nicht so wichtig, ob Sie leben. Geben Sie Ihrem Herzen einen Stoß und sagen Sie mir alles, was Sie wissen.«

Er bleibt stehen, er richtet seinen kalten Blick auf den Leutnant.

Der Leutnant scheint nachzudenken, aber dann sagt er bloß: »Warten Sie einen Augenblick. Ich gehe hier mal rein.«

Er geht in die kleine Kneipe, vor der sie gerade stehen. Aber der Dicke wartet nicht, er geht ihm nach, er hört zu, wie der Leutnant sagt: »Hören Sie, Herr Wirt, hier ist Ihre Windjacke wieder. Ich habe sie schon ausgebraucht. Geben Sie mir meine Lumpen zurück.«

»Aber so eilig wäre es doch nicht gewesen, Herr Leutnant. Herr Leutnant können doch nicht in der schmutzigen Jacke gehen! Warten Sie wenigstens, bis meine Frau sie ein bißchen ausgebürstet hat …«

»Geben Sie mir meinen Lappen zurück«, beharrt der Leutnant. Und während er die Windjacke wechselt, flüstert er leise: »Ich würde sie meinen Jungen morgen doch nicht anziehen lassen, nein!«

Des Wirtes Augen werden töricht vor Erstaunen.

»Wiedersehen und danke schön, Herr Wirt«, sagt der Leutnant und geht wieder aus der Kneipe.

»Immer Theater«, sagt der Dicke mißbilligend. »Auf die Windjacke wäre es nun auch nicht angekommen. Sie werden in Ihrem Leben schon mehr verdorben haben als eine Windjacke. Aber edel vor sich dastehen, ja, das möchten alle. Ich habe noch keinen Mörder getroffen, der gesagt hat, er hat wegen Geld gemordet. Eigentlich hatten alle eine edle Entschuldigung …«

»Hören Sie!« schreit der Leutnant. »Wenn Sie mir schon nachlaufen, halten Sie Ihre Schnauze! Oder …«

»Oder was –?« sagt der andere drohend, legt seine Hand um den Oberarm des Leutnants und drückt ihn zusammen. Der Druck verstärkt sich mehr und mehr, er scheint alle Muskeln zu zerdrücken, die Adern wollen platzen. Der Leutnant muß die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu schreien.

»Ich weiß, Sie haben eine Pistole in der Hosentasche. Versuchen Sie es, holen Sie das Ding doch raus, wenn ich nicht will.«

Nein, der Leutnant versucht es nicht einmal, dieser fürchterliche Griff zermürbt auch noch das Gefühl von Kampfkraft, das er immer gehabt hat.

Der Dicke läßt den Arm los, er sagt gleichmütig: »Im übrigen laufe ich Ihnen nicht nach, sondern ich bringe Sie.«

»Und wohin bringen Sie mich?«

»In den ›Goldenen Hut‹. Ich nehme Ihren Vorschlag an. Wir wollen einmal Herrn von Prackwitz und seine Tochter wegen des Waffenlagers befragen. Besonders seine Tochter.«

»Nein!« ruft der Leutnant und bleibt stehen.

»Warum nein?« fragt der Dicke. »Sie haben es selbst vorgeschlagen, Herr Leutnant!«

»Ich stehe nicht wie ein Angeklagter – grade vor diesen Leuten!«

»Die Sie nur vom Sehen kennen.« Der Dicke lacht. »Sie sind recht aufgeregt, junger Mann, bei der Aussicht, mit mir zu Fräulein von Prackwitz zu gehen?«

»Das Fräulein von Prackwitz kann mir –«, schreit der Leutnant.

»Richtig!« lacht der Kriminalist. »Genau, was ich annahm, Leutnant. Sie haben einen kleinen Privathaß auf das Fräulein – warum wohl?«

»Das Fräulein ist mir ganz gleichgültig.«

»Selbst jetzt, wo Sie sich zusammennehmen, können Sie nicht von ihr sprechen, ohne daß Ihr Gesicht zuckt. – Also, wie ist es, Leutnant, ›Goldener Hut‹ oder stille Beichte?«

»›Goldener Hut‹«, sagt der Leutnant entschlossen.

Sie mußten längst fortgefahren sein, wie sollten sie dort noch immer sitzen, jetzt, zwei, drei Stunden später? Nach dem Auftritt! Sie war geflohen, sie hatte ein Ansehen zu bewahren – aber selbst wenn sie nicht geflohen waren, vor die Augen von Vater und Tochter würde sich der Leutnant von diesem dicken Kriminalisten nicht führen lassen.

Er würde schon eine Gelegenheit finden zu fliehen, er würde sich nicht noch das Letzte nehmen lassen: seine Rache an ihr, aus freiem Willen. Er wollte nicht gerichtet sein – er wollte sie richten!

An etwas klammert sich der Mensch, ehe er zum Sterben geht, besonders, wenn er noch jung ist. Ehe er von dieser Erde scheidet, möchte er wissen, daß er nicht spurlos ausgewischt ist von der großen Schiefertafel des Daseins. Der Leutnant hatte keine Kinder, er hatte nichts zu vererben, an niemanden war ein Abschiedsbrief zu schreiben. Ausgelöscht würde er sein, als sei er nie gegangen über diese Erde. Lebend noch unter den Lebenden, waren schon abgefallen von ihm Ehre und Ziel, Selbstbewußtsein und Manneskraft. Aber –:

Verweile doch, du bist so schön! Noch immer so schön! Da ist das weiße, in der Lust zergehende Gesicht, das du nie hast lieben können, nun kannst du es doch hassen. Hinter der Stirn liegt ein Hirn, in das du dich einschreiben wirst, solange es denkt. In der Brust klopft ein Herz, dessen Schlag angstvoll wird beim Gedanken an dich – noch in dreißig Jahren, wenn nichts mehr von dir dasein wird auf diesem Stern. Kleine Ewigkeit des Gestorbenen in jener, die noch wandelt im Licht; Spuren des Vergangenen in der Überdauernden!

Zum ersten Male gehen die beiden schweigsam nebeneinander, der Leutnant, die Hände in den Taschen, mit einem rachsüchtigen Lächeln; der Kriminalist mit dem wachsamen Ausdruck im kalten Blick eines Hundes, der die Spur wittert.

Aber erst einmal hat der dicke Mann kein Glück. Der Kellner, der einen argwöhnischen, fast bösen Blick auf den Leutnant wirft, teilt mit, daß Herr von Prackwitz fortgegangen und daß das gnädige Fräulein erkrankt ist. Nein, nein, unmöglich, sie zu sehen. Der Arzt war schon da, das gnädige Fräulein ist bewußtlos …

Der Kellner dreht sich um, er fragt nicht einmal nach den Wünschen dieser Gäste. Bestimmt legt er auf ihr Bleiben keinen Wert, er geht wieder an seine Arbeit.

Etwas höhnisch fragt der Leutnant: »Und was wird nun?«

Eine Spur gereizt sagt der andere: »Sie fragen ein bißchen zu höhnisch. Sie verraten damit, wie froh Sie sind, daß aus dieser Unterhaltung noch nichts geworden ist. Nun, wir werden einfach hier auf Herrn von Prackwitz warten. Kellner, ein Helles!«

Der Leutnant ist entschlossen, nicht auf den Rittmeister zu warten, er hat sich einen Plan zurechtgemacht.

»Hören Sie zu«, sagt er. »Ich habe noch ein bißchen Geld in der Tasche, das mir gehört. Ich möchte das einem Mädchen schenken. Gehen wir rasch einmal dorthin, es dauert keine halbe Stunde.«

»Dem Mädchen beim Obersten –? Das hätten Sie vorhin besorgen können. Was hat sie Ihnen übrigens erzählt –? Ober, ein Helles!«

»Gar nichts!« antwortet der Leutnant bereitwillig. »Sie hatte eine Wut auf mich, weil ich nur käme, wenn ich etwas hören wollte. Wir wären Schisser und unser Putsch wäre auch Scheiße, irgend so etwas hat sie gesagt. Aber ich meine jetzt ein anderes Mädchen, in der Neustadt.«

»Schisser und Scheiße, das ist schon alles mögliche«, meint der Dicke. »Das hat sie nicht aus sich, darum ist sie wahrscheinlich auch wütend auf Sie gewesen. Solche Weiber werden immer wütend auf ihren Kerl, wenn irgendein Idiot schlecht von ihm spricht. – Ob der Kellner mir kein Bier bringen will? Herr Ober, ein Helles!«

»Lassen Sie Ihr Bier!« bittet der Leutnant. »Lassen Sie mich jetzt zu dem Mädchen gehen. Es dauert keine halbe Stunde – hinterher treffen wir den Herrn von Prackwitz immer noch.«

Der Ober setzt das Glas Bier hin. »Zwanzig Millionen!« sagt er unhöflich.

»Zwanzig Millionen!« entrüstet sich der Dicke. »Was habt ihr denn hier für Helles –?! Überall kostet es dreizehn Millionen.«

»Seit heute mittag. Der Dollar kommt jetzt mit zweihundertzweiundvierzig Millionen!«

»So«, knurrt der Dicke unzufrieden und zahlt. »Hätte ich das gewußt, hätte ich mir kein Bier gekauft. Zweihundertzweiundvierzig Millionen! Sie sehen, was das für einen Zweck hat, dem Mädchen Geld zu geben, davon wird sie auch nicht glücklich. Alles bloß Theater!«

»Ich habe da auch noch Briefe liegen, die ich wegholen möchte.«

»Briefe! Was denn für Briefe? Sie wollen bloß weg.«

»Also schön, bleiben wir sitzen. Dann trinke ich eben für mein Geld ’ne Flasche Wein. – Ober …«

»Halt!« sagt der Dicke. »Wo ist das?«

»Was –?«

»Wo das Mädchen wohnt?«

»In der Neustadt, Festungspromenade. Keine zwanzig Minuten hin.«

»Vorhin haben Sie gesagt, keine halbe Stunde hin und zurück. Was sind denn das für Briefe? Liebesbriefe?«

»Ich werde meine Liebesbriefe bei einem Mädchen aufheben, was?«

»Also gehen wir«, sagte der Dicke, trank aus und stand auf. »Aber das sage ich Ihnen, wenn Sie mir Geschichten machen, wie vorhin bei der Kaserne …«

»Das haben Sie also auch gesehen –?«

»Ich stoß Sie nicht bloß vor die Brust – ich nehme den Bauch, daß Sie nie wieder gradegehen können!«

Etwas flammt auf in dem eiskalten Blick, drohend wird der Leutnant angesehen. Aber diesmal wirkt es nicht auf ihn, er lächelt bloß.

»Ich mache schon keine Geschichten«, sagt er beruhigend. »Und übrigens habe ich, scheint mir, nicht mehr viel gradezugehen, wie? Drohen hat bei so einem wie ich eigentlich wenig Zweck, was?«

Der Dicke zuckt die Achseln, aber er schweigt, und schweigend gehen die beiden nebeneinander durch die verregneten, menschenleeren Straßen der Stadt.

Der Leutnant möchte überlegen, wie er von seinem Peiniger loskommt, er weiß von keinem Mädchen, er weiß nichts von Briefen in der Neustadt. Aber er hat gedacht, hier draußen müßte es leichter sein, auszureißen, irgendwie diesen Schnüffler abzuschütteln, um das zu tun, was getan werden muß, ohne neue Demütigung, ohne quälende Aufsicht. (Werde ich denn auch wirklich Mut genug haben – dafür?)

Aber es wird nicht so leicht sein, diesen Wachhund zu täuschen. Obwohl der Mann anscheinend ganz gleichgültig neben ihm herschlendert, der Leutnant weiß wohl, was diese Hand immer in der Hosentasche bedeutet. Er weiß, warum der andere so nahe neben ihm geht, daß bei jedem Schritt Schulter die Schulter streift. Macht er nur die geringste überraschende Bewegung, die Faust des andern wird nach ihm langen, mit diesem zermürbenden, mutlos machenden Griff. Oder aber es wird ein-, zweimal knallen, hier mitten auf den Straßen der Stadt, und dann wird wieder etwas über einen »Fememord« in den Zeitungen stehen.

Nicht so! Nicht so! denkt der Leutnant fieberhaft aufgeregt, und er versucht, sich die Ortsverhältnisse aller Kneipen auf ihrem Wege vorzustellen, wo etwa die Möglichkeit besteht, von den Toiletten über den Hof zu entkommen. Aber er kann sich nicht auf seine Aufgabe konzentrieren, sosehr er sein Hirn zwingen will, es verweigert ihm den Dienst …

Immer wieder kommt ihm das Bild von Violet von Prackwitz dazwischen, sie liegt bewußtlos, hat der Kellner gesagt. Eine grimmige Freude erfüllt ihn –:

Jetzt liegst du schon bewußtlos – von meinen bißchen Drohungen. Aber du sollst erst sehen, wie dir dieses Leben schmecken wird, wenn ich meine Drohung wahr gemacht habe … Ach, ich will an die Kneipen denken. Also, jetzt kommen wir gleich an der »Feuerkugel« vorbei …

Ach, der Leutnant, der Leutnant – er ist wie getränkt von diesem Mädchen! Jetzt, knapp vor seinem Tode, bekommt der Flüchtige noch einen Lebensinhalt, dieser Mann, der hundert Weibergeschichten gehabt, der nie geliebt hat, entdeckt den Haß – ein Gefühl, für das zu leben sich lohnt! Er malt sich aus, wie es sein wird, wenn sie ihn sieht, er meint in seinen Ohren ihre Schreie zu hören. Sie muß ja dazukommen, es kann gar nicht anders sein, er wünscht es zu stark. Die Wünsche der Sterbenden gehen in Erfüllung, denkt er – und fährt zusammen.

»Was ist los?!« fragt der Dicke völlig wach.

Die Wünsche der Sterbenden gehen in Erfüllung, denkt der Leutnant wiederum, von einer starken Freude erfüllt. Und sagt laut: »Da, der Herr von Prackwitz!« Und boshaft: »Sie wollten ihn ja wohl sprechen. Bitte sehr!«

Ihr Weg nach der Neustadt hat die beiden in die alten, längst geschleiften, viel zu eng gewordenen Festungsanlagen geführt. Die Stadtväter haben aus Wall und Graben eine Promenade für die Bürger geschaffen. Da, wo sie jetzt gehen, ist Festungsgraben, steil steigen rechts und links die Wälle, mit Bäumen und Gebüsch bestanden, empor. Die beiden sind um eine Biegung gekommen, sie übersehen ein Stückchen Weg, eine einsame, abgelegene Stelle.

An dem Weg steht eine Bank, eine regentriefende Bank. Auf der Bank hockt der Rittmeister von Prackwitz. Jawohl, da hockt er, aber er wacht nicht, sein Kopf hängt tief auf die Brust, er schläft den bewußtlosen, röchelnden Schlaf des völlig Betrunkenen. Von Zeit zu Zeit, wenn der Atem zu hinderlich röchelt, gibt der Kopf sich einen Ruck, er richtet sich fast grade auf und sinkt dann langsam, stoßweise doch wieder erst auf eine Schulter, dann auf die Brust zurück …

Es ist ein kläglicher Anblick, es ist ein beschämender Anblick, den der Herr von Prackwitz bietet – die beiden Beschauer stehen einen Augenblick stumm, still. Der Rittmeister ist ja nicht umsonst in diesem einsamen Anlagenwinkel auf der Suche nach seinem Auto gelandet – er ist hierher verschleppt worden, er ist hier ausgeplündert worden!

»Die sind wie die Aasgeier!« ruft der Dicke wütend. »Das Gesindel wittert seine Beute immer noch schneller als wir.«

Und er wirft einen raschen, argwöhnischen Blick die Wälle hoch.

Aber kein Zweig knackt in den Büschen, kein flüchtiger Fuß läßt einen Stein die Abhänge hinabrollen. Sie sind längst fort mit ihrer Beute, die Geier. Ausgeraubt, ausgezogen bis auf die Unterwäsche, eine lächerlich-beweinenswerte Figur, schläft der Rittmeister Joachim von Prackwitz-Neulohe seinen betrunkenen Schlaf im Nieselregen. Zu schwach, zu schwach – an den Widerständen, an den Widrigkeiten, die die Kraft des Starken anfachen, zerbricht er, flieht in das Nirwana, in die schmutzigen Betäubungen des Alkohols – um wie zu erwachen?!

»Sie wollten den Herrn ja wohl sprechen?!« höhnt der Leutnant noch einmal.

Und innerlich frohlockend: Die Wünsche der Sterbenden erfüllen sich! Wie wirst erst du entwürdigt werden, da es schon deinem Vater so ergeht.

»Verdammte Schweinerei!« wütet der Dicke und läßt kein Auge von dem Leutnant.

Er ist genau in der Lage jenes Fährmanns, der einen Wolf, eine Ziege und einen Kohlkopf übersetzen soll – und in seinem kleinen Nachen hat immer nur eines von den dreien Platz. Er kann auf den Leutnant aufpassen, oder er kann dem Rittmeister helfen – beides wird sich kaum vereinigen lassen.

»Lassen Sie den Herrn von Prackwitz nur sitzen«, rät der Leutnant boshaft. »Es hat keiner gesehen, daß wir ihn hier gefunden haben. Und ich, ich werde ja meinen Mund halten müssen.«

Der Dicke antwortet nicht, er steht nachdenklich da. »Leutnant!« sagt er dann eifrig. »Geben Sie sich einen Stoß! Sagen Sie mir, wer das Waffenlager verquatscht hat – und ich lasse Sie laufen.«

Der Leutnant sagt zögernd: »Es ist allein meine Sache. Ich will nicht, daß irgend jemand anders seine Nase da reinsteckt. Aber ich gebe Ihnen mein heiliges Ehrenwort darauf, daß alles bloß blöder Weiberklatsch und Tratsch war, kein böser Wille …«

Der Dicke steht nachdenklich da. »Ich muß die Namen wissen«, sagt er dann. »Es ist nicht nur das Fräulein von Prackwitz gewesen …«

»Es ist nicht das Fräulein von Prackwitz gewesen –!« ruft der Leutnant hastig.

Er bekommt einen fürchterlichen Schlag in die Magengrube. Der Dicke ist über ihm wie ein plötzlich losbrechendes Gewitter. Vor seinem Hagel von Schlägen kommt er überhaupt nicht zur Gegenwehr. Er ist am Boden, ehe er sich noch besonnen hat. Der andere greift in seine Tasche, er zieht die Pistole heraus. Er schimpft: »Ungesichert in der Hose – ihr seid Scheißkerle! So, mein Jungchen, nun tu, was du nicht lassen kannst, ohne Waffe! – Aber ich habe dich wieder, ehe du denkst …«

Der Leutnant liegt am Boden, er kann nicht einmal antworten. Der ganze Leib schmerzt ihn, aber viel schlimmer ist die wütende Verzweiflung. Dieser Dicke, dieser erbarmungslose, brutale Koloß – er ist schon an der Bank, er hat schon den Rittmeister auf den Armen …

Ich muß auf! Ich muß fort …, denkt der Leutnant.

Im Vorüberlaufen versetzt ihm der Dicke noch einen fürchterlichen Tritt in die Seite, er meint ihn lachen, ihn kichern zu hören im Forteilen …

Er will mich zuschanden machen, daß ich ihm nicht fortlaufen kann, denkt der Leutnant – und ist allein.

Er liegt da, er wartet auf das Wiederkommen der Kräfte, auf ein bißchen Atem, auf die Segnung eines Entschlusses …

Es ist meine letzte Chance, denkt er. Ich muß ja fort, in den Schwarzen Grund, in den Schwarzen Grund. – Aber ich habe keine Waffe – von den Kameraden gibt mir keiner eine. Die wissen alle schon Bescheid … Ach, ich muß ja fort …!

Taumelnd erhebt er sich, der zweite Niederschlag an diesem Tage, aber der zweite war der schlimmere.

»Ich darf nicht so schleichen, ich muß schnell gehen, ich muß laufen«, flüstert er zu sich und bleibt stehen, hält sich an einem Baum fest. Sein ganzes Gesicht brennt wie blutiges, offenes Fleisch. Ich kann doch nicht so in die Stadt, ich muß schlimm aussehen, er hat mich schrecklich zugerichtet, dieses brutale Schwein! Das hat er grade gewollt!

Er weint fast vor Mitleid mit sich, er weint fast, weil es so feige ist, zu weinen. Er stöhnt: O mein Gott, mein Gott, ich will ja gerne sterben. Warum lassen sie mich denn nicht in Ruhe sterben …?! Hilft mir denn kein einziger, mein Gott?!

Eine Weile später merkt er, daß er wieder geht. Er ist schon aus den Anlagen heraus, er ist in den Stadtstraßen.

Aber ich muß viel schneller gehen, denkt es in ihm. Der erwischt mich bestimmt, spätestens in meinem Gasthof. Ja, glotz nur, du Affe, so sieht einer aus, den sie vertrimmt haben!

Und laut, herausfordernd, krakeelig wie ein Betrunkener: »Glotz nur, Affe!«

»Guten Tag, Herr Leutnant«, sagt eine höfliche, eine sehr höfliche Stimme zu ihm. »Herr Leutnant erinnern sich meiner vielleicht nicht mehr –?«

Durch den Nebel aus Schmerz und Betäubung versucht der Leutnant das Gesicht zu erkennen. In all seiner schmachvollen Entwürdigung berührt ihn die höfliche, kühle, leidenschaftslose Stimme angenehm. Ihm ist, als habe seit Ewigkeiten kein Mensch mehr so zu ihm gesprochen.

»Räder«, hilft ihm der andere. »Mein Name ist Hubert Räder. Ich war der Diener in Neulohe – nicht beim Geheimrat, bei den jungen Leuten, dem Rittmeister …«

»Ach, Sie sind der«, ruft der Leutnant fast erfreut aus, »der mir damals nicht auf die Kastanie geholfen hat. Jawohl, ich weiß noch …«

»Jetzt aber würde ich dem Herrn Leutnant gerne behilflich sein. Wie bereits gesagt, ich bin nicht mehr Diener in Neulohe. Herr Leutnant sehen aus, als wenn Sie Hilfe brauchten …«

»Ja«, murmelt der Leutnant. »Ich bin gefallen.« Er überlegt: »Ich bin überfallen worden.«

»Wenn ich Herrn Leutnant irgendwie zu Diensten sein kann –?«

»Hauen Sie ab, Mensch, belästigen Sie mich nicht!« schreit der Leutnant plötzlich. »Ich will nichts mit euch Leuten aus Neulohe zu tun haben – ihr bringt mir alle Unglück!«

Und er versucht, schneller zu gehen, um von seinem Begleiter loszukommen.

»Aber, Herr Leutnant!« sagt die ruhige, leidenschaftslose Stimme neben ihm. »Ich bin doch nicht aus Neulohe. Und wie gesagt, ich bin dort auch nicht mehr tätig, kurz gesagt, man hat mich hinausgeworfen …«

Der Leutnant bleibt plötzlich stehen. »Wer hat Sie rausgeworfen?« fragt er.

»Der Herr Rittmeister, Herr Leutnant«, sagt der andere. »Herr Rittmeister hatte mich engagiert, und Herr Rittmeister hat mich auch hinausgeworfen – sonst wäre doch niemand gesetzlich dazu berechtigt gewesen.«

Er sagt dies mit einer gewissen albernen Genugtuung. Der Leutnant versucht, das Gesicht vor sich zu erkennen, eine Erinnerung kommt ihm: Violet hat ihm von diesem Diener erzählt, einem eingebildeten Dummkopf.

»Warum sind Sie denn rausgeworfen worden?« fragt der Leutnant wieder.

»Das gnädige Fräulein hat es so gewünscht«, berichtet der Diener kurz. »Ich habe dem gnädigen Fräulein von Anfang an nicht zugesagt. Es gibt eben solche Antipathien – ich habe es in einem Buche gelesen, wissenschaftlich heißen sie Idio-syn-kra-si-en!«

Wieder fährt dem Leutnant der Satz durch den Kopf: Die Wünsche der Sterbenden gehen in Erfüllung. Er möchte diese so gelegen kommende Hilfe in Anspruch nehmen. Aber irgend etwas in der eigenen Brust warnt ihn; diese Hilfe kommt gar zu gelegen, ein Argwohn ist in ihm wach.

»Hören Sie zu«, sagt er zu dem Diener, »gehen Sie schnell in den ›Goldenen Hut‹. Dem Herrn Rittmeister ist ein Unfall zugestoßen. Sie werden dort empfangen werden wie der liebe Heiland – wieder angestellt werden Sie, das Gehalt wird Ihnen verdoppelt, Mensch!«

Zum ersten Male trifft den Leutnant voll der trübe, graue Blick des Fischauges.

»Nein«, erklärt der Diener und schüttelt den Kopf. »Herr Leutnant verzeihen, aber wir haben schon auf der Dienerschule gelernt, man soll nie auf eine Stelle zurückgehen, von der man einmal fortgegangen ist. Es ist praktisch erprobt, daß dies nicht zweckmäßig ist.«

Der Leutnant ist völlig erschöpft. »Dann hauen Sie ab, Mensch!« sagt er müde. »Ich kann keinen Diener brauchen, ich kann keinen Diener bezahlen, lassen Sie mich also in Frieden!«

Er geht weiter. Er denkt wieder an den dicken Kriminalisten. Er hat hier so viel Zeit vertrödelt, er hat kaum noch Zeit – und es ist noch so weit bis in seinen Gasthof!

»Was wollen Sie denn immer noch?!« ruft er ärgerlich zu seinem stummen Begleiter.

»Ich möchte Herrn Leutnant gerne behilflich sein«, lautet die unerschütterliche Antwort. »Der Herr Leutnant brauchen Hilfe.«

»Nein!« schreit der Leutnant.

»Wenn Herr Leutnant gestatten«, flüstert die hartnäckige Stimme, »ich habe hier ganz nahebei ein kleines Zimmer genommen. Herr Leutnant könnten sich dort in aller Ruhe waschen. Ich würde unterdes die Kleider vom Herrn Leutnant reinigen …«

»Ich scheiß auf die Kleider!« ruft der Leutnant ärgerlich. »Jawohl, Herr Leutnant! Und Herr Leutnant würde vielleicht einen starken Mokka mit einem doppelten Kognak gut gebrauchen.« Mit einem leicht vertraulichen Unterton: »Ich kann mir ja denken, daß der Herr Leutnant seine Kräfte heute noch nötig haben wird.«

»Was können Sie sich denken, Sie Esel!« ruft der Leutnant zornig. »Was wissen Sie von meinen Kräften!«

»Nun, wegen des verratenen Waffenlagers doch!« erklärt die höfliche, kalte Stimme. »Ich kann mir doch denken, daß Herr Leutnant nicht so ohne weiteres hinnehmen wird, was ihm das gnädige Fräulein angerichtet hat …«

Der Leutnant steht wie vom Donner gerührt. Seine geheimsten Gedanken im Hirn dieses hergelaufenen Trottels! Er begreift es nicht.

Aber dann sagt er hastig: »Also, kommen Sie her, zeigen Sie mir Ihr Zimmer. Aber wenn Sie die geringste Hinterlist vorhaben –!«

»Ich werde dem Herrn Leutnant erklären. Es ist alles ohne weiteres faßlich. Bitte, hier entlang, Herr Leutnant. Wenn ich den Arm vom Herrn Leutnant nehmen dürfte, würde es schneller gehen …«

 

Eine halbe Stunde später sitzt der Leutnant schon einigermaßen erholt in der tiefen Sofaecke des Räderschen möblierten Zimmers. Er hat einen Mokka mit sehr viel Kognak getrunken, und der Diener ist grade dabei, ihm einen zweiten fertigzumachen.

Nachdenklich schaut der Leutnant dem ruhigen Hantieren des wunderlichen Menschen zu, schließlich sagt er: »Hören Sie mal her, Herr Räder!«

»Einen Augenblick bitte, Herr Leutnant. Sie werden entschuldigen, daß es nicht schneller geht, es ist alles sehr primitiv hier.«

Und er mustert die Bude mit einem verächtlichen Blick.

»Warum sind Sie eigentlich nach Ostade gekommen, Mensch?« fragt der Leutnant. »Doch nicht etwa, weil Sie mich treffen wollten –?«

Und der Leutnant lacht, so unwahrscheinlich kommt ihm selber dieser Verdacht vor.

Aber der Diener antwortet ernsthaft: »Doch, Herr Leutnant. Ich hoffte, den Herrn Leutnant zu finden. Ostade ist ja kein größerer Ort.«

Er stellt den Mokka vor den Leutnant, ohne der Wirkung seiner Worte irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken. Dann rückt er die Kognakflasche griffrecht.

»Ich würde jetzt zu etwas weniger Kognak raten, Herr Leutnant sind schon wieder ganz mobil. Und Herr Leutnant wollen doch sicher einen klaren Kopf behalten?«

Er richtet den fischigen, ausdruckslosen Blick auf den jungen Mann, den es leise schaudert.

Wenn dieser Kerl kein Dummkopf ist, dann ist er ein abgrundtiefer Schurke, denkt er plötzlich.

Und laut: »Und warum wollten Sie mich finden? Aber sagen Sie jetzt nicht, um mir behilflich zu sein!«

»Weil ich dachte, es würde den Herrn Leutnant interessieren, wie das Lager verraten wurde.«

»Und wie wurde es verraten?«

»Weil der Herr Leutnant doch nicht mehr zu dem gnädigen Fräulein kamen und auch die Briefe nicht aus dem hohlen Baum nahmen, hat das gnädige Fräulein das von dem Waffenlager an den Herrn Meier geschrieben, weil das gnädige Fräulein doch wußten, daß der Herr Meier auch solche Wut auf den Herrn Leutnant hatten.«

»Das lügst du!«

»Wie der Herr Leutnant meinen.« Die Antwort klingt unerschüttert. »Wieviel Kognak befehlen Herr Leutnant? Der Mokka ist grade richtig heiß.«

»Na, gieß schon. Die Tasse kann ruhig voll werden, das wirft mich nicht um.« Der Leutnant sieht scharf in das graue, trübe Gesicht. »Selbst wenn es wahr wäre, das Fräulein würde es Ihnen nicht gesagt haben.«

»Wo ich doch die Adresse von dem Herrn Meier habe für das gnädige Fräulein ermitteln müssen.«

Der Leutnant trinkt langsam einen Schluck. Dann brennt er sich eine Zigarette an. »Und darum kommen Sie hierher, bloß um mir das zu erzählen? Wo ist denn Ihr Interesse?«

Das kalte, leblose Auge richtet sich wieder auf den Leutnant.

»Weil ich doch ein rachsüchtiger Mensch bin, Herr Leutnant. Es ist alles leicht faßlich, wie ich schon bemerkt habe.«

»Weil sie gewollt hat, daß der Rittmeister Sie rausschmeißt?«

»Auch«, sagt der Diener. »Und auch noch wegen anderem – es sind gewissermaßen diskrete Dinge, Herr Leutnant.«

»Hören Sie zu, alter Freund!« ruft der Leutnant hitzig. »Spielen Sie hier nicht den Gentleman, kramen Sie aus, was Sie wissen – oder Sie erleben was! Ich habe Sie im Verdacht, daß Sie ein ganz gerissener Hund sind …«

Der Leutnant sieht mit Staunen, daß das graue Gesicht des andern sich ein wenig rötet. Ein unangenehm süßlicher, geschmeichelter Ausdruck liegt darauf.

»Ich suche mich zu bilden«, sagt der Mann. »Ich lese Bücher; nein, keine Romane, wissenschaftliche Werke, oft mehrere hundert Seiten stark …«

Wieder denkt der Leutnant: Wenn dieser Kerl kein Idiot ist, ist er ein abgrundtiefer Schurke. – Aber natürlich ist er ein Idiot, einen so gerissenen Schurken gibt es nicht!

Und laut: »Also erzählen Sie Ihre diskreten Heimlichkeiten. Haben Sie keine Angst, ich werde schon nicht rot werden.«

»Es ist«, berichtet der Diener wieder ganz leblos, »weil das gnädige Fräulein mich nicht wie einen Menschen behandelt hat. Es hat sich ausgezogen und angezogen in meiner Gegenwart, als sei ich ein Stück Holz. Und wenn die Herrschaften auswärts waren, die Herren Eltern meine ich, dann hat das gnädige Fräulein mich immer in das Badezimmer befohlen, daß ich es abtrockne.«

»Und Sie waren natürlich verliebt in die Violet?«

»Jawohl, Herr Leutnant. Ich bin noch in das gnädige Fräulein verliebt.«

»Und sie hat das gewußt, hat Sie bloß quälen wollen?«

»Jawohl, Herr Leutnant. Das war die Absicht dabei.«

Stille. Schweigen.

Der Leutnant sieht von der Seite den Diener an, er denkt: Und so was, dieser Stockfisch und Dummkopf, hat also auch Gefühle. Das leidet und quält sich, genau wie ein richtiger Mensch …

»Und warum rächen Sie sich nicht selbst –?«

»Ich bin gewissermaßen ein friedliches Temperament, Herr Leutnant. Gewalttätigkeiten liegen mir nicht.«

»Sie sind also feige?«

»Jawohl, Herr Leutnant. Ich bin friedfertig.«

Der Leutnant denkt nach. Dann sagt er lebhaft: »Hören Sie zu, Herr Räder. Gehen Sie in den ›Goldenen Hut‹, Sie werden da einen dicken Herrn treffen. Sie werden ihn schon erkennen, einen Kriminalisten, mit steifem schwarzem Hut. – Wenn Sie dem das von Violets Brief an den Inspektor Meier erzählen, dann wird die junge Dame nicht mehr viel frohe Stunden im Leben haben.«

»Verzeihung, Herr Leutnant«, sagt der Diener hartnäckig. »Ich bin nicht für die Polizei. Ich bin für den Herrn Leutnant.«

Eine Weile war es still im Zimmer. Der Leutnant stocherte nachdenklich mit dem Löffel in seiner Tasse herum. Der Diener stand in einer aufmerksamen und doch indifferenten Haltung da. Dann faßte der Leutnant über den Tisch nach der Kognakflasche, er goß die Tasse mit Kognak voll und nahm einen Schluck.

Nun sah er den Diener an und sagte leise: »Ich werde diese Sache aber vielleicht etwas anders erledigen, als Sie sich denken, Räder.«

»Es wird schon recht sein, Herr Leutnant.«

»Wenn Sie denken, ich werde gewalttätig gegen das Fräulein …«

»Herr Leutnant werden schon alles überlegt haben, wie es am wirksamsten ist.«

»Am wirksamsten, ja …«, antwortet der Leutnant.

Und nun sind sie lange still. Der Leutnant trinkt in kleinen Schlucken seinen Kognak, der Diener steht unter der Tür.

»Räder!« ruft endlich der Leutnant.

»Jawohl, Herr Leutnant?«

»Wann wird es jetzt eigentlich dunkel?«

Räder tritt an das Fenster, er sieht in den trüben, rieselnden Abend hinaus. »Bei so bedecktem Himmel – kurz nach sechs«, entscheidet er.

»Sie müssen mir also ein Mietsauto besorgen, für Viertel sieben, hier an die Tür. Es muß mich bis an die Grenze der Neuloher Forst fahren. Vereinbaren Sie vorher den Preis.«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

»Wenn Sie aus dem Haus kommen und auch auf den Straßen – sehen Sie, ob irgendwo dieser dicke Kriminalbeamte herumschnüffelt, von dem ich Ihnen sagte. So ein fetter, bartloser Mann, blasses, aufgeschwemmtes Gesicht, ein merkwürdiger Blick – wie Eis. Schwarzer Überzieher mit Samtkragen, schwarzer steifer Hut …« Ungeduldig: »Sie werden ihn schon erkennen, Mensch!«

»Jawohl, Herr Leutnant, wenn ich ihn sehen sollte, werde ich ihn erkennen. Darf ich dann jetzt gehen?«

»Ja …«, antwortet der Leutnant nachdenklich, und plötzlich lebhaft, aber doch verlegen: »Hören Sie, Räder, ich habe noch einen Auftrag für Sie …«

»Bitte sehr –?«

»Ich brauche noch«, sagt der Leutnant zögernd, »ich brauche noch eine Schußwaffe – ich habe meine verloren …«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

»Werden Sie das erledigen können?«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

»Aber es wird nicht so einfach sein, heute hier eine Pistole zu bekommen. – Und natürlich etwas Munition, Räder!«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

»Sie sind sicher?«

»Ganz sicher, Herr Leutnant.«

»Wegen der Kosten …«

»Ich bin Herrn Leutnant gerne behilflich.«

»Ich habe noch etwas Geld. Ob es freilich für Auto und Waffe reicht …«

»Ich regle das, Herr Leutnant. – Ich werde also in einer Stunde zurück sein.«

Hubert Räder ist lautlos gegangen, der Leutnant ist allein in der möblierten Stube. Eine kleine Schwarzwälder Uhr tickt laut an der Wand, in der Küche raschelt und klappert manchmal die Wirtin. Der Leutnant liegt in Unterwäsche auf dem Sofa – seine Kleider trocknen noch am Ofen.

Er sieht auf den Tisch – dort steht die leere Tasse vor der Kognakflasche, die noch dreiviertel voll ist. Die Hand des Leutnants tastet sich langsam über den Tisch zu der Flasche hin – und zieht sich wieder zurück. Herr Leutnant brauchen einen klaren Kopf, klang die unausstehliche, immer etwas belehrende Stimme des Dieners.

Wieso braucht man denn dazu einen klaren Kopf? denkt der Leutnant. Sag mir das doch, du Schafskopf!

Aber trotzdem schenkt er sich nichts mehr ein. Schon jetzt steigt die Trunkenheit wie eine Welle in ihm hoch, sinkt wieder und steigt neu und höher … Er wirft einen Blick auf die Uhr: fünf Minuten vor halb sechs. Noch eine gute Dreiviertelstunde hat er allein für sich, beharrt er gewissermaßen noch im Leben – dann wird er immer schneller seinem Ende zueilen. Er heftet den Blick auf den Minutenzeiger. Er bewegt sich unendlich langsam, nein, er bewegt sich gar nicht, man sieht nichts davon, daß sich der kleine Zwischenraum zwischen Minuten- und Stundenzeiger verringert. – Und doch wird es urplötzlich Viertel nach sechs geworden sein, wird die letzte freie Zeit seines Lebens für ihn verstrichen sein.

Er versucht an Violet von Prackwitz zu denken, er will seinen Zorn wieder anfachen. Aber auf einer neuen Welle von Trunkenheit schwankt Räders fischiger, ledriger Kopf herauf mit den grauen, toten Augen. Der Kerl macht nie den Mund auf beim Reden, ich habe nicht einmal seine Zähne gesehen, denkt er plötzlich voller Ekel. Sicher hat er lauter verdorbene, schwarze Stummel im Maule. Darum macht er das Maul nicht auf beim Reden – alles verschimmelt und verfault!

Der Leutnant will noch einmal nach der Uhr sehen, aber er kriegt den Kopf nicht mehr hoch von der Sofalehne. Er schläft. Er verschläft seine letzte freie Lebenszeit, schläft, schläft …

 

Das Auto fährt durch die Nacht – im Lichte seiner weißen Scheinwerfer glänzen die regenfeuchten Stämme auf und sind schon wieder dunkel, schwarz, vorbei, ehe sie das müde, gequälte Auge noch recht erfaßt hat. In der Wagenecke sitzt der Leutnant, er liegt halb, er schläft noch beinahe, er kann noch immer nicht recht wach werden …

Ein bohrender Schmerz sitzt in seinem Schädel, er hindert ihn am klaren Denken. Der Leutnant bekommt es nicht heraus, ob es richtig ist, daß da vorn, auf der andern Seite der trennenden Glasscheibe, neben dem Chauffeur der Diener Räder sitzt. Es ist ihm, als hätte er nicht gewollt, daß dieser ekelhafte Kerl mitfährt. Aber dann fällt ihm wieder ein, daß ja der Diener dies Auto bezahlt. Mag er also in seinem Auto fahren, soviel er will, die Hauptsache ist, daß er gleich wieder umkehrt.

Der Leutnant ist fast froh, daß er trotz seiner Kopfschmerzen diese Lösung gefunden hat. Nun braucht er über nichts mehr nachzudenken. Es ist alles gut und in Ordnung, auch der Dicke hat ihn nicht mehr erwischt. Von jetzt an geht alles von selbst, er wird bis an den Ort gefahren – und dann ist es nichts wie ein leichter Knips. Es ist wirklich nur ein Knips, die einfachste Sache von der Welt, man braucht sich gar keine Gedanken deswegen zu machen. Der Leutnant hat es ja schon öfters gesehen …

Er sucht unruhig auf seinem Sitz, in seinen Taschen herum. Er versucht sich zu erinnern, ob der Diener ihm die Pistole gegeben hat oder nicht. Aber er war so verschlafen, als es losging, er weiß es nicht mehr. Der Leutnant will zornig werden, als er auf dem Sitz nur die Kognakflasche findet. Siehe da, trotz aller Verschlafenheit, die hat er nicht vergessen! Der Leutnant nimmt einen ordentlichen Schluck aus der Flasche, er spült sich den Mund mit Kognak aus.

Der Kognak spült den Schlaf fort, flammend klar wird es in des Leutnants Hirn: Ich bin auch bloß ein Feigling!

Und die Flamme sinkt zusammen. Der Rausch flüstert: Aber du wirst es ja doch tun – die Hauptsache ist, daß du es tust. Daß du dabei feige gewesen bist, erfährt keiner.

Doch, der dicke Kriminalist weiß es! sagt die flammende Klarheit.

Was der mich schon angeht! flüstert der Rausch.

Ach, laßt mich alle zufrieden! ärgert sich der Leutnant.

Jetzt wird es hell in dem Wagen, eine dämmrige, rasch immer weißer werdende Helle erfüllt das Wageninnere.

Was ist das nun wieder?! denkt der Leutnant mühsam. Kann ich denn gar nicht in Frieden gelassen werden?

Aber die Helle wird immer stärker, jetzt dreht sich auch der Diener Räder um, er steht halb auf – der Wagen brennt doch nicht etwa? Räder sagt etwas zum Chauffeur, eine Hupe ruft – eine Hupe antwortet. Und vorbei schiebt sich ein großer, rascher Wagen – vorbei, vorbei! Es ist wieder dunkel im Wagen.

Räder stößt die Scheibe vom Vordersitz her auf. »Das war der Wagen vom Rittmeister!« ruft er, und es klingt wie Triumph in seiner Stimme.

»Schön, schön«, antwortet der Leutnant kaum verständlich. »Ich habe es Ihnen ja immer gesagt, Räder. Die Wünsche der Sterbenden erfüllen sich.«

Der Wagen stößt und schlägt schrecklich auf den zerfahrenen Landwegen. Der Diener ruft: »Das gnädige Fräulein hat sich also wieder erholt.«

»Halt deine Schnauze!« ruft der Leutnant, und der Diener schiebt die Scheibe zu.

Der Leutnant muß wieder geschlafen haben, er wacht davon auf, daß der Wagen nicht mehr fährt, sondern steht. Mühsam richtet er sich auf, er ist halb vom Sitz geglitten. Er bekommt die Türklinke zu fassen, er stolpert aus dem Wagen.

Sie halten mitten im Walde, es ist unbegreiflich still. Kein Windhauch, kein Regentropfen mehr. Vorne, zehn oder zwölf Schritte vor dem Wagen, stehen zwei Männer, sie scheinen den Waldboden zu betrachten.

»He! Ihr – was macht ihr da?!« ruft der Leutnant, und noch im Rufen dämpft er schon seine Stimme.

Der Diener macht eine Kehrtwendung, er geht langsam auf den Leutnant zu und bleibt zwei Schritte vor ihm stehen.

»Jawohl, wir sind da«, sagt er halblaut. »Herr Leutnant brauchen nur den Autospuren nachzugehen …«

»Welchen Autospuren –?« fragt der Leutnant ärgerlich.

»Von dem Auto doch, Herr Leutnant! Von dem Auto von der Kontrollkommission.«

»Wie soll ich denn die in der Dunkelheit erkennen?« sagt der Leutnant ungeduldig.

»Ich habe doch eine Taschenlampe«, antwortet der Diener geduldig. Er wartet einen Augenblick, aber der Leutnant sagt nichts.

»Wollen Herr Leutnant jetzt gleich gehen?« fragt Räder schließlich.

»Jawohl, jetzt gleich«, sagt der Leutnant mechanisch. »Geben Sie mir das Zeug!«

»Hier ist die Taschenlampe, Herr Leutnant, und hier – Herr Leutnant müssen entschuldigen, ich habe nur einen Trommelrevolver bekommen – er ist aber noch ganz neu.«

»Geben Sie das Ding schon her. Ich werde schon damit zurechtkommen.« Er steckt den Revolver unbesehen in die Tasche. »Also dann gehe ich jetzt.«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

Aber der Leutnant geht nicht.

»Hören Sie«, befiehlt er plötzlich heftig. »Sie fahren jetzt auf der Stelle zurück! Ich will Sie hier nicht haben, verstehen Sie? Sie sind ein Schwein! Es ist alles gelogen, was Sie mir erzählt haben! Aber – es ist mir egal! Sie kommen sich mächtig schlau vor, wie? Aber das ist auch egal – alles ist egal. Schlau oder dumm, Schwein oder anständig – alle müssen wir sterben!«

»Wenn ich noch etwas bemerken dürfte, Herr Leutnant …«

»Was denn noch?! Sie sollen machen, daß Sie fortkommen!«

»Es ist doch immer möglich, daß noch jemand – an der Stelle ist. Es ist kaum neun. Und die Leute sind neugierig. Ich würde möglichst leise sein, Herr Leutnant …«

»Ja, ja«, sagt der Leutnant und lacht plötzlich. »Ich will gerne so leise sein, wie Sie wünschen, mein schlauer Herr Räder. Aber einmal, ein einziges Mal erlauben Sie mir doch ein bißchen Lärm, wie –?«

Er starrt den andern haßerfüllt an.

»Hauen Sie ab, Mensch, ich kann Ihre Fresse nicht mehr sehen! Oder, so wahr mir Gott helfe, ich knalle erst mal auf Sie!«

Aber dann, als die beiden schon im Wagen sitzen, macht der Leutnant doch noch einmal eine Bewegung zu warten. Er hat etwas vergessen, etwas ungeheuer Wichtiges, etwas, ohne das ein Mensch keinesfalls sterben kann. Er sucht danach im Wagen, auf dem Rücksitz, unter den auf den Boden geglittenen Decken. Dann knallt er die Wagentür zu: »Fort mit euch! Meinethalben in die Hölle!«

Der Wagen fährt an. Laut klingt das Motorengeräusch zwischen den Bäumen. Der Leutnant steht am Wege, in seiner notdürftig gereinigten, halbnassen Windjacke, die gerettete Kognakbuddel in der Hand. Die beiden letzten Menschen, die er in diesem Leben sehen wird, sind von ihm fortgefahren – nun gut, was weiter? Aber der Kognak ist bei ihm geblieben – getreu bis in den Tod!

Der Leutnant horcht und horcht. Er möchte sich einbilden, daß dies Geräusch, das er hört, noch immer Motorengeräusch ist, daß er noch nicht ganz allein ist. Aber es ist so still, so still, und das, was er hört, das ist das eigene Herz, das in der Brust klopft – ach, so angstvoll! Ach, so feige!

Der Leutnant zuckt die Achseln, er ist nicht für seinen Herzschlag verantwortlich, er spitzt den Mund, als wolle er pfeifen, aber es kommt kein Laut. Die Lippe zittert … Meine Lippe zittert, mein Mund ist hohl und trocken.

Er sieht gegen den Himmel, aber nichts von Himmel ist zu sehen. Schwärze, sternenlose, trostlose Schwärze. Es bleibt ihm wirklich weiter gar nichts, als in den Schwarzen Grund hinunterzusteigen … Kein Vorwand ist zu entdecken, warum man dies noch immer weiter hinausschieben sollte …

Der Lichtschein der Taschenlampe blitzt auf, der Leutnant fängt in ihm die Spuren des Autos – langsam und sachte geht er diesen Spuren nach. Er merkt, es ist nicht nur die Spur eines Autos, nein zwei Autos sind hier gefahren.

Nachdem der Leutnant eine Weile nachgedacht hat, nickt er befriedigt mit dem Kopf. Es ist alles in Ordnung, genau wie es sein muß: das Auto von der Kontrollkommission und das Lastauto, mit dem sie die Waffen fortgeschafft haben. Das heißt, ein richtiges Lastauto ist es nun auch wieder nicht gewesen. Das würde man an der Bereifung sehen, es war wohl mehr ein größerer Lieferwagen. Wieder nickt der Leutnant befriedigt mit dem Kopf. Jawohl, sein Gehirn arbeitet ausgezeichnet, er fährt nicht als abgewelkter Greis in die Grube, in der Vollkraft seiner Jahre – oder wie es in den Todesanzeigen heißt. Aber bei ihm wird es keine Todesanzeige geben!

Aha, hier haben die Autos gehalten, hier ging es für die Wagen nicht tiefer hinab in den Grund. Aber ein Fußgänger braucht darum nicht zu zögern, für die Fußgänger ist der Weg deutlich genug ausgetreten. Der Leutnant geht hin und her, mit seinem Laternchen prüft er alles nach. Jawohl, wiederum in bester Ordnung. Nachdem die Herren hier gehalten haben, sind sie in der Richtung Neulohe weitergefahren. Alles ist ordnungsgemäß erledigt, »faßlich«, würde dieser Hund Räder gesagt haben. Ach, dieser Hund, dieses Schwein – gottlob, daß er abgehauen ist. Der Dicke ist auch weg. Es riecht im Walde nicht die Spur nach Weibern – also kann man seine Angelegenheiten endlich mit sich alleine erledigen. Man muß keine frisierte Fresse ziehen, man hat keine Haltung zu bewahren – juckt es einen, so kratzt man sich; will man einen Schluck aus der Buddel nehmen, so tut man das, und hinterher rülpst man. Völlig ungeniert! Jawohl! Das kleine Kind, dem Leben kaum gegeben, benimmt sich ziemlich schändlich, nahe dem Tode wird es wieder so – aus dem Nichts kommend, in das Nichts gehend, führt man sich recht gewöhnlich auf – es ist alles faßlich. Sagt der Knabe Räder!

Eine gespenstische, lautlose Lustigkeit erfüllt den Leutnant. Der letzte Schluck Kognak war ziemlich kräftig, der Leutnant fällt den kleinen Fußpfad in den Waldgrund eher hinunter, als daß er ihn geht. Aber unten verfliegt diese Lustigkeit sofort wieder, aus der wirbelnden Trunkenheit wird ein zähflüssiger Brei –.

Ernsthaft schaut er sich an, wie diese Kerle hier gehaust haben, die haben sich wahrhaftig nicht geniert, diese Brüder! Tiefe Löcher im Boden, Erdhaufen, Kistendeckel – wahrhaftig, jetzt trifft der Schein der Lampe sogar eine liegengelassene Schaufel! Ich hatte alles so gut und sauber versteckt, denkt der Leutnant. Und diese Schweine machen mir alles so unordentlich! Bei mir war nichts zu sehen – und wie sieht es jetzt aus!

Tieftraurig setzt sich der Leutnant auf einen Erdhaufen, mit den Beinen baumelt er in einer Grube. Ein Sterbender kann eigentlich nicht passender sitzen – aber daran denkt er jetzt nicht. Er stellt die Flasche neben sich in die weiche Erde, er greift in die Hosentasche, er zieht den Revolver hervor. Mit der einen Hand leuchtet er ihn an, mit der andern hält er ihn ins Licht und befingert ihn. Jawohl, er hat es sich gleich gedacht: Es ist so ein Dreckdings, Fabrikschund, Massenware – ein Knalldings, um Hunde wegzuscheuchen, gut dafür, daß sich Portokassenjünglinge damit umbringen – aber doch nichts für ihn, für einen Mann, der Waffen liebt! Ach, seine schöne, präzis gearbeitete Pistole, ein Ding, sauber wie ein Flugzeugmotor – der Dicke schlug ihn gegen den Bauch und stahl ihm das herrliche Ding!

Trostlos starrt der Leutnant vor sich hin – und als er nun gar entdeckt, daß nur die sechs Patronen in der Trommel stecken, daß dieser Schurke Räder ihm keine Munition gegeben hat – und er hat es ihm doch extra aufgetragen!

Er flüstert vor sich hin: »Ich muß den Revolver doch einschießen, er ist doch noch neu, er ist doch noch gar nicht beschossen! Ich habe ihn doch erst einschießen wollen, so weiß ich ja gar nicht, ob er zu hoch oder zu tief schießt …«

Eine Stimme möchte ihm einreden, daß es für einen auf der Schläfe aufgesetzten Schuß ganz gleichgültig ist, ob der Revolver zu tief schießt, aber er beharrt darauf: Ich habe mich doch gefreut auf das Einschießen, ein bißchen Freude muß man dem Menschen doch auch gönnen!

Der Kummer überwältigt ihn, fast hätte er geweint. »Man kann doch auch sechsmal vorbeischießen«, flüstert er, »so etwas ist schon vorgekommen – und was mache ich dann?«

Da sitzt er, bleich, mit hängender Unterlippe, seine Augen irren überall umher. Sein Gesicht ist entstellt, nicht einmal so sehr von den Schlägen als von einem Ausdruck verzweifelter Angst. Er weiß, daß er mit sich theatert, daß er das Letzte nur immer wieder hinausschieben will. Aber er will es nicht wissen, er denkt gar nicht mehr an dieses Letzte, o nein, es ist noch so vieles vorzubereiten, zu bedenken. Er erinnert sich genau, er hat schon so lange nicht mehr an diese Violet gedacht; Haß, Ekel vor diesem Frauenzimmer haben ihn erfüllt – er möchte das noch einmal fühlen.

Aber in seiner Brust scheint nur noch Platz zu sein für diese elende Unruhe, ein weiches, verdammtes Gefühl –: Oh, so schwach, ich bin doch kein gottverdammter Negermeier! Nein, ich schwöre, ich will mich nicht bessern, ich will mich nicht ändern! Ich war grade so richtig, wie ich war, mit Zähnen zum Beißen, Wolf unter Wölfen –!

Der Leutnant tut einen tiefen Schluck aus der Flasche. Sie gluckert beim Trinken, sie gluckert beim Hinsetzen – aber, verdammt noch mal, es war nicht das einzige Geräusch, das er gehört hat! Der Leutnant springt mit einem Satz hoch, den Revolver in der einen, die Taschenlampe in der andern Hand, schreit er wild in den Wald hinein: »Wer ist da? Steh – oder ich schieße!«

Er lauscht, er hört nichts – aber nun schleicht es! Dort –? Wo –? Dort im Gebüsch? »Steh oder ich schieße!« Oh, ich habe es ja gehört, wie das Motorengeräusch im Walde plötzlich alle war, dies Schwein, der Räder, hat halten lassen. Er ist mir nachgeschlichen, er will sehen, ob ich mich für sein Geld auch erschieße! Dort – dort, jetzt habe ich es gehört! »Steh!« Da – es knallt!

Siehe da, dies Pistölchen schießt nicht schlecht, es pufft – hast du Angst? Haben wir dich gekitzelt?! Ach, du läufst, warte, ich laufe dir nach, steh! Knall, Bruch! – Was ist das? Auch in meinem Rücken läuft es, kommt da noch wer? Wer bist du denn? Zeigt sich auch nicht, ist auch feige – Knall! Bumm!

Natürlich, das ist der Dicke, die Herren Kameraden wollen wissen, ob ich ihren ungesprochenen Urteilsspruch vollziehe – Prost die Mahlzeit, erst vollziehe ich einen Dicken. Knall! Das klatscht zu sehr, die Kugel hat sich an einem Stamm breitgeschlagen.

Meine Herrschaften, hier stehe ich, sehen Sie zu! Ist die Dame Violet auch da? Sehen Sie her, mein Fräulein, diesen Schluck auf ein langes Leben für Sie! Mögen Sie sich meiner recht oft und recht lange erinnern!

Weg mit der Flasche! Krach – entzwei! Schade, es war ein guter Kognak darin!

Meine Herren, meine Damen, ich hatte bedauert, daß ich nur sechs Schüsse in der Trommel hatte – sehen Sie, meinen fünften feure ich in den Himmel ab, ein Ehrensalut für meine Dame, daß es ihr ewig in den Ohren gellen möge von mir. – Und der sechste Schuß: ein Schuß reicht für mich. Sehen Sie so, über der Nasenwurzel angesetzt – sehen Sie so … Wenn sie mich wirklich besuchen sollte, werde ich ein ausgezeichneter Anblick sein für sie!

O mein Gott, mein Gott, kommt denn keiner, geschieht denn gar nichts, sie können mich doch hier nicht verrecken lassen! Es muß doch irgendeiner kommen und sagen, daß alles ein Irrtum war. – Jetzt zähle ich bis drei, und wenn dann nichts geschehen ist, schieße ich los –: Eins! – Zwei! – Drei! –

Nichts, wirklich nichts? So ist der ganze Dreck auch nichts wert! Es war alles Dreck, was ich erlebt habe, und das Sterben ist auch Dreck, feiger, hündischer Dreck, und hinterher wird Dreck kommen, das weiß ich nun auch schon! Ich habe viel zuviel Angst gehabt, es lohnt sich nicht, um diesen Dreck Angst zu haben. Jetzt bin ich ganz ruhig. Es wäre nett gewesen von dem Posten, heute mittag, wenn er auf mich geschossen hätte. Er hätte mir wirklich was abgenommen. Aber ich kann das auch. Allein gelebt, allein gestorben – Gebt Feuer – und was nun –? Ach …

Ja, und was nun –? Ach!

Im Schwarzen Grunde, in der Waldsenke, liegt eine Taschenlampe an der Erde, ihr kleiner Lichtkegel fällt auf ein paar Gräser, ein Stück bemoosten Stein, etwas Erde … Es ist ganz still, ganz still … Der kleine, weiße, einsame Schein in der stillen Nacht, die eben noch so laut war …

Jetzt kommt ein Geräusch von den Büschen her, jemand räuspert sich, hustet …

Stille dann, Stille, lange …

Leise, vorsichtig kommt ein Schritt näher, zögert, hält ein. Wieder Husten.

Stille, nichts, nur Stille …

Der Schritt kommt wieder näher, ein Fuß, ein Fuß in einem schwarzen Lederschuh erscheint in dem weißen Lichtkegel der Taschenlampe.

Einen Augenblick später ist die Lampe aufgehoben. Ihr Schein wandert, hält inne … Zögernd, als klebe er am Boden, geht der Schritt noch einmal weiter, der stille Besucher sieht hinunter auf das, was stiller liegt.

Lange Stille, lange Stille …

Dann räuspert sich der Mann. Der Lichtkegel der Laterne sucht wieder, rechts davon, links davon.

Er wird doch nicht daraufgefallen sein –?!

Aber dann ist der Revolver gefunden. Der ihn fand, untersucht die Trommel, mit dem Stecher wirft er die leeren Patronenhülsen aus. Der Revolver wird neu geladen. Noch einmal richtet sich der Schein der Laterne auf den Toten. Dann entfernt er sich rasch, den Hang hinauf, die Schneise entlang, den Weg nach Neulohe.

Es ist ganz dunkel im Schwarzen Grunde.

Wolf unter Wölfen
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