10

»Aber das ist ja Fahnenjunker Pagel!«

»Da sitzt ja Granaten-Pagel!«

Dies riefen von Studmann und von Prackwitz.

Und sofort stand ihnen beiden mit fast gespenstischer Klarheit eine Szene vor Augen, die ihnen unter den vielen Gestalten des Weltkriegs ebendiesen Pagel unvergeßlich gemacht hatte. Das heißt, es war nicht mehr der Weltkrieg gewesen, sondern jener letzte, verzweifelte Versuch deutscher Truppen, das Baltikum gegen den Ansturm der Roten zu halten. Es war im Frühjahr 1919 gewesen, es war jener wilde Angriff der Deutschen, Balten und Letten gewesen, der schließlich Riga befreite.

In der bunt zusammengewürfelten Abteilung des Rittmeisters von Prackwitz war damals auch der junge Pagel gewesen, kaum älter aussehend als ein großer Schuljunge. Vielleicht wirklich schon siebzehn, wahrscheinlicher erst sechzehn Jahre alt, aus der Kadettenanstalt Groß-Lichterfelde herausgesetzt, er, der für die Offizierslaufbahn bestimmt gewesen war, in eine tobende, zerkämpfte Welt gestoßen, die von Offizieren nichts mehr wissen wollte. Da hatte es sich von selbst ergeben, daß der Entwurzelte, sinnlos Gewordene immer weiter nach Osten geirrt war, bis er schließlich bei Männern landete, die er noch Kameraden nennen konnte, nicht Genossen anreden mußte.

Rührend und lächerlich zugleich war die Freude des Flaumwangigen, der noch nie zuvor Pulver gerochen hatte, gewesen, unter kampferprobten alten Leuten zu sein, die seine Sprache redeten, Uniform trugen, Befehle gaben und entgegennahmen – und sie dann auch wirklich ausführten. Nichts konnte seinen Eifer ermüden, nichts seine Begierde, in kürzester Zeit alles kennenzulernen: Maschinengewehr, Minenwerfer und den einen, einzigen Panzerzug.

Bis es dann zum Angriff ging, bis zu den eigenen auch die fremden Maschinengewehre zu tacken anfingen, bis die ersten Granaten heulend über sie fortsausten, um weiter hinten zu krepieren. Bis aus dem eifrigen Kinderspiel des Schuljungen Ernst wurde. Prackwitz wie Studmann hatten den jungen Pagel blaß werden sehen, plötzlich war er still geworden. Bei jeder hohl über ihn wegheulenden Granate hatte er den Kopf zwischen die Schultern gezogen und eine tiefe Verbeugung gemacht.

Die beiden Offiziere hatten sich mit einem Blick verständigt – ohne ein Wort. Sie hatten auch dem Jungen nichts gesagt. Von ihm, der, grün im Gesicht, mit schweißnasser Stirn und feuchten Händen, gegen seine Angst ankämpfte, hatte sich eine Brücke geschlagen bis zu jenen unfaßbar fernen Augusttagen vierzehn, da sie selber zum ersten Male dies Heulen gehört, zum ersten Male den Kopf zwischen die Schultern gezogen hatten. Jeder machte das einmal durch, jeder mußte einmal den Kampf mit dem Schweinehund in sich kämpfen. Viele gab es, die nie ganz mit ihm fertig wurden. Aber die meisten blieben doch Sieger, und von da an tat es ihnen nichts mehr.

Bei dem jungen Pagel war es zweifelhaft. Man hätte ihn jetzt ansprechen, anbrüllen können, er hätte nichts gehört. Er hörte nur das Heulen in der Luft, er sah hierhin, dorthin, wie ein im Traum Geängsteter, er zögerte beim Vorgehen. Nun sah er zurück.

»Jawohl, Pagel, es ist sicher, die verdammten Roten schießen sich ein, die Einschläge liegen immer näher. Sicher, Junker Pagel, jetzt kriegen wir Dunst!«

Und da ist sie schon in den Reihen, die erste Granate! Mechanisch werfen sich Studmann und Prackwitz hin – aber was ist mit Pagel? Der junge Pagel steht da, starrt, schaut auf den Erdtrichter, er bewegt die Lippen, als sagte er etwas Beschwörendes –

»Hinwerfen, Pagel!« schreit von Prackwitz.

Dann ist alles hochgewirbelte Erde, Staub, Feuer, Qualm – der Knall der Explosion zerreißt die Luft.

Schafskopf! denkt von Prackwitz.

Schade! denkt von Studmann.

Aber – und es ist nicht zu glauben – da steht, Schatten in Nebel und Dunst, noch immer die Gestalt, bewegungslos. Klarer wird es, die Gestalt macht einen Satz, greift etwas von der Erde, schreit wütend: »Au verdammt!« – läßt es fallen, nimmt die Mütze zum Anfassen, stürzt zu Prackwitz, schlägt die Hacken zusammen: »Melde gehorsamst, Herr Rittmeister, ein Granatensprengstück!« Und völlig unmilitärisch: »Elend heiß!«

Er hatte – für immer – den Schweinehund in sich untergekriegt, der junge Pagel.

Für immer?

Diese Szene, diese etwas alberne und doch heroische Tat eines blutjungen Menschen, stand den beiden deutlich vor Augen, als sie Pagel da, scheinbar ein wenig angetrunken, am Ecktisch bei Lutter und Wegner sitzen sahen, als sie riefen: »Aber das ist ja der Granaten-Pagel!«

Der Granaten-Pagel sah hoch. Mit der vorsichtigen Gebärde des Angetrunkenen schob er erst Glas und Flasche etwas zurück, ehe er aufstand und ohne jede Überraschung sagte: »Die Herren Offiziere!«

»Aber stehen Sie doch bequem, Pagel!« sagte der Rittmeister lächelnd. »Mit den Herren Offizieren ist es vorbei. Sie sehen, Sie sind der einzige von uns, der noch eine Uniform trägt.«

»Zu Befehl, Herr Rittmeister«, sagte Pagel eigensinnig. »Aber ich tue keinen Dienst mehr.«

Die beiden Freunde verständigten sich mit einem kurzen Blick.

»Dürfen wir uns zu Ihnen an den Tisch setzen, Pagel?« fragte von Studmann freundlich. »Es ist ziemlich voll hier unten, und wir hätten gerne etwas gegessen.«

»Bitte! Bitte!« sagte Pagel und setzte sich rasch, als sei ihm das Stehen schon längst schwer geworden. Auch die beiden setzten sich. Eine Zeit verging mit dem Auswählen der Speisen und des Weines und dem Bestellen.

Dann hob der Rittmeister sein Glas: »Also auf Ihr Wohl, Pagel! Auf die alten Zeiten!«

»Danke gehorsamst, Herr Rittmeister! Herr Oberleutnant! Auf die alten Zeiten, jawohl.«

»Und was tun Sie jetzt?«

»Jetzt?« Pagel sah langsam von einem zum andern, als müsse er erst sehr genau über seine Antwort nachdenken. »Ja, ich weiß selber nicht genau … Irgendwas …«

Er machte eine vage Handbewegung.

»Aber Sie müssen doch irgend etwas getan haben in den vier Jahren seitdem!« sagte von Studmann freundlich. »Irgendwas angefangen, sich beschäftigt, ausgerichtet – wie?«

»Sicher, sicher!« stimmte Pagel höflich zu. Und fragte mit der klarsichtigen Bosheit des Angetrunkenen: »Wenn ich mir die Frage erlauben darf, Herr Oberleutnant – Sie haben viel ausgerichtet in diesen vier Jahren –?«

Von Studmann stutzte, wollte sich ärgern, dann lachte er. »Recht haben Sie, Pagel! Gar nichts habe ich ausgerichtet. Wie Sie mich hier sehen, habe ich vor sechs Stunden netto wieder einmal völlig Schiffbruch erlitten. Und ich wüßte wirklich nicht, was ich mit mir anfangen sollte, wenn der Rittmeister mich nicht auf sein Gut nähme – als eine Art Lehrling. Prackwitz hat nämlich ein großes Gut in der Neumark.«

»Vor sechs Stunden Schiffbruch«, wiederholte Pagel und überhörte völlig das Gut. »Komisch ist das.«

»Wieso ist das komisch, Pagel –?«

»Ich weiß nicht … Vielleicht, weil Sie jetzt hier Ente mit Weinkraut essen – vielleicht kommt es mir darum komisch vor.«

»Was das betrifft«, sagte von Studmann, jetzt seinerseits boshaft, »so sitzen Sie doch auch hier und trinken einen Steinwein. – Übrigens, in solchen Mengen genossen, viel zu schwer, Ente wäre Ihnen auch besser.«

»Natürlich«, stimmte Pagel bereitwillig zu. »Ich habe auch schon daran gedacht. Nur, Essen ist schrecklich langweilig, Trinken ist viel leichter. Und außerdem habe ich noch was vor.«

»Was Sie auch vorhaben mögen, Pagel«, meinte Studmann leichthin, »Essen wird Ihrem Vorhaben dienlicher sein als Trinken.«

»Kaum, kaum!« antwortete Pagel. Und, wie um dies zu beweisen, trank er sein Glas leer. Doch blieb diese Beweisführung ohne Eindruck auf die andern, ihre Gesichter waren skeptisch – so setzte er erläuternd hinzu: »Ich muß nämlich noch viel Geld ausgeben.«

»Mit Trinken werden Sie bestimmt nicht mehr viel Geld ausgeben können, Pagel!« fuhr von Prackwitz dazwischen. Ihn hatte die schlappe Haltung Studmanns, der diesen jungen Fant eher noch ermutigte, schon lange geärgert. »Mensch, merken Sie denn nicht, daß Sie randvoll sind?!«

Von Studmann winkte mit den Augen ab, doch blieb zu seiner Überraschung Pagel ganz ruhig. »Möglich«, sagte er. »Aber das macht nichts. Um so leichter werde ich mein Geld los.«

»Also Weibergeschichten!« rief von Prackwitz ärgerlich. »Ich bin gar kein Sittenprediger, Pagel, aber so besoffen, in diesem Zustande, nein, das ist doch nichts!«

Pagel antwortete nicht. Statt dessen hatte er sein Glas wieder gefüllt, leerte es bedächtig und füllte es neu. Prackwitz machte eine wütende Bewegung, aber von Studmann war gar nicht mit seinem Rittmeister einverstanden. Prackwitz war ein famoser Kerl, ein anständiger Kerl, aber ein Psychologe war er bestimmt nicht, beobachten konnte er andere Menschen überhaupt nicht – er meinte immer, alle müßten empfinden wie er. Und ging es dann nicht nach seinem Kopfe, kochte er sofort über.

Nein, eben als Pagel sein Glas gefüllt und rasch geleert und wieder gefüllt hatte, war Studmann sehr peinlich, aber darum nicht minder lebhaft an ein gewisses Zimmer mit der Nummer 37 erinnert worden. Auch da hatte man die Gläser so gefüllt und so geleert. Studmann erinnerte sich auch noch sehr genau an einen gewissen Augenausdruck aus Angst und irrer Frechheit, den er dort beobachtet. Er war sich gar nicht so sicher, daß Pagel, so unsinnig er trank, überhaupt betrunken war. Sicher war allerdings, daß ihm das Gefrage der Herren nicht angenehm war, am liebsten hätte er wohl für sich allein gesessen. Studmann aber hatte nicht die Absicht, sich von dieser gleichgültigen oder gar feindlichen Stimmung Pagels beeinflussen zu lassen, er spürte, sie hatten den ehemaligen Fahnenjunker in einer gefährlichen Lage getroffen. Wie damals mußte man ein Auge auf ihn haben. Und von Studmann, der am Nachmittag eine Niederlage erlitten hatte, schwor sich, in dieser Nacht auf keinen Bluff reinzufallen, sondern die Handgranate in Sektflaschenform rechtzeitig zu werfen – es gab für solche Würfe viele Möglichkeiten und Arten.

Pagel saß jetzt ruhig da und rauchte, nachdenklich scheinbar, ohne sich der Anwesenheit der beiden andern recht bewußt zu sein. Studmann verständigte Prackwitz halblaut von seiner Absicht; von Prackwitz machte nur eine ungeduldig abwehrende Bewegung, war schließlich aber doch einverstanden.

Als die Zigarette zu Ende war, neigte Pagel wiederum die Flasche über das Glas, doch floß nichts mehr aus dem Hals, die Flasche war leer. Pagel sah hoch, er vermied den Blick der beiden andern, er winkte dem Kellner mit den Augen und bestellte bei ihm noch eine Flasche Steinwein und einen doppelten Kirschgeist.

Ungeduldig wollte von Prackwitz etwas sagen, aber Studmann legte ihm beschwörend die Hand aufs Knie – und der Rittmeister schwieg, wenn auch unwillig.

Als der Kellner das bestellte Getränk brachte, verlangte Pagel die Rechnung. Entweder schlug der Kellner im Hinblick auf den Zustand des Gastes gewaltig auf, oder Pagel hatte hier schon Stunden getrunken: die Rechnung war sehr hoch. Pagel zog ein Bündel Banknoten aus der Hosentasche, nahm ein paar, gab sie dem Kellner und verzichtete auf Herausgeben. Der ungewohnt devote Dank des Kellners verriet die Höhe des Trinkgeldes.

Die beiden Herren verständigten sich wieder durch Blicke, durch einen ärgerlichen und durch einen zur Ruhe mahnenden. Doch sagten sie noch immer nichts, sondern sie beobachteten weiter Pagel, der jetzt aus allen Taschen und Täschchen Banknotenbündel zog und sie übereinanderpackte. Dann nahm er seine Papierserviette, wickelte sie um den Haufen, suchte wieder in der Tasche, brachte ein Ende Bindfaden zum Vorschein und verschnürte den Packen. Nun schob er ihn auf die Seite; wie nach getaner Arbeit sich zurücklehnend, brannte er eine Zigarette an, kippte den Kirschgeist und goß ein Glas Wein ein.

Jetzt sah er auf. Sein Blick, aus so hellen Augen merkwürdig dunkel und starr, lag mit leichtem Spott auf den Herren. Studmann war im Augenblick, da er so angesehen wurde, klar, daß Pagel nur theaterte. Sowohl das Trinken wie die scheinbare Nichtbeachtung, wie das herausfordernde Bloßlegen und Einpacken des Geldes – alles Theater, für sie beide aufgeführt!

Der Junge ist ja vollkommen verzweifelt, dachte er, merkwürdig angerührt. Vielleicht möchte er uns etwas erzählen oder um Hilfe bitten – nur bringt er es noch nicht über sich. – Wenn bloß nicht Prackwitz …

Aber der weißhaarige, hitzige Prackwitz hatte schon nicht mehr an sich halten können. »Es ist eine Schweinerei, Pagel!« schrie er wütend, »wie Sie mit dem Gelde umgehen! So geht man nicht mit Geld um!«

Studmann hatte den Eindruck, als freue sich Pagel über diesen Ausbruch, wenn er auch unverändert ruhig blieb.

»Wenn ich mir die Frage erlauben darf, Herr Rittmeister«, sagte er mit schwerer Zunge, aber immer größerer Höflichkeit, »wie geht man denn mit Geld um?«

»Wie?!« schrie der Rittmeister. Seine Stirnadern schwollen, und seine Augen wurden vor Zorn rötlich. »Wie man mit Geld umgeht?! Ordentlich geht man damit um!!! Herr Fahnenjunker Pagel!!! Ordentlich, gewissenhaft – wie es sich schickt, verstanden?! Man trägt es nicht lose in den Taschen, man tut es in eine Brieftasche –«

»Es ist zuviel, Herr Rittmeister«, sagte Pagel entschuldigend. »Es geht in keine Brieftasche.«

»Man schleppt überhaupt nicht soviel Geld mit sich rum, Herr!« schrie der Rittmeister im hellen Zorn. (Von den Nebentischen guckten sie schon.) »Das ist nicht anständig. So etwas tut man nicht!«

»Nein?« fragte Pagel wie ein gehorsamer, wißbegieriger Schüler.

Studmann biß sich auf die Lippen, um nicht laut loszulachen. Von Prackwitz aber war zu humorlos, um zu begreifen, daß sein Fahnenjunker sich einen kleinen Scherz mit ihm erlaubte.

Pagel sagte entschuldigend: »Sobald ich meinen Wein ausgetrunken habe, will ich sehen, das Zeugs möglichst schnell loszuwerden.«

Er trank. Nun glitt ein spitzbübisches, ganz jungenhaftes Lächeln über sein Gesicht. Studmann fand, er sah aus wie damals am ersten Tage in Kurland – kein Gedanke an eine Ähnlichkeit mit dem Reichsfreiherrn Baron von Bergen. Pagel griff nach dem Geldpacken, zögerte und hielt ihn dann mit raschem Entschluß dem Rittmeister über den Tisch hin. »Oder wollen Sie es haben, Herr Rittmeister?«

Der Rittmeister Joachim von Prackwitz fuhr halb von seinem Stuhle auf, sein Gesicht lief dunkelrot an. Das war eine Beleidigung, eine überlegt zugefügte Beleidigung, und es machte sie noch zehnmal schlimmer, daß sie von einem ehemaligen Fahnenjunker ausging. Ein Offizier, und unter allen Offizieren ganz besonders ein Rittmeister von Prackwitz, kann wohl seine Uniform ausziehen, er behält trotzdem an sich die alten Begriffe und Anschauungen. Von Studmann und von Prackwitz waren gute Freunde, trotzdem – die Freundschaft war unter dem Rangverhältnis Rittmeister – Oberleutnant entstanden, und so blieb sie auch. Wollte der Oberleutnant dem Rittmeister etwas Unangenehmes sagen, so mußte das unter vorsichtiger Wahrung all der Formen geschehen, die sich zwischen Vorgesetztem und Untergebenem gehören. Pagel aber war nicht einmal der Freund des Rittmeisters, er hatte etwas sehr Unangenehmes, ja etwas Beleidigendes gesagt, geradezu, ohne alle Vorbereitung und ohne jede Wahrung der Form. Also kochte der Rittmeister von Prackwitz.

Es konnte etwas Schreckliches geschehen. Von Studmann legte dem Rittmeister die Hand fest auf die Schulter, er zwang ihn auf seinen Stuhl zurück. »Er ist sinnlos besoffen«, sagte er halblaut. Und scharf zu Pagel: »Entschuldigen Sie sich auf der Stelle!«

Das jungenhafte Lächeln auf dem Gesicht Pagels verblich langsam. Als sei er sich nicht ganz klar, was eigentlich geschehen, sah er grübelnd den zornigen Rittmeister, dann den Geldpacken in seiner Hand an. Sein Gesicht wurde finster. Er legte den Packen wieder neben sich auf den Tisch, griff nach dem Glas und trank hastig.

»Entschuldigen …«, sagte er dann plötzlich mürrisch. »Wer legt denn heute noch auf solche Faxen Wert …?!«

»Ich habe, Herr Pagel«, rief der Rittmeister, noch immer sehr zornig, »meine alten Lebensformen beibehalten, mögen andere sie auch veraltet und schlecht finden. Ich lege viel Wert auf diese Faxen!«

Oberleutnant von Studmann schlug vollkommen deutlich vor: »Laß ihn, Prackwitz. Er ist überreizt, er ist betrunken, und vielleicht hat er etwas Schlimmes vor.«

»Er interessiert mich nicht!« rief der Rittmeister wütend. »Ich lasse ihn liebend gerne!«

Pagel hatte den Oberleutnant schnell einmal angesehen, aber nicht geantwortet.

Von Studmann beugte sich über den Tisch und sagte freundlich: »Wenn Sie mir das Geld anbieten würden, Pagel, ich würde es nehmen.«

Der Rittmeister machte eine Gebärde fassungslosen Erstaunens, Pagel aber griff hastig nach dem Geldpaket und zog es näher an sich.

»Ich nehme es Ihnen nicht fort«, sagte der Oberleutnant, ein wenig spöttisch.

Pagel wurde rot, nun schämte er sich. »Was würden Sie denn mit dem Gelde tun?« fragte er mürrisch.

»Es Ihnen aufbewahren – bis zu einer besseren Stunde.«

»Das ist unnötig – ich brauche kein Geld mehr.«

»Genau das, was ich annahm«, bestätigte der Oberleutnant ruhig. Und er fragte, betont gleichgültig: »Wieso haben Sie eigentlich auch vor sechs Stunden Schiffbruch erlitten, Pagel?«

Diesmal wurde Pagel völlig rot. Mit einer gradezu qualvollen Langsamkeit breitete sich die Röte, von den Backen ausgehend, über sein ganzes Gesicht aus. Sie kroch unter den hohen, faltig gewordenen Kragen des Waffenrocks, sie stieg bis unter den Haaransatz über der Stirn. Plötzlich sah man, wie blutjung dieser Mensch war, wie schrecklich er jetzt unter seiner jugendlichen Verlegenheit litt.

Selbst der zornige Rittmeister sah mit andern Augen auf seinen Granaten-Pagel.

Der aber, erbittert über die so sichtbare Verlegenheit, fragte trotzig: »Wer hat Ihnen gesagt, daß ich Schiffbruch erlitten habe, Herr von Studmann?!«

Und Studmann: »Ich hatte Sie so verstanden, Pagel.«

Und Pagel: »Dann haben Sie mich falsch verstanden – ich …« Aber er brach unwillig ab, zu sichtbar verriet ihn seine Röte.

»Natürlich geht es Ihnen schlecht, Pagel«, sagte von Studmann sanft, »das sehen wir doch beide, Herr Rittmeister wie ich. Sie sind doch kein Gewohnheitstrinker. Sie trinken aus einem bestimmten Grunde. Weil Ihnen irgend etwas schiefgegangen ist, weil Sie – nun, Sie verstehen schon, Pagel!«

Pagel drehte sein Weinglas in der Hand. Seine Haltung war entspannter, aber er antwortete nicht.

»Warum wollen Sie sich nicht von uns helfen lassen, Pagel?« fragte der Oberleutnant wieder. »Ich habe mir heute nachmittag auch unbedenklich vom Rittmeister helfen lassen. Ich war auch recht unangenehm gefallen …«

Er lächelte in der Erinnerung an seinen Fall heute nachmittag. Er hatte keine Erinnerung an ihn, aber Prackwitz hatte es ihm recht drastisch geschildert, wie er vor die Füße der Gäste gerollt war. Studmann war sich klar, daß sein »Fall« wesentlich anders lag als der Pagels – physisch eigentlich nur, nicht so sehr psychisch. Aber diese kleine Übertreibung störte ihn nicht.

»Vielleicht können wir Ihnen raten«, fuhr er mit sanfter, aber eindringlicher Überredung fort. »Besser wäre noch, wenn wir Ihnen irgendwie tatkräftig helfen könnten, Pagel«, sagte er sehr eindringlich. »Als wir damals auf Tetelmünde vorgingen, fielen Sie mit dem Maschinengewehr hin. Sie haben sich nicht einen Augenblick besonnen, meine Hilfe anzunehmen. Warum soll in Berlin nicht gelten, was in Kurland galt –?«

»Weil«, sagte Pagel finster, »wir damals für eine Sache kämpften. Heute kämpft jeder für sich allein – und gegen alle.«

»Einmal Kamerad, immer Kamerad«, sagte von Studmann. »Sie erinnern sich doch, Pagel?«

»Ja, natürlich«, sagte Pagel. Er senkte das Gesicht, als denke er nach. Die beiden betrachteten ihn abwartend. Dann hob Pagel wieder den Kopf. »Man könnte viel dagegen sagen«, sagte er mit seiner langsamen, mühsamen Aussprache sehr deutlich. »Aber ich mag nicht. Ich bin schrecklich müde. Kann ich Sie irgendwo treffen, morgen früh?«

Mit drei Worten hatten sich die beiden Freunde verständigt. »Wir werden morgen früh kurz nach acht vom Schlesischen Bahnhof abfahren, nach Ostade zu«, sagte von Studmann.

»Gut«, sagte Pagel. »Ich werde dann auch auf der Bahn sein – vielleicht …«

Er sah vor sich hin, als sei alles erledigt. Er stellte keine Fragen, es schien ihn nicht zu interessieren, warum man fuhr, wohin man fuhr, was dann kam.

Der Rittmeister bewegte zweiflerisch die Achseln, unbefriedigt von dieser halben Zusage. Aber Studmann gab nicht nach.

»Das ist etwas, Pagel«, beharrte er. »Aber nicht ganz das, was wir möchten. – Sie haben etwas vor, Pagel, Sie sagten vorhin etwas von Geldloswerden …«

»Weibergeschichten!« murmelte der Rittmeister.

»Es ist gleich zwölf. Zwischen jetzt und morgen früh acht Uhr haben Sie etwas vor, Pagel, dessen Ausgang Ihnen selbst so ungewiß erscheint, daß Sie uns keine feste Zusage geben mögen, daß Sie uns auch nicht dabei haben wollen …«

»Elende Weiber …«, murmelte der Rittmeister.

»Ich bin«, sagte Studmann eiliger, als er merkte, Pagel wollte antworten, »anderer Ansicht als der Rittmeister. Ich glaube nicht, daß irgendeine zweifelhafte Weibergeschichte dahintersteckt. Für so etwas sind Sie nicht der Mann.«

Pagel senkte den Kopf, aber der Rittmeister schnaufte.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns erlaubten, gerade die nächsten Stunden mit Ihnen zu verbringen.«

»Es ist nichts Besonderes«, sagte Pagel, nun doch bezwungen von der sorgsamen Beharrlichkeit des andern. »Ich möchte nur eine Probe machen.«

Der ehemalige Oberleutnant lächelte. »Eine Frage an das Schicksal, was, Pagel?« sagte er. »Gottesgericht, vom ehemaligen Fahnenjunker Pagel angerufen. – Ach, was sind Sie noch beneidenswert jung!«

»Ich finde mich nicht so beneidenswert!« knurrte Pagel.

»Nein, natürlich nicht, Sie haben ganz recht«, beeilte sich Studmann. »Solange man jung ist, hält man Jugend nur für einen Fehler. – Erst später entdeckt man, daß Jugend ein Glück ist. – Also, wie ist es, kommen wir mit?«

»Sie hindern mich nicht, zu tun, was ich will?«

»Nein, natürlich nicht. Sie sollen handeln, als wären wir nicht dabei.«

»Auch der Herr Rittmeister ist einverstanden?«

Der Rittmeister von Prackwitz murrte nur leise, aber schon diese Zustimmung genügte Pagel.

»Also, meinethalben, kommen Sie mit!« Etwas belebte er sich. »Es wird Sie vielleicht sogar interessieren. Es ist – nun, Sie werden ja sehen. Fahren wir …«

Sie brachen auf.

Wolf unter Wölfen
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