3

Nach der ekelhaften Verhandlung in der Schnitter-Vermittlung, fand Rittmeister von Prackwitz, hatte er ein wenig Ausspannung verdient. Aber wo ging man hin, so am frühen Vormittag? Dies war eine Zeit, um die der Rittmeister bisher noch nicht oft unterwegs gewesen war in Berlin. Schließlich fiel ihm ein Hotel-Café in der Friedrichstadt ein, wo man angenehm sitzen und vielleicht ein paar gut angezogene Frauen sehen konnte.

Der erste Mensch, den der Rittmeister in der Hotelhalle sah, war natürlich ein Bekannter. (Prackwitz traf in »seiner« Gegend – natürlich nicht am Schlesischen Bahnhof – immer Bekannte. Oder Bekannte von Bekannten. Oder Verwandte. Oder Bekannte von Verwandten. Oder Kameraden vom Regiment. Oder Kameraden aus dem Krieg. Oder Baltikumer. Oder »Schnöffels«, wie man im Rrr’ment die Muschkoten früher genannt hatte. Er kannte in aller Welt alle Welt.)

Diesmal war es sogar ein Regimentskamerad, Oberleutnant von Studmann.

Herr von Studmann stand in der Halle, tadelloser Gehrock, spiegelnde Schuhe (zu so früher Stunde!), und schien einen Augenblick über das Wiedersehen etwas verlegen. Aber der Rittmeister merkte in seiner Freude, einen Gefährten für die zwei Stunden Wartezeit gefunden zu haben, nichts davon.

»Studmann, Alter – großartig, daß ich dich mal wiedersehe! Ich habe zwei Stunden Zeit für dich. Hast du schon Kaffee getrunken –? Ich will grade – zum zweiten Male, heißt das. Aber der erste auf dem Schlesischen rechnet nicht, er war schauerlich. Wann haben wir uns eigentlich das letztemal gesehen? In Frankfurt – zum Offizierstreffen? Na, egal, jedenfalls bin ich froh, dich mal wiederzusehen. Aber komm doch, da drinnen sitzt man ganz gemütlich, wenn ich mich recht erinnere …«

Oberleutnant von Studmann sagte sehr leise und deutlich, aber etwas mühsam: »Gerne, Prackwitz – sobald es meine Zeit erlaubt. Ich bin nämlich – äh – Empfangschef in diesem Laden. Ich will nur erst mal die Gäste vom Neun-Uhr-vierzig-Zug …«

»Au verdammt!« sagte der Rittmeister plötzlich ebenso leise und ganz verdüstert. »Die Inflation, was –? Diese Gauner! Na, ich kann auch ein Lied singen!«

Von Studmann nickte trübe, als sei ihm selbst das Liedsingen schon längst vergangen. Angesichts des langen, glatten, energischen Gesichts wollte Prackwitz sich eines gewissen Abends erinnern, da man das E. K. Erster dieses selben Studmann gefeiert hatte – es war Anfang fünfzehn gewesen, tatsächlich das erste E. K. Erster, das an das Regiment gefallen war … Er wollte sich an das lachende, frohe, übermütige, allerdings rund acht Jahre jüngere Gesicht dieses selben Studmann erinnern, aber da sagte der grade: »Jawohl, Portier, sofort …« Er wendete sich mit einer bedauernden, vertröstenden Bewegung an von Prackwitz und ging dann auf eine ziemlich umfangreiche Dame im staubgrauen Seidenmantel zu: »Bitte sehr, gnädige Frau –?«

Einen Augenblick sah der Rittmeister zu, wie der Freund dort stand, leicht vorgeneigt, und mit ernstem, doch freundlichem Gesicht den heftig vorgebrachten Wünschen oder Beschwerden der Dame lauschte. Dabei stieg ein Gefühl tiefer Trauer in ihm auf, gestaltloser, alles durchdringender Trauer: Zu nichts Besserem gut? fragte es in ihm. Etwas wie Scham überkam ihn, als habe er den Kameraden bei etwas Entwürdigendem, Entehrendem beobachtet. Er wandte sich rasch ab und trat in das Café.

Im Hotel-Café war die frühe, vormittägliche Stille, die dort immer herrscht, wenn nur erst die Hausgäste da sind, das Straßenpublikum noch nicht seinen Einzug gehalten hat. Wenige Gäste saßen paarweise oder einzeln an weit voneinander gelegenen Tischen. Eine Zeitung raschelte, ein Paar sprach halblaut, die Kaffeekännchen aus Neusilber glänzten matt, ein Löffel klirrte an einer Tasse. Die wenig beschäftigten Kellner standen still an ihren Plätzen; einer zählte behutsam Bestecke, wobei er jeden unnötigen Lärm vermied.

Der Rittmeister hatte rasch einen zusagenden Platz gefunden. Der sofort auf die Bestellung folgende Kaffee war so gut, daß er sich vornahm, Studmann ein paar anerkennende Worte zu sagen.

Aber er verwarf den Gedanken sofort wieder. Das könnte ihn ja beschämen, dachte er. Oberleutnant von Studmann und ein wirklich frisch gebrühter Hotelkaffee!

Der Rittmeister versuchte zu ergründen, warum ihn denn schon wieder dieses Gefühl der Beschämung überkam, als tue Studmann etwas Verbotenes, ja, Unanständiges.

Es ist doch Arbeit wie jede andere, dachte er verwundert. So beschränkt sind wir doch alle nicht mehr, daß wir eine Arbeit geringer achten als die andere. Schließlich sitze ich ja auch nur von Schwiegervaters Gnaden auf Neulohe und kratze ihm seine Pacht zusammen – mit vielen Sorgen. Woran liegt es also –?

Plötzlich überkam es ihn, daß es vielleicht daran liegen mochte, daß Studmann diese Arbeit nur gezwungen tat. Ein Mann muß arbeiten, gewiß, wenn er vor sich ein Recht haben will, zu sein. Aber es gibt einen freien Willen in der Wahl der Arbeit; verhaßte Arbeit, nur um des Geldes willen, schändet. – Er würde sich ja nie diese Arbeit gewählt haben, dachte er. Es gab keine Wahl für ihn.

Und ein Gefühl hilflosen Hasses überfiel den Rittmeister Joachim von Prackwitz. Irgendwo in dieser Stadt stand eine Maschine – natürlich eine Maschine, Menschen würden sich nie zu so etwas mißbrauchen lassen! – und erbrach Tag und Nacht Papier über die Stadt, das Volk. »Geld« nannten sie es, sie druckten Zahlen darauf, wunderbare, glatte Zahlen mit vielen Nullen, die immer runder wurden. Und wenn du gearbeitet hast, wenn du dich geschunden hast, wenn du dir etwas erspart hast auf deine alten Tage – es ist schon alles wertlos geworden, Papier, Papier – Dreck!

Und um dieses Drecks willen stand Kamerad Studmann in der Hotelhalle und machte Dienerchen. Gut, sollte er dort stehen, sollte er Dienerchen machen – aber nicht wegen Dreck. Schmerzhaft deutlich sah der Rittmeister wieder das freundlich-ernste Gesicht des Freundes, wie er es eben gesehen.

Plötzlich wurde es dunkel, langsam dann heller. Eine kleine Rüböllaterne baumelte von dem rohen, nicht zugehauenen Deckbalken. Sie warf ihren warmen, rötlichen Schein direkt in das Studmannsche Gesicht – und dieses Gesicht lachte, lachte! Die Augen funkelten vor Freude, hundert Fältchen sprangen und zuckten in ihren Winkeln.

Auch das wiedergeschenkte Leben ist in diesem Lachen, sprach eine Stimme im Rittmeister.

Es war nichts, nur eine Erinnerung an eine Nacht in einem Unterstand – wo war es gewesen –? Irgendwo in der Ukraine. Es war ein reiches Land, Kürbisse und Melonen wuchsen zu Hunderten auf den Feldern. Sie hatten sich von dem Überfluß in den Unterstand geholt, auf Wandbretter gelegt. Sie schliefen, eine Ratte (es gab Tausende von Ratten), eine Ratte stieß einen Kürbis vom Brett. Er fiel einem Schläfer auf den Kopf, in das schlafende Gesicht. Der Schläfer schrie gräßlich auf, der weiterrollende Kürbis tat Schlag um Schlag. Sie lagen, alle erwacht, atemlos, flach in ihre Decken gedrückt, in Erwartung der Sprengstücke des Einschlages. Sekunden der Todesangst – das Leben verrauscht, jetzt lebe ich noch, ich will etwas denken, was sich lohnt, die Frau, das Kind, das Mädchen Weio, ich habe noch hundertfünfzig Mark in der Tasche, besser, hätte ich meine Weinrechnung bezahlt, die sind nun auch futsch …

Und nun das Lachen von Studmann: Kürbis! Kürbis!

Sie lachen, lachen! Auch das wiedergeschenkte Leben ist in diesem Lachen. Der kleine Geyer wischt sich die blutende Nase und lacht auch. Richtig, Geyer hieß er. Er fiel wenig später, Kürbisse waren im Kriege Ausnahmen.

Aber das war es gewesen: echte Furcht und echte Gefahr und echter Mut! Zittern – aber dann aufspringen, entdecken, daß es nur ein Kürbis war, und wieder lachen! Über sich, über die Furcht, über dies närrische Leben – weitergehen, die Straße hinunter, auf den nicht existenten Punkt zu. Aber von etwas bedroht zu werden, das Papier kotzte, von etwas gezwungen zu werden, das die Welt um Nullen bereicherte – das war schändlich! Es schmerzte den Mann, der es tat; es schmerzte den Mann, der es den andern tun sah.

Prackwitz sieht aufmerksam den Freund an. Von Studmann ist schon vor einer Weile eingetreten und hört dem Kellner zu, der vor einer Weile so achtsam die Bestecke zählte und der jetzt aufgeregt irgend etwas vorbringt. Sicher eine Beschwerde über irgendeinen Kollegen. Prackwitz kennt aus eigener Erfahrung dieses zänkische, hitzige Reden. (Mit seinen Beamten auf Neulohe ist es ihm nicht anders ergangen. Ewige Zänkerei, ewiger Klatsch. Am liebsten würde er ja weiter mit nur einem Beamten wirtschaften, damit ihm wenigstens dieser Ärger erspart bleibt. Aber er muß wirklich sehen, daß er noch jemanden kriegt. Die Diebstähle nehmen überhand, Meier schafft es nicht, und Kniebusch ist alt und verbraucht. Nun, das nächste Mal. Dieses Mal ist keine Zeit mehr, um zwölf muß er auf dem Schlesischen Bahnhof sein.)

Der Kellner redet noch immer, redet sich in Brand und Flammen. Von Studmann hört ihm zu, freundlich, aufmerksam, ab und an sagt er ein spärliches Wort, nickt auch mal, schüttelt mit dem Kopfe. Es ist kein Leben mehr in ihm, entscheidet der Rittmeister. Ausgebrannt. Erloschen. – Aber, denkt er mit plötzlichem Erschrecken, vielleicht bin auch ich ausgebrannt und erloschen – merke es bloß nicht?

Dann plötzlich – ganz überraschend – sagt Studmann einen einzigen Satz. Der Kellner, völlig aus dem Konzept gebracht, bricht jäh ab. Studmann nickt ihm noch einmal zu und geht an den Tisch des Freundes.

»So«, sagt er und setzt sich – und sofort wird sein Gesicht lebendiger. »Nun, denke ich, habe ich eine halbe Stunde Zeit. Wenn nichts dazwischenkommt.« Er lächelt Prackwitz aufmunternd zu. »Aber es kommt eigentlich immer was dazwischen.«

»Du hast viel zu tun?« fragt Prackwitz, ein wenig verlegen.

»Gott, zu tun!« Studmann lacht kurz. »Wenn du die andern fragst, hier die Liftboys oder die Kellner oder die Portiers, die werden dir erzählen, daß ich gar nichts zu tun habe, nur so rumstehe. Und doch bin ich abends so hundemüde wie nur damals, wenn wir Schwadronsexerzieren hatten und der Alte schliff uns.«

»So etwas wie einen Alten gibt es hier vermutlich auch?«

»Einen –? Zehn, zwölf! Generaldirektor, drei Direktoren, vier Subdirektoren, drei Geschäftsführer, zwei Prokuristen –«

»Bitte, höre auf!«

»Aber am Ende ist es nicht so schlimm. Es hat viel Ähnlichkeit mit dem Militär. Befehlen, gehorchen – tadellose Organisation …«

»Aber doch immerhin Zivilisten …«, meinte von Prackwitz bedenklich und dachte dabei an Neulohe, wo Gehorchen lange nicht immer auf Befehlen folgte.

»Natürlich«, bestätigte Studmann auch. »Es ist etwas loser als damals, zwangloser. Darum schwieriger für den einzelnen, möchte ich sagen. Der ordnet etwas an, und du weißt nicht genau, ob er ein Recht hat, es anzuordnen. Keine ganz klar abgegrenzten Befugnisse, verstehst du?«

»Das gab es aber auch bei uns«, meinte Prackwitz. »Irgendein Offizier mit einem Sonderauftrag, weißt du?«

»Gewiß, gewiß. Aber im ganzen kann man sagen, es ist eine staunenswerte Organisation, ein musterhafter Riesenbetrieb. So etwas wie unsere Wäscheschränke solltest du einmal sehen. Oder die Küche. Oder die Einkaufskontrolle. Staunenswert, sage ich dir!«

»Es macht dir also ein bißchen Spaß?« fragte der Rittmeister vorsichtig.

Die Lebhaftigkeit von Studmann erlosch. »Gott, Spaß! Nun ja, vielleicht. Aber darauf kommt es doch nicht an, nicht wahr? Wir müssen leben – wie? – weiterleben, nach alledem. Ganz einfach weiterleben. Trotzdem man es sich mal anders dachte.«

Prackwitz sah prüfend in das umschattete Gesicht des andern. Ja, wieso müssen? dachte er flüchtig, ein wenig geärgert. Und er fand die einzig mögliche Erklärung, fragte laut: »Du bist verheiratet? Hast Kinder?«

»Ich?« fragte Studmann sehr erstaunt. »Aber nein! Kein Gedanke!«

»Nein, nein, natürlich nicht«, sagte der Rittmeister, ein wenig schuldbewußt.

»Schließlich, warum nicht? Aber es hat sich nicht so gemacht«, sagte von Studmann nachdenklich. »Und heute? Nein! Wo die Mark täglich wertloser wird, wo man zu tun hat, das bißchen Geld für sich zusammenzukratzen …«

»Geld –? Dreck!« sagte der Rittmeister scharf.

»Ja, natürlich«, antwortete Studmann leise. »Dreck, ich verstehe dich schon. Ich habe deine Frage vorhin auch ganz richtig verstanden, oder vielmehr deine Gedanken. Warum ich für solchen ›Dreck‹ dies hier tue, ungern tue, meinst du …« Prackwitz wollte bestürzt protestieren. »Ach, red nicht, Prackwitz!« sagte von Studmann zum ersten Male wärmer. »Ich kenne dich doch! Geld – Dreck, das ist keine bloße Inflationsweisheit von dir, ein bißchen dachtest du früher schon so. Du –? Wir alle! Geld war jedenfalls etwas, was sich von selbst verstand. Man hatte seinen Wechsel von Haus und seine paar Groschen vom Rrr’ment, man sprach nicht davon. Und wenn man einmal etwas nicht gleich bezahlen konnte, mußte der Mann eben warten. So war es doch? Geld war etwas, das Nachdenken nicht verlohnte …« Prackwitz wiegte zweiflerisch den Kopf und wollte etwas einwenden. Aber Studmann sagte eiliger: »Ich bitte dich, Prackwitz, so ungefähr war es. Aber heute frage ich mich – nicht doch, ich bin meiner Sache ganz sicher, daß wir alle ganz falsch davor waren, keine Ahnung von der Welt hatten. Geld, das habe ich mittlerweile entdeckt, ist etwas sehr Wichtiges, etwas, das alles Nachdenken verlohnt …«

»Geld!« sagte von Prackwitz empört. »Wenn es wenigstens noch richtiges Geld wäre! Aber dieses Papierzeug …«

»Prackwitz!« sagte Studmann vorwurfsvoll. »Was heißt denn richtiges Geld?! So etwas gibt es ja gar nicht, wie es auch kein unrichtiges Geld gibt. Geld, das ist einfach das, was man zum Leben braucht, die Basis des Da-Seins, das Brot, das wir jeden Tag essen müssen, um da zu sein, der Anzug, den wir tragen müssen, um nicht zu erfrieren …«

»Aber das ist ja Mystik!« rief von Prackwitz ärgerlich. »Geld ist doch eine sehr einfache Sache! Geld ist eben – früher jedenfalls, meine ich – wenn du da einen Goldfuchs hattest, aber Papier ging auch, Papier war damals was anderes, weil man Gold dafür bekam … Also Geld, ich meine, ganz egal welches Geld – du verstehst doch …« Nun wurde er über sich selbst wütend, über dieses blödsinnige Gestammel. Sollte man denn das nicht richtig und klar sagen können, was man so richtig und klar empfand –? »Also«, schloß er, »wenn ich Geld habe, will ich wissen, was ich mir dafür kaufen kann.«

»Ja, natürlich«, sagte Studmann und hatte nichts von der Verwirrung des Freundes gemerkt, sondern spann munter seinen eigenen Gedankenfaden fort. »Natürlich waren wir falsch davor. Ich habe entdeckt, daß neunundneunzig Prozent der Menschen sich sehr um das Geld quälen müssen, daß sie Tag und Nacht daran denken, davon reden, es einteilen, sparen, wieder anfangen – kurz, daß Geld das ist, worum sich die Welt dreht. Daß es einfach lächerlich lebensfremd ist, nicht an das Geld zu denken, nicht davon reden zu wollen – das Wichtigste, was es gibt!«

»Aber ist das denn richtig?!« rief Prackwitz aus, verzweifelt über den neuen Geisteszustand des Freundes. »Ist das denn etwa schön –? Bloß leben, um das bißchen Hunger satt zu kriegen?!«

»Gewiß ist es nicht richtig. Gewiß ist es nicht schön«, stimmte Studmann zu. »Aber danach wird nicht gefragt, vorläufig ist es so. Und wenn es so ist, darf man nicht die Augen zukneifen, sondern muß sich damit beschäftigen. Und wenn man es nicht schön findet, muß man sich fragen, wie ändert man es?«

»Studmann«, fragte von Prackwitz ganz bestürzt und verzweifelt, »Studmann, du bist doch nicht etwa Sozi geworden –?«

Der ehemalige Oberleutnant sah einen Augenblick so bestürzt und verblüfft aus, als habe man ihn eines Meuchelmordes verdächtigt. »Prackwitz«, sagte er, »alter Kriegsgenosse, die Sozis denken doch über das Geld genauso – wie du! Nur möchten sie es dir wegnehmen, damit sie es haben. Nein, Prackwitz, ein Sozi bin ich gewiß nicht. Und werde es auch nicht.«

»Aber was bist du denn?« fragte von Prackwitz. »Zu irgendeiner Gruppe oder Partei mußt du doch schließlich gehören.«

»Wieso?« fragte von Studmann. »Warum muß ich das eigentlich?«

»Ja, ich weiß nicht«, sagte von Prackwitz, ein wenig verblüfft. »Zu irgendwas gehört doch schließlich jeder von uns, das ist doch schon wegen der Wahlen. Irgendwie muß man sich doch einordnen, ins Glied treten. Es ist gewissermaßen – ordentlich!«

»Wenn es für mich aber noch keine Ordnung gibt?« fragte von Studmann.

»Ja …«, sagte Prackwitz nachdenklich. »Ich weiß noch«, erinnerte er sich, »ich hatte da mal so einen Kerl in der Schwadron, einen Schnöffel, sagten wir ja immer, einen Sektierer, wie hieß er doch? Grigoleit, jawohl, Grigoleit! Ein ganz proprer, ordentlicher Mann. Aber er weigerte sich, einen Karabiner oder ein Seitengewehr anzufassen. Bitten half nichts, Stauchen half nichts, Strafen half nichts. ›Zu Befehl, Herr Leutnant‹, sagte er – ich war Leutnant, es war noch im Frieden –, ›aber ich darf es nicht. Sie haben Ihre Ordnung, und ich habe meine Ordnung. Und weil ich meine Ordnung habe, darf ich mich nicht an ihr versündigen. Einmal wird ja doch meine Ordnung Ihre Ordnung sein …‹ Und solches Zeug, irgendein Sektierer, Pazifist, aber von der anständigen Sorte, nicht diese Drückeberger, die ›Nie wieder Krieg!‹ schreien, weil sie feige sind … Nun, man hätte ihm natürlich das Leben zur Hölle machen können. Aber der Alte war auch vernünftig und sagte: ›Er ist ja bloß ein armer Idiot!‹ Und so wurde er d. u. 15 geschrieben, weißt du, wegen bestehender Geisteskrankheit …«

Der Rittmeister schwieg nachdenklich, vielleicht sah er den dicken, rundköpfigen Grigoleit mit dem weißblonden Haar vor sich, der so gar nicht nach einem Märtyrer aussah.

Studmann aber lachte hell heraus. »O Prackwitz!« rief er. »Du bist doch noch immer der alte! Und wie du mir hier eben in aller Unschuld Idiotie und bestehende Geisteskrankheit bescheinigt hast – ohne es auch nur zu merken –, das erinnert mich doch sehr lebhaft daran, wie du damals nach dem Manöver unserm Alten, der wahnsinnig schlecht abgeschnitten hatte, zum Trost von einem Major erzähltest, der sogar bei der Manöverkritik vor der versammelten Generalität vom Gaul gefallen war und doch nicht den blauen Brief bekommen hatte! Und weißt du noch –?«

Damit verloren sich die beiden Freunde in gemeinsame Erinnerungen, ihre Stimmen wurden lebhafter. Aber das machte nichts. Jetzt fing das Café an sich zu füllen. Geschäftig liefen die Kellner, trugen schon die ersten Biergläser, Stimmen schwirrten. Das Gespräch der beiden war nur eines von vielen.

Nach einer Weile aber, als sie sich genug erinnert und genug gelacht hatten, sagte der Rittmeister: »Ich möchte dich auch noch was fragen, Studmann. Ich sitze da so allein auf meiner Klitsche und höre und sehe immer nur dieselben Leute. Aber du bist hier in der Großstadt und noch dazu in solchem Betriebe, und sicher hörst und weißt du mehr als wir alle.«

»Ach, wer weiß denn heute was?!« fragte Studmann und lächelte. »Glaub mir, selbst Herr Ministerpräsident Cuno hat keine Ahnung, was morgen wird.«

Aber Prackwitz ließ sich nicht beirren. Er saß ein wenig zurückgelehnt, die langen Beine übereinandergeschlagen, rauchte mit Wohlbehagen und sprach: »Du denkst vielleicht, der Prackwitz ist fein raus, er hat ein Rittergut und ist ein großer Mann. Aber ich sitze nicht fest, ich muß sehr vorsichtig sein. Neulohe gehört nicht mir, es gehört meinem Schwiegervater, dem alten Herrn von Teschow – ich habe ja schon lange vor dem Kriege die kleine Eva Teschow geheiratet – ach, verzeih, du kennst ja meine Frau! Nun, ich habe Neulohe gepachtet von meinem Schwiegervater – und der alte Knabe hat den Pachtzins nicht billig gemacht, das kann ich dir sagen. Manchmal habe ich ekelhafte Sorgen. – Jedenfalls muß ich sehr vorsichtig sein. Neulohe ist unsere einzige Existenz, und wenn mir was passiert – der alte Mann liebt mich nicht, der nimmt mir die Klitsche bei dem kleinsten Anlaß sofort wieder ab.«

»Und was kann dir passieren?« fragte Studmann.

»Ja, sieh mal, ich bin ja kein Einsiedler und die Eva erst recht nicht, und so haben wir unser bißchen Verkehr in der Gegend, und natürlich auch mit den Kameraden von der Reichswehr. Und da hört man denn so allerlei. Und geflüstert wird auch, direkt und indirekt.«

»Und was hört man und was sieht man?«

»Daß etwas losgehen soll, Studmann, wieder einmal. Man ist ja auch nicht blind. Das ganze Land steckt voll bei uns von Leuten, Arbeitskommandos nennen sie sich, aber du mußt sie nur sehen. ›Schwarze Reichswehr‹, wird geflüstert.«

»Das kann wegen Entente und Kontrollkommission sein, Schnüffelkommission«, sagte von Studmann.

»Natürlich – und daß sie Waffen vergraben und wieder ausgraben und wegholen, das kann auch darum sein. Aber es ist nicht nur darum, Studmann, es wird mehr geflüstert, es ist mehr zu sehen. Kein Zweifel: es wird auch in der Zivilbevölkerung geworben, vielleicht schon in meinem eigenen Dorf. Der Besitzer erfährt ja immer zuletzt davon, daß der Hof brennt. An Neulohe grenzt Altlohe, und da sind viele Industriearbeiter, und das bedeutet natürlich Feindschaft bis aufs Messer mit uns vom Hof und mit den Bauern in Neulohe. Denn wo die einen zu essen haben und die andern haben Hunger, da ist es wie in einem Pulverfaß – und geht es in die Luft, fliege ich mit.«

»Ich sehe noch nicht recht, wie du da etwas hindern kannst«, sagte von Studmann.

»Hindern … Aber vielleicht werde ich mich entscheiden müssen, ob ich mitmache oder nicht? Man will doch nicht unkameradschaftlich sein. Es sind doch die alten Kameraden bei der Reichswehr, Studmann, und wenn die was riskieren wollen und die Karre aus dem Dreck holen, und man wäre dann nicht dabeigewesen – man müßte sich ja zu Tode schämen! Ja, und vielleicht ist doch alles nur Gequatsche, Gemache von ein paar Abenteurern, aussichtsloser Putsch – und darum Hof und Auskommen und Familie riskieren …«

Der Rittmeister sah Studmann fragend an. Der meinte: »Hast du denn niemanden bei der Reichswehr, den du beiseite nehmen und auf Ehre und Gewissen fragen kannst –?«

»Gott, fragen, Studmann! Natürlich kann ich fragen, aber wer weiß denn was? Bei so was wissen doch nur drei, vier wirklich Bescheid, und die antworten dir bestimmt nicht. – Hast du mal von einem Major Rückert gehört?«

»Nein«, sagte Studmann. »Von der Reichswehr?«

»Ja, siehst du, Studmann, das ist es ja gerade! Dieser Rückert soll der Mann sein, welcher … Aber ich kann nicht einmal rausbringen, ob er zur Reichswehr gehört oder nicht. Die einen sagen ja, die andern sagen nein, und die ganz Schlauen zucken die Achseln und sagen: ›Das weiß er vielleicht selber nicht!‹ Und das klingt dann wieder so, als stünden andere hinter ihm – es ist wirklich zum Verzweifeln, Studmann!«

»Ja«, sagte Studmann. »Ich verstehe schon. Wenn es nötig ist, sofort –, aber für irre Abenteuer – danke!«

»Richtig!« sagte Prackwitz.

Dann schwiegen beide. Aber Prackwitz sah weiter erwartungsvoll auf Studmann, den gewesenen Oberleutnant und jetzigen Hotelempfangschef. (Trug beim Rrr’ment den Spitznamen »das Kindermädchen«.) Schließlich ein Mann mit neuerdings sehr merkwürdigen, eigentlich schon verdächtigen Ansichten über Geld und gottgewollte Armut. Sah auf ihn, als erwarte er von seiner Antwort Befreiung aus allen Zweifeln.

Und schließlich sagte dieser Studmann auch langsam: »Ich glaube, du solltest dir nicht solche Sorgen machen, Prackwitz. Du solltest einfach warten. Wir kennen das doch eigentlich aus dem Felde. Sorge und auch mal Angst hatte man nur, wenn man in Ruhe oder still im Graben lag. Aber wenn es dann hieß: Raus und vorwärts! – dann war man da und ging los, und alles war vergessen. Du wirst das Signal schon nicht überhören, Prackwitz. Wir haben es im Felde doch schließlich gelernt, das ruhige Warten ohne Grübeln – warum soll man es jetzt nicht können?«

»Recht hast du!« sagte der Rittmeister dankbar, »und ich will auch daran denken! Es ist komisch, daß man jetzt nicht mehr warten kann! Ich glaube, es macht dieser blöde Dollar. Laufe, renne, schnell noch was einkaufen, hetze, jage …«

»Ja«, sagte Studmann. »Jagen und gejagt werden, Jäger und Wild zugleich, das macht so böse und ungeduldig. Aber man braucht beides nicht. Ja …«, lächelte er, »aber nun muß ich wieder los, ganz bin ich ja auch nicht frei davon. Ich sehe da den Portier winken. Vielleicht jagt schon ein Direktor nach mir, wieso und warum ich denn eigentlich nirgendwo zu sehen bin. Und ich werde die Stubenmädchen wieder ein wenig jagen, damit die Zimmer der Abreisen um zwölf fertig sind. Also Weidmanns Heil, Prackwitz! Und wenn du heute um sieben noch in der Stadt sein solltest und hast nichts vor …«

»Dann bin ich schon längst wieder in Neulohe, Studmann«, sagte von Prackwitz. »Aber ich habe mich wirklich unsinnig gefreut, direkt unsinnig gefreut, dich wiederzusehen, Studmann, und wenn ich mal wieder in die Stadt komme …«

Wolf unter Wölfen
titlepage.xhtml
ccover.html
cinnertitle.html
cimprint.html
cnavigation.html
ctoc.html
c5_split_000.html
c5_split_001.html
c7.html
c8.html
c9.html
c10.html
c11.html
c12.html
c13.html
c14_split_000.html
c14_split_001.html
c16.html
c17.html
c18.html
c19.html
c20.html
c21.html
c22.html
c23_split_000.html
c23_split_001.html
c25.html
c26.html
c27.html
c28.html
c29.html
c30.html
c31.html
c32.html
c33_split_000.html
c33_split_001.html
c35.html
c36.html
c37.html
c38.html
c39.html
c40.html
c41.html
c42_split_000.html
c42_split_001.html
c44.html
c45.html
c46.html
c47.html
c48.html
c49.html
c50.html
c51.html
c52.html
c53_split_000.html
c53_split_001.html
c55.html
c56.html
c57.html
c58.html
c59.html
c60.html
c61.html
c62.html
c63.html
c64_split_000.html
c64_split_001.html
c66.html
c67.html
c68.html
c69.html
c70.html
c71.html
c72.html
c73.html
c74_split_000.html
c74_split_001.html
c76.html
c77.html
c78.html
c79.html
c80.html
c81.html
c82.html
c83.html
c84.html
c85.html
c86_split_000.html
c86_split_001.html
c88.html
c89.html
c90.html
c91.html
c92.html
c93.html
c94.html
c95_split_000.html
c95_split_001.html
c97.html
c98.html
c99.html
c100.html
c101.html
c102.html
c103.html
c104.html
c105.html
c106_split_000.html
c106_split_001.html
c108.html
c109.html
c110.html
c111.html
c112.html
c113.html
c114.html
c115.html
c116.html
c117.html
c118.html
c119.html
c120_split_000.html
c120_split_001.html
c122.html
c123.html
c124.html
c125.html
c126.html
c127.html
c128.html
c129.html
c130.html
c131.html
c132.html
c133_split_000.html
c133_split_001.html
c135.html
c136.html
c137.html
c138.html
c139.html
c140.html
c141.html
c142.html
c143.html
c144.html
c145_split_000.html
c145_split_001.html
c147.html
c148.html
c149.html
c150.html
c151.html
c152.html
c153.html
c154.html
c155_split_000.html
c155_split_001.html
c157.html
c158.html
c159.html
c160.html
c161.html
c162.html
c163.html
c164_split_000.html
c164_split_001.html
c166.html
c167.html
c168.html
c169.html
c170.html
c171.html
c172.html
caboutBook.html
caboutAuthor.html