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Frau Pagel die Ältere hatte von je das junge Mädchen Petra Ledig mißbilligt. Sie mißbilligte es nicht weniger, als es Frau Pagel die Jüngere hieß. Sie fand, Ledig sei ein sehr passender, ein geradezu nach Maß geschneiderter Name für das Mädchen gewesen. Sie erklärte, indem sie eigene Vergehen in Ruhm verwandelte, ein Mädchen, das sich von seiner Schwiegermutter widerspruchslos Knallschoten hauen ließ, werde damit aufhören, den Mann zu backpfeifen. Schließlich kam es so weit, daß Frau Pagel senior nicht öfter als bloß werktäglich den Haushalt der jungen Frau besuchte. Sonntags hatte sie es nicht nötig, sonntags kamen die jungen Leute zum Essen zu ihr.

Sie hatte dann eine verfluchte, unverschämte Manier, stocksteif und hölzern im Schmuck ihrer weißen Haare am Tisch zu sitzen, mit den Fingern auf der Tischplatte zu trommeln und jede Bewegung Petras mit ihren glühenden schwarzen Augen zu verfolgen, die jede andere junge Frau zum Wahnsinn gebracht hätte.

»Ich würde mir das von ihr nicht bieten lassen!« sagte das alte Mädchen Minna empört. »Und ich bin doch nur das Hausmädchen, du aber die Schwiegertochter.«

»Schönes Wetter heute«, das war die höchste Unterhaltung, zu der sich die alte Dame mit Wolfgangs Frau verstieg. »In der Markthalle gibt’s frische Flundern. Wissen Sie, was das ist: Flundern? Man muß ihnen die Haut abziehen. Na ja!« Und sie rieb sich mit dem Finger energisch die Nase.

Sie machte Minna und Wolfgang vollständig irre und verzweifelt. Petra lächelte bloß.

»Ein Kind aus dem Dutzend«, sagte die Schwiegermutter absprechend, wenn sie das Baby sah. »Nichts Pagelsches. Dutzendware!«

Die arme Petra – Wolfgang war ja meistens in der Universität, wenn seine Mutter kam, und daß Minna nicht oft dabeisein konnte, dafür sorgte die Alte schon! –, Petra mußte all dies meistens allein über sich ergehen lassen. Wenn sie das Kind an die Brust legte, hatte die Alte eine Manier dabeizusitzen, zu starren und mit dem unverschämtesten Ton von der Welt zu fragen: »Na, Fräulein, gedeiht es –?«

Jeder andern Frau hätte sich die Milch in Galle verwandelt.

»Danke, es gedeiht, gnädige Frau«, lächelte Petra bloß.

»Er hat abgenommen«, behauptete die Alte und trommelte hölzern.

»I wo, er hat dreißig Gramm zugenommen. Die Waage …«

»Ich richte mich nicht nach Säuglingswaagen, die stimmen nie. Ich richte mich nach meinen Augen, die stimmen. Er hat abgenommen, Fräulein!«

»Jawohl, er hat abgenommen«, antwortete Petra.

Frau Pagel die Ältere hielt hartnäckig weiter an der Auffassung fest, daß Petra ein lediges Mädchen sei, trotz Standesamt. »Da habt ihr ja wohl schon mal vor einem halben Jahr gehangen, und es galt auch nichts. Nein, alles bloß Augenverblendung und Täuschung.«

»Aber ich wünsche wirklich, Mama –!«

»Wünsch dir was zu Weihnachten, mein Junge!«

»Daß ihr euch alle so täuschen laßt!« lachte Petra. »Die Mutter hat ja den größten Spaß daran. Manchmal, wenn sie denkt, ich sehe es nicht, schüttelt sie sich ordentlich vor Lachen!«

»Jawohl, sie lacht dich aus, weil du dir alles von ihr gefallen läßt!« rief Minna empört. »So ein Schaf wie du hat ihr grade noch zum Schikanieren gefehlt!«

»Wirklich, Petra«, bat Wolfgang. »Du solltest dir nicht alles von Mama gefallen lassen! Sie läßt sich immer mehr gehen!«

»Oh, Wolfi!« lachte Petra vergnügt. »Habe ich mir nicht auch von dir alles gefallen lassen und habe dich schließlich doch untergekriegt?!«

Wolfgang Pagel schwieg betroffen.

Wenn man bedenkt, daß Frau Pagel senior im alten Westen, in der Tannenstraße, beim Nollendorfplatz, wohnte und daß die jungen Leute sich ganz draußen in der Kreuznacher Straße, beim Breitenbachplatz, eingemietet hatten, so mußte man sich über die Ausdauer wundern, mit der die alte Frau tagtäglich die weite Reise zu der unangenehmen jungen Frau machte. Das Haus war neu, es war sogar ganz neu, eine Schöpfung der Inflation – und es war, als wollte es dieser Inflation nacheifern: Es war schon wieder im Vergehen, in all seiner Neuheit löste es sich schon wieder auf.

»Da, sehen Sie«, schalt die alte Frau zornig zu Petra, »was ich mir in eurem ekelhaften Kasten eingerissen habe –!«

Und sie zeigte Petra ihre Hand. Quer durch den Handteller spießte ein großer, auch noch wieder splittriger Holzsplitter.

»Das Treppengeländer«, rief die Alte zornig. »In solch einer Bude wohnen anständige Leute nicht. Das ist ja lebensgefährlich! Das kann eine Blutvergiftung geben!«

»Warten Sie, ich hole Ihnen den Splitter raus!« sagte Petra eifrig. »Ich kann so was sehr gut.«

»Wenn Sie mir aber weh tun! Ich sage Ihnen –!« rief die Alte drohend.

Mit finsteren Augen sah sie zu, wie Petra eine Nadel und eine Pinzette holte. Wie viele Menschen, die großes Leid heroisch ohne Klage ertragen, war die alte Frau Pagel den kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens gegenüber zimperlich, weich, fast feige …

»Ich lasse mich nicht von Ihnen mißhandeln!« schrie sie.

»Sie müssen die Hand nur ruhig halten, dann tut es fast gar nicht weh«, sagte Petra. Und machte sich ans Werk.

»Es soll aber überhaupt nicht weh tun!« rief Frau Pagel. »Der ekelhafte Splitter ist schon schlimm genug, Ihre Pfuscherei habe ich grade noch nötig!« Mit starren Augen, deren Pupillen die Angst verkleinert hatte, blickte sie auf die Hand.

»Sie müssen die Hand ruhig halten!« bat Petra noch einmal. »Sehen Sie lieber weg!«

»Ich …«, sagte Frau Pagel schwächer und zuckte wieder, »… ich will das nicht … Lassen Sie den Splitter drin … Vielleicht geht er von selber raus …«

Sie suchte die Hand fortzuziehen.

»Willst du wohl ruhig halten!« rief Petra ärgerlich. »Sich so anzustellen! Hab dich bloß nicht so albern!«

»Petra!« sprach die alte Frau Pagel starr. »Petra! Was fällt dir denn ein?! Du sagst ja wohl du zu mir!«

»Da ist er!« rief Petra eifrig und hielt triumphierend den Splitter mit der Pinzette hoch. »Siehst du, wie das gleich geht, wenn du bloß ruhig hältst –?!«

»Sie sagt du zu mir«, flüsterte die alte Frau und setzte sich. »Sie sagt, ich soll mich nicht albern anstellen! Ja, Petra, hast du denn gar keine Angst vor mir –?«

»Nicht die Spur!« lachte Petra. »Du darfst ruhig weiter Fräulein zu mir sagen und behaupten, daß der Junge nicht gedeiht – ich weiß doch, wie du’s meinst.«

»Lächerliche Gans!« sagte die alte Frau ärgerlich. »Bilde dir bloß nicht ein, daß ich einverstanden bin mit dir!«

»Nein, nein!«

»Du, Peter –?«

»Ja –?«

»Wenn Wolf merkt, daß wir uns jetzt du nennen, sag ihm nicht, wie es gekommen ist. Erzähle ihm, ich habe dir das Du angeboten. Willst du das tun?«

»Nein«, lächelte Petra.

»Du willst ihm sagen, wie es war?«

»Ja«, antwortete Petra.

»Ich sage ja: Gans!« sagte Frau Pagel grollend. »Vermutlich hast du dir vorgenommen, ihm ›alles‹ zu sagen? Ja? Das hast du doch vor?«

»Natürlich.«

»Du wirst sehen, wie hübsch weit du mit dieser Methode kommst. Du verwöhnst ihn bloß. Männer vertragen Verwöhnung nicht.«

»Und du?« fragte Petra.

»Ich –?« fragte sie dagegen.

»Hast du ihn etwa nicht verwöhnt? Maßlos?«

»Ich? Nie! Ich schwöre dir: nie! Was lachst du, ich verbitte mir das! Ich werde mich doch nicht von dir auslachen lassen! Höre jetzt auf! – Du sollst aufhören! – Petra, es gibt eine Backpfeife! Petra!! – Ach, Petra, wie springst du mit mir alten Frau um?! Macht man das denn so –? Früher knieten sie nieder und baten um den Segen des Mütterleins – ich habe wenigstens so einen Quatsch gelesen –, und du lachst mich aus statt dessen! Petra –! Ach, du elende Sirene, du! Hast du mich nun auch rumgekriegt?! Armer Wolfgang!«

Wolf unter Wölfen
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