5

In den nächsten drei, vier Stunden surrte und schwirrte es in Neulohe wie in einem Bienenhaus vor dem Ausflug der Königin. Nur, daß hier schon ausgeflogen war – und von keiner Königin!

»Dachte ich es mir doch!« hatte der Oberwachtmeister Marofke nur gerufen und war auf das Büro gestürzt, um die Zuchthausverwaltung anzurufen, gefolgt von dem atemlosen Pagel, dem der Schweiß lief.

»Hätten Sie sich ein bißchen mehr um Ihre Leute gekümmert!« sagte von Studmann ärgerlich.

Aber der kleine, eitle, eingebildete Marofke ließ sich keine Zeit zu einer Richtigstellung, Rechtfertigung. »Heute müssen wir sie kriegen, ehe sie aus dem Wald raus sind, oder wir kriegen sie gar nicht!« hatte er zu Pagel gesagt und telefonierte schon mit der Direktion, nicht einmal zu einem Triumph seiner Besserwisserei ließ er sich Zeit.

Pagel flüsterte mit Studmann, während der Beamte telefonierte – mit Staunen merkte er, daß ihm am wichtigsten die Rechtfertigung des kleinen Marofke vor Studmann erschien. Davon flüsterte er. Der kleine Marofke dachte entgegengesetzt, er hatte nur zwei Ideen: den Rest seines Kommandos rasch und ohne weiteren Abgang nach Meienburg zurückzuführen und die Ausreißer möglichst schnell wieder einzufangen.

Es war deutlich zu hören, daß Marofke eine fürchterliche telefonische Abreibung erhielt, aber er zuckte nicht, er sprach kein Wort von seinem abgelehnten Gesuch. »Was soll jetzt geschehen?« war sein einziges Interesse.

»Das ist doch ein Kerl!« sagte Pagel zu von Studmann.

Aber Studmann murrte nur: »Wenn er ein Kerl wäre, hätte er die Leute nicht erst ausreißen lassen!«

Oberwachtmeister Marofke hing ab.

»Herr von Studmann!« meldete er militärisch und sehr kalt. »Das Arbeitskommando Neulohe wird heute noch abgelöst. Wachtmeister zum Abtransport der Leute kommen sofort aus Meienburg. Ich bitte, zu – sagen wir: zu drei Uhr, zwei Gespanne für die Abfuhr der Sachen bereitzuhalten. Ich selbst fahre jetzt dem Kommando entgegen und bringe es in die Kaserne.«

»Sie persönlich? – Nein, wirklich!« rief Herr von Studmann bitter. »Und was wird aus unsern Kartoffeln?!« Er sah schlimme Folgen voraus, er war bitter.

Aber Marofke beachtete den Stich gar nicht.

»Ich bitte Sie, Herr von Studmann, sich mit dem Förster und vielleicht dem Besitzer der Forst in Verbindung zu setzen. In der nächsten halben Stunde muß aus den Forstkarten genau festgestellt werden, wo sich die Leute etwa befinden. Wann sind sie ausgerissen, genau, Herr Pagel?«

»Zehn Uhr dreißig etwa!«

»Also, Ort ist bekannt, ein Plan wird ausgearbeitet – so weit können sie gekommen sein, da können sie sich versteckt haben. Es wird Gendarmerie kommen, fünfzig Mann, hundert, Militär vielleicht – es wird noch vor Abend ein Kesseltreiben geben …«

»Hübsch!« sagte Herr von Studmann.

»Ich selbst bin so schnell wie möglich wieder hier. Sie, Pagel, gehen jetzt sofort ins Schloß, rufen von da die Polizeidirektion in Frankfurt an, Sie werden von ihr Weisungen bekommen. Nachher werden Sie wohl alle Gendarmeriestationen in der Nähe anrufen müssen … Die Grenze nach Polen muß gesichert werden, der Weg nach Berlin gesperrt. – Dieser Apparat hier bleibt für eingehende Anrufe frei, es wird nicht von diesem Apparat aus telefoniert, sagen Sie das auf dem Postamt …«

»Mein Gott!« rief von Studmann, nun doch von der Energie des kleinen Mannes angesteckt. »Ist es denn wirklich so gefährlich?«

»Vier Mann sind verhältnismäßig ungefährlich«, sagte der Oberwachtmeister. »Zuhälter, Hochstapler, Betrüger –. Aber einer ist dabei, Matzke, dem kommt es auch nicht auf einen Mord an, wenn er bloß Zivilsachen und Geld kriegt … Los, meine Herren, an die Arbeit …«

Und er schoß aus dem Büro wie eine Rakete.

»Los, Pagel!« rief auch Studmann. »Schicken Sie mir den alten Herrn!«

Pagel lief durch den Park. Von der Seite kam Fräulein Violet, sagte etwas, er rief ihr nur zu: »Zuchthäusler ausgerissen!« und lief weiter. Er drängte den öffnenden alten Elias zur Seite, er kam in Gang, seine Langsamkeit verschwand, er lief an den Apparat in der Diele: »Hallo, hallo, Amt – die Polizeidirektion in Frankfurt/Oder. Dringend! Dringend!! Nein, sofort! Ich bleibe am Apparat …«

In den Türen zur Diele erschienen Gesichter, erschrockene, erstaunte. Zwei Stubenmädchen warfen sich einen Blick zu. – Warum sehen sich die denn so komisch an? dachte Pagel flüchtig. Nun erschien Violet auf der Diele, sie lief auf Pagel zu: »Was ist los, Herr Pagel? Die Zuchthäusler –?«

Geräuschvoll öffnete sich die Tür von des Geheimrats Zimmer: »Wer brüllt denn hier in meinem Haus?! In meinem Haus brüll ick alleene!«

»Herr Geheimrat, bitte sofort auf das Büro! Fünf Zuchthäusler sind entflohen …«

Ein Mädchen oben lachte hysterisch.

»Und darum soll ich auf euer Büro?!« Der Geheimrat strahlte. »Meint ihr, die kommen, um mich auf euerm Büro anzusehen? Aber ich habe es ja gleich gesagt: Nehmt euch vernünftige Menschen! Nun kann ich jeden Abend meiner Frau mit ’nem Revolver unters Bett leuchten …«

»Hier spricht die Gutsverwaltung Neulohe«, sprach Pagel in den Apparat. »Neu-lo-he! Ich melde im Auftrag der Zuchthausdirektion Meienburg …«

»Geht in Ordnung!« sagte eine gleichmütige Stimme am Ende der Strippe. »Wir wissen schon von Meienburg her Bescheid. Wer spricht denn da? Der Inspektor? Na also, ihr macht ja schöne Zicken da! Könnt ihr nicht ein bißchen besser aufpassen?! Na, hören Sie zu. Sie hängen jetzt ab, ich sage unterdes Ihrem Amt Bescheid, und wenn’s wieder klingelt, gibt Ihnen Ihr Amt nacheinander alle Gendarmeriestationen in Ihrer Gegend. Denen sagen Sie bloß an: Fünf Zuchthäusler ausgerissen, alle Mann sofort nach Neulohe – aber mit Karacho! So, das besorgen Sie möglichst schnell, wir haben hier schon alle Apparate vollhängen, die Grenze, keine zwanzig Kilometer ab …«

Der Geheimrat war mit seiner Enkelin doch auf das Gutsbüro gegangen. Der junge Pagel stand am Apparat und telefonierte. Durch das Haus liefen die Mädchen wie kopflos, manchmal blieb eine rascher atmend bei Pagel stehen, sah ihn an und las die immer gleichlautende Meldung von seinen Lippen. Was Frauenzimmer für verrückte Gesichter machen können! dachte Pagel, auch er recht erregt, wenn sie einen Schrecken bekommen. Ein bißchen aufgeregt und ein bißchen glücklich. – Oben weint die gnädige Frau? – Sie hat schon Angst um ihr bißchen Leben!

Und er hatte, indem er immer wieder neu dieselbe alte Alarmnachricht durchgab, Gelegenheit, zu hören, wie verschieden die Menschen darauf reagierten:

»Donnerwetter!«

»Ach nee?«

»Und ich habe grade Reißen im Bein!«

»Wie kommt denn Neulohe zu Zuchthäuslern?«

»Ist ’ne Prämie ausgesetzt?«

»So was, so was, na ja, heute ist Freitag!«

»Ausgerechnet, wo meine Frau mir ein Huhn gebraten hat.«

»Da kann ja jeder kommen und sagen, er ruft im Auftrag der Polizeidirektion an! Wer sind Sie denn überhaupt?!«

»Was meinen Sie, Inspektor, Stiefel? Oder kann ich in langer Hose kommen?«

»Fünfe ist bitter!«

Und das fürchterliche Wort: »Jetzt lebt der noch und weiß von nichts, den sie vielleicht schon in zehn Minuten umlegen!«

Etwas Grausiges stieg aus diesen Worten auf, Schuld und Mitschuld … Und während Wolfgang immer weitertelefonierte, dachte er an das, was er in dieser Sache verfehlt hatte. Es war nicht viel, Kleinigkeiten, kein vernünftiger Mensch konnte ihm, dem Unerfahrenen, einen Vorwurf machen, da so viel Erfahrene versagt hatten. Kleinigkeiten hatte er falsch gemacht … Aber Wolfgang Pagel, der noch vor einem Vierteljahr so bereit gewesen war, sich alle eigenen Sünden zu vergeben, ja, bei dem es gar keiner Vergebung bedurft hatte, Wolfgang Pagel dachte jetzt anders über diese Dinge. Nein, er dachte nicht, er fühlte anders. War es die Arbeit draußen oder das Erleben der letzten Zeit, war es das Wort in Minnas Briefen von dem Mannwerden – es war gleichgültig, ob andere noch mehr gesündigt hatten, er wollte sich nichts vorzuwerfen haben – nicht einmal wenig.

Die Gendarmerieposten reißen nicht ab, immer wieder klingelt der Apparat, immer wieder die Meldung, immer wieder die Ausrufe des Ärgers, der Überraschung, der Bereitschaft. Und dabei sieht er sie, die fünf; fünf Männer in Zuchthaustracht. Sie hocken versteckt wie Wild in den Wäldern zwischen Neulohe und Birnbaum, sie haben kein Geld, keine Waffe, keine übermäßige Intelligenz. Aber sie haben eines, was sie von den andern Menschen unterscheidet: sie haben die Hemmungslosigkeit, zu tun, was sie wollen.

Wolfgang Pagel denkt daran, daß es eine Zeit gab, nicht lange her, da er stolz von sich dachte: Mich bindet nichts; ich kann tun, was ich will; ich bin frei …

Jawohl, Wolfgang Pagel, jetzt verstehst du es: du warst frei, hemmungslos zu sein wie ein Tier! Das Menschentum liegt nicht darin, zu tun, was man will, sondern zu tun, was man muß.

Und während Wolfgang weiter und immer weiter meldet, dreißigmal, fünfzigmal, siebzigmal, sieht er die gesunde Lebenskraft ausholen zum Schlage gegen die kranke. Plötzlich kommen ihm die Witze über des Teufels Husaren so schal vor, so frech ihr Zuchthäuslerlied! Er sieht die fünfzig, die hundert Gendarmen auf ihre Räder steigen, auf vielen Wegen streben sie alle einem Ziele zu: Neulohe. Er sieht die Beamten auf der Polizeidirektion in Frankfurt, auf Dutzenden von Polizeistationen klingeln jetzt die Telefone, die Morseapparate klappern. In den Zollämtern der Grenzwachen setzen die Beamten die Mützen auf, sie schnallen besonders sorgfältig um, sie sehen ihre Pistolen nach: der Tod geht um!

Der Tod geht um! Fünf Menschen entschlossen zu allem – und in einer Zeit, die sich über nichts einig zu sein scheint, in der alles zerfressen, verfault zusammenstürzt, in dieser Zeit ist das Leben sich doch noch immer gegen den Tod einig! Das Leben ist es, das alle Straßen verstellt, überall seine Augen hat. In den Zufahrtsstraßen der großen Städte stehen jetzt die Polizisten und mustern jeden Passanten – ein Halstuch, eine Hose können verräterisch sein! Die Elendsquartiere, die Winkel, in denen das Verbrechen haust, werden schärfer bewacht als je. In den kleinen Städten gehen die Polizisten die Wege hinter den Häusern, dort, wo sie sich nach den Gärten, nach den Hofplätzen öffnen. Die Wanderer auf den Landstraßen, die Kutscher der Wagen, die Chauffeure der Lastautos werden gewarnt. Ein ganzer Landstrich, von der polnischen Grenze bis nach Berlin hin, kommt in Bewegung. Schon arbeiten in den Druckereien die Schnellpressen, aus denen die Steckbriefe hervorgleiten, die Aufrufe, Signalements, die heute nachmittag noch an die Säulen, an die Wände geklebt werden. Über den Strafakten der Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt, Holdrian sitzen die Beamten; aus dem Bericht über vergangene Straftaten suchen sie den Hinweis auf mögliche neue. Sie prüfen die Blätter, aus den alten suchen sie die neuen Spuren zu erraten: Wo kann er sich hingewandt haben? Wer ist seine Freundschaft? Von wem bekam er während seiner Haftzeit Briefe?

Es ist vielleicht nicht mehr das Leben in seiner alten Gewalt und Frische, zu viel wurde in den vergangenen Jahren zerstört, das Leben selbst wurde krank – es ist vielleicht manches nur Gewohnheit von früher her in dem, was nun geschieht. Die Maschine knarrt, stöhnt, ächzt – aber sie läuft noch, sie holt noch einmal aus, sie faßt zu – wird sie erfassen?

Wolf unter Wölfen
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