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Die schwüle Hitze im Polizeipräsidium Alexanderplatz konnte einen umwerfen. In den Gängen stank es nach gegorenem Urin, fauligem Obst, ungelüfteten, feuchten Kleidern. Überall standen Leute herum, graue Gestalten mit grauen, faltigen Gesichtern, erloschenen oder wild flackernden Augen. Die ermüdeten Polizisten waren stumpf oder gereizt. Rittmeister von Prackwitz, flammend vor Wut, hatte zwanzig Menschen fragen, Dutzende von Gängen laufen, endlose Treppen hinauf- und wieder hinuntersteigen müssen, bis er nun endlich, eine halbe Stunde später, in einem großen, unsauberen, riechenden Amtszimmer saß. Drüben, kaum ein paar Meter entfernt, rasselte die Stadtbahn vor dem Fenster, man hörte es mehr, als daß man es durch die grau verstaubten Scheiben sah.

Von Prackwitz war nicht allein mit dem Beamten. An einem Nebentisch wurde von einem andern Beamten in Zivil ein bleichgesichtiger, großnasiger Bengel wegen irgendeines Taschendiebstahls befragt. An einem andern Tisch, im Hintergrund, steckten vier Männer die Köpfe zusammen und murmelten pausenlos miteinander. Es war nicht auszumachen, ob auch darunter »Verbrecher« waren, denn alle waren in Hemdsärmeln.

Der Rittmeister hatte seinen Bericht gemacht, zuerst kurz, präzis, unter Zurückdrängung seines Ärgers, dann recht lebhaft und fast laut, als die Wut über seinen Hereinfall ihn doch wieder überwältigt hatte. Der Beamte, ein blasser, abgespannt aussehender Zivilist, hatte mit gesenkten Augen, ohne eine Zwischenfrage zugehört. Oder auch nicht zugehört, jedenfalls war er die ganze Zeit eifrig bemüht gewesen, drei Streichhölzer so aneinanderzustellen, daß sie nicht umfielen.

Nun, da der Rittmeister fertig war, sah der Mann hoch. Farblose Augen, farbloses Gesicht, kurzer Schnurrbart, alles ein bißchen traurig, fast verstaubt, aber nicht unsympathisch.

»Und was sollen wir dabei tun?« fragte er.

Dem Rittmeister gab es einen Stoß. »Die Kerle fassen!« rief er.

»Weswegen?«

»Weil er seinen Vertrag nicht eingehalten hat.«

»Aber Sie hatten ja keinen Vertrag mit ihm geschlossen, nicht wahr?«

»Doch! Mündlich!«

»Das wird er leugnen. Haben Sie Zeugen? Der Herr aus der Vermittlungsstelle wird Ihre Behauptungen kaum bestätigen, nicht wahr?«

»Nein. Aber der Kerl, der Vorschnitter, hat mich um dreißig Dollar betrogen!«

»Das höre ich lieber nicht«, sagte der Beamte leise.

»Wie –?!«

»Haben Sie eine Bankbescheinigung über den rechtmäßigen Erwerb der Devisen? Durften Sie sie kaufen? Durften Sie sie weitergeben?«

Der Rittmeister saß da, ziemlich weiß, kaute an den Lippen. Dies war also die Hilfe, die ihm der Staat angedeihen ließ! Er war betrogen worden – und ihn bedrohte man! Alle hatten sie Devisen statt des Dreckgeldes – er hätte wetten mögen, der graue Mann da vor ihm trug auch welche in seiner Tasche!

»Lassen Sie den Mann laufen, Herr von Prackwitz«, sagte der Beamte begütigend. »Was ist Ihnen denn damit gedient, daß wir den Mann kriegen und einstecken? Das Geld ist dann längst nicht mehr da, und Leute kriegen Sie dadurch auch nicht! Fälle über Fälle, Tag für Tag, Stunde um Stunde. Ein Fahndungsblatt täglich sooo lang – es hat keinen Sinn, glauben Sie mir!« Plötzlich aber ganz dienstlich: »Natürlich, wenn Sie es wünschen, da ist die Sache mit dem Fahrgeld … Sie stellen Strafantrag – ich lege dann einen Akt an …«

Von Prackwitz zuckte die Achseln, er sagte schließlich: »Und ich habe meine Ernte draußen stehen. Verstehen Sie, Brot über Brot! Ausreichend Brot für Hunderte! Ich habe ihm die Devisen ja nicht zu meinem Vergnügen gegeben, einfach, weil keine Leute zu kriegen sind …«

»Ja, natürlich«, sagte der andere. »Ich verstehe schon. Also lassen wir die Sache fallen. Um den Schlesischen Bahnhof herum gibt es genug Vermittler – sicher kriegen Sie Leute. Und nichts im voraus zahlen. Auch dem Vermittler nicht.«

»Schön«, sagte der Rittmeister. »Ich will’s also noch mal versuchen.«

Am Nebentisch, der großnasige Dieb weinte jetzt. Er sah abstoßend aus, er weinte bestimmt nur, weil er keine Lügen mehr wußte.

»Also, danke schön«, sagte von Prackwitz, fast gegen seinen Willen. Und plötzlich halblaut zu dem andern, fast kameradschaftlich, wie zu einem Leidensgefährten: »Finden Sie noch durch – hier – so mit allem?« Er machte eine vage Handbewegung.

Der andere hob die Achseln und ließ sie hoffnungslos wieder fallen. Er setzte an, zögerte, schließlich sagte er: »Seit Mittag steht der Dollar siebenhundertsechzigtausend. Was sollen die Leute da machen? Hunger tut weh.«

Der Rittmeister ließ ebenfalls hoffnungslos die Achseln fallen und ging wortlos zur Tür.

Wolf unter Wölfen
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