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Von der festen Überzeugung eines Mannes geht ein Fluidum aus, das auch den Gegner beeinflußt. Sehr nachdenklich fuhr Wolfgang Pagel die nun schon so bekannten Wege zum Außenschlag 9 hinaus, auf dem die Kartoffelernte in Gang war. Von Zeit zu Zeit kam ihm ein Kastenwagen voller Kartoffeln entgegen, dann sprang er vom Rad und erkundigte sich bei dem Knecht, wie die Kartoffeln lohnten. Ehe er sich aber wieder aufs Rad schwang, fragte er noch beiläufig: »Alles in Ordnung draußen?« Aber was sollte eigentlich solche Frage? Natürlich war alles in Ordnung draußen, der Pferdeknecht brummelte auch nur etwas Unverständliches zur Antwort.

Pagel fuhr weiter. Man soll sich von Gespenstersehern nicht anstecken lassen!

Es war ein schöner Herbsttag ausgangs September. Ein wenig frisch, der Ostwind – aber in der Sonne und im Windschutz noch recht behaglich warm. Pagel hatte jetzt völligen Windschutz, er fuhr durch Wald; Außenschlag 9, der entfernteste von allen Schlägen des Gutes, stieß mit einer Längs- und einer Schmalseite an Wald. Die andere Schmalseite grenzte schon an Birnbaumer Feld. Leise mit der Kette schnurrend, sonst ganz lautlos, fuhr das Rad über die Waldwege. Natürlich war draußen alles in Ordnung, aber Pagel mußte zugeben, daß Außenschlag 9, ein halbes Dutzend Kilometer vom Gutshof, im Walde versteckt, weitab von jeder anderen Ortschaft, eine treffliche Gelegenheit für unerlaubte Unternehmungen der Zuchthäusler abgeben konnte.

Unwillkürlich trat er die Pedale kräftiger und bremste gleich wieder, über sich selbst lächelnd. Er wollte sich doch nicht anstecken lassen. Seit einer Woche arbeiteten die Zuchthäusler schon draußen, und es war nichts passiert! Also war es Unsinn, schneller zu treten, nur um fünf Minuten eher draußen zu sein: wenn in sechs Arbeitstagen nichts passiert war, würde nicht gerade in diesen fünf Minuten sich etwas ereignen.

Pagel versuchte sich vorzustellen, wie überhaupt etwas geschehen konnte. In vier Abteilungen zu je zwölf und dreizehn Mann arbeiteten die Zuchthäusler auf dem freien Feld, zehn Schritte hinter jeder Gruppe stand ein Wachtmeister, den geladenen Karabiner in der Hand. Vor ihm, immer unter seinen Augen, lagen auf den Knien die Leute. Nicht einmal aufstehen durfte ein Mann, ohne den Beamten zu fragen. Ehe einer auch nur drei Schritte weiter war, würde ihm die Kugel im Leibe sitzen. Denn es wurde sofort ohne Warnung scharf geschossen, das wußten sie. Gewiß, theoretisch gab es die Möglichkeit, daß sich zwei oder drei opferten, um den andern die Freiheit zu verschaffen. Wenn der Wachtmeister sich leer geschossen hatte, konnten bis zum nächsten Laden, bis zum Hochreißen der Knarre die andern laufen. Aber praktisch gab es solchen Opfermut bei Zuchthäuslern nicht, hier dachte jeder bestimmt nur an sich und war bereit, alle zu opfern, nur nicht sich selbst.

Nein, hier draußen würde sich bestimmt nichts ereignen, eher noch in der Kaserne. Marofke spielte ein gefährliches Spiel heute mittag, Pagel schwor sich, mit der Knarre wenigstens am Fenster draußen zu stehen. Und vielleicht wagte Marofke dieses Spiel für nichts, für Einbildungen, für Gespenster …

Langsam fährt Pagel weiter, während des Fahrens denkt er nach. Was ihn von vielen jungen Leuten und den meisten alten unterscheidet, ist dieses Nachdenken, ein selbständiges, beharrliches Nachdenken, eine Suche nach Verstehen. Er war nicht für die gebahnten Straßen der andern, er wollte seinen eigenen Weg. Alle in Neulohe hielten den Oberwachtmeister Marofke für einen faulen, eingebildeten, albernen Affen. Das beeinflußte Wolfgang Pagel nicht, er war völlig anderer Ansicht. Und wenn Marofke sagte, es war etwas nicht in Ordnung mit seinen Leuten, so war es töricht, einfach zu antworten: »Das ist Quatsch!« – so schwach die Begründung auch sein mochte, die Marofke für seine Ansicht hatte.

In einem Punkte hatte der Oberwachtmeister jedenfalls recht: er, der Pagel, verstand nichts von Zuchthäuslern, aber er, der Marofke, verstand sehr viel von ihnen. Wenn Pagel mit den Leuten sprach, so waren sie sehr nett zu ihm, sie machten Späßchen, treuherzig erzählten sie von ihren Leiden im »Bunker« und in der Welt draußen. Auf ihn machten sie einen harmlosen, ein bißchen zu freundlichen Eindruck. Aber falsch mußte dieser Eindruck sein, das war bei einigem Überlegen sofort einzusehen, sie konnten gar nicht harmlos und freundlich sein.

»Lassen Sie sich bloß nicht die Augen verblenden, Pagel!« hatte Marofke nicht umsonst zehnmal zu ihm gesagt. »Vergessen Sie nicht, sie sind Zuchthäusler geworden, weil sie etwas Schuftiges getan haben. Und einmal Schuft, immer Schuft. Im Gefängnis kann mancher dazwischensitzen, der aus Not, aus Eifersucht gehandelt hat – wer im Zuchthaus sitzt, hat immer was Gemeines getan!«

Ja, und sie taten dabei harmlos. Der Oberwachtmeister hatte recht: dieser Harmlosigkeit durfte man nicht trauen. Darin unterschied sich eben Marofke von den andern Beamten: er schlief nicht ein, sein Argwohn war immer wach. Er vergaß nicht eine Minute, daß in einer schließlich und endlich ganz unzureichend gesicherten Schnitterkaserne fünfzig schwere Verbrecher saßen und daß diese fünfzig, losgebrochen, eine unendliche Summe Unglück für ihre Mitmenschen bedeuten konnten.

»Aber sie kommen ja doch in einem Monat, in drei Monaten, in einem halben Jahr raus!« hatte Pagel eingewendet.

»Natürlich – dann aber kommen sie mit einer polizeilichen Abmeldung, in Zivilkluft, mit ein bißchen Geld für den Anfang raus. Wenn sie aber ausreißen, ist gleich ihre erste Straftat, sich Zivilkleidung zu besorgen: Diebstahl, Einbruch, Überfall … Sie können nirgendwo angemeldet wohnen, sie müssen bei Verbrechern unterkriechen oder bei Huren, die nichts umsonst tun. – Also müssen sie sich Geld verschaffen: Diebstahl, Betrug, Hochstapelei, Einbruch, Überfall … Verstehen Sie nun, was das für ein Unterschied ist: Entlassung oder Ausreißen?!«

»Geht in Ordnung!« sagte Pagel.

Der Mann Marofke hatte recht, und die andern hatten unrecht, sie hatten auch darin unrecht, wenn sie behaupteten, Marofke drücke sich vom Dienst, weil er daheim blieb. (Der Rittmeister hatte ja gleich gesagt, Marofke sei ein Drückeberger.) Aber Pagel sah wohl, was für eine stumpfsinnige, gleichgültige Beschäftigung man aus dem Stehen hinter der Kolonne machen konnte. Verdammt noch mal! Marofke war nicht stumpfsinnig, er zergrübelte sich den Kopf, ein paarmal hatte er schon gestöhnt: »Ach, Fähnrich, wenn ich doch erst wieder heil mit meinen fünfzig Husaren daheim wäre! Erst freut man sich auf das Kommando, die frische Luft, das Essen, das man der Frau spart – und nun zähle ich schon immer: noch sechs Wochen, noch fünf Wochen und sechs Tage, und so weiter und so weiter, und womöglich kriegen wir eure Kartoffeln bis zum ersten November gar nicht raus!«

»Und da sind dann noch die Rüben!« hatte Pagel heimtückisch gesagt.

Aber es war nicht richtig gewesen, zu dem Manne heimtückisch zu sein. Er war kein Angsthase, das bewies sein Vorhaben für heute mittag. Dazu gehörte schon eine ziemliche Portion Entschluß und Courage. Vielleicht piepte es wirklich ein bißchen bei ihm, fünfundzwanzig Jahre Zuchthausdienst konnten einen Mann wohl etwas verdreht machen. Aber Pagel war sich dessen nicht ganz sicher. Er fand, dieser Oberwachtmeister Marofke beobachtete scharf, dachte klar. Er nahm sich vor, heute auf dem Felde die Augen gewaltig aufzutun und festzustellen, ob diese Beobachtungen richtig oder falsch seien.

Worauf ihn die Ereignisse binnen fünf Minuten darüber belehren sollten, was seine Beobachtungen wert waren und was Laienhilfe bei Zuchthäuslern nützte.

Er lehnte sein Rad gegen einen Straßenbaum am Feld, nebenbei gesagt, auch etwas, was ihm der Oberwachtmeister streng untersagt hatte. Denn das ohne Aufsicht stehende Rad konnte die Flucht eines Mannes begünstigen – aber für diesmal hatte die Leichtfertigkeit des jungen Pagel keine weiteren Folgen. Er ging die Kartoffeldämme entlang quer über das Feld auf das Kommando zu. Die Leute arbeiteten in einer langen Kolonne nebeneinander, auf den Knien weiterrutschend, am Aushacken und Einsammeln der Kartoffeln. Vier Mann gingen aufrecht hin und her, sie schütteten die vollen Körbe in Säcke und gaben sie entleert den Buddlern zurück. Die vier Beamten standen hinter der Kette, in der etwas gleichgültigen Pose von Leuten, die Tag für Tag zehn Stunden lang ein Ereignis fürchten müssen, das doch nie eintritt. Zwei von den Wachtmeistern hielten ihre Karabiner unter dem Arm, zwei hatten sie umgehängt – das war auch von Marofke verboten, und darum fiel es Pagel auf. Die Leute sammelten gerade von einer Hügelkuppe in eine Mulde hinab, die von älteren Fichtenschonungen begrenzt war. Die Mulde war verunkrautet, dazu war das Kraut hier, wo sich alles Wasser gesammelt hatte, noch halb grün, es buddelte sich schlecht.

Das riefen die Leute auch sofort Pagel zu: »Das ist Mist hier, Herr Inspektor! – Man kommt gar nicht voran! – Die Kartoffeln sind hier noch ganz grün. – Bloß, daß Sie Tabak an uns sparen!«

Pagel hatte zur Belebung des Fleißes eingeführt, daß für ein bestimmtes Zentnerergebnis eine Tabakszulage gegeben wurde.

»Nun, wir wollen mal sehen, was sich machen läßt«, rief Pagel vertröstend und ging auf den nächsten Beamten zu. Er grüßte und stellte ihm gleich wieder die Frage, die ihm heute stets auf der Zunge lag: »Alles in Ordnung?«

»Natürlich«, antwortete der junge Hilfswachtmeister gelangweilt. »Was soll denn nicht in Ordnung sein?«

»Ich frage ja nur … Es buddelt sich hier schlecht?«

»Marofke hat Ihnen wohl einen Floh ins Ohr gesetzt? Bei dem piept’s ja! Immer meckern und stänkern! So wie dies Kommando hat es keines: Essen in Ordnung, Baracke in Ordnung, Rauchen in Ordnung – aber er kann keine Ruhe halten. Man kann es auch übertreiben!«

»Was übertreiben –?«

»Herr Wachtmeister!« rief ein Gefangener in das Gespräch. »Darf ich mal austreten?«

Der Wachtmeister warf einen gelangweilten Blick auf ihn, dann auf die Reihe. »Los, Kosegarten!«

Der Gefangene warf einen vergnügt-vertraulichen Blick auf Pagel, trat hinter die Reihe und knöpfte grinsend seine Hosen ab. Dann hockte er sich hin, die Augen weiter auf Pagel gerichtet, der eine halbe Drehung machte, um diesen Anblick nicht ständig vor Augen zu haben.

»Wieso übertreiben –?« fragte der Hilfswachtmeister. »Weil Marofke sich beim Direktor anschmieren will! Er hat geschworen, er bringt jeden Mann fünfundzwanzig Pfund schwerer wieder nach Meienburg. ›Und wenn wir das Gut arm fressen!‹ hat er gestern erst wieder gesagt. ›Ich schimpf immer weiter übers Essen, die können gar nicht gut genug kochen!‹«

Pagel hatte keine Zeit mehr, auf diese Denunziation zu antworten. Das Gesicht des Hilfswachtmeisters veränderte sich in einem plötzlichen Schreck – »Halt!« brüllte er und riß den Karabiner von der Schulter …

Pagel fuhr herum, grade sah er noch den Gefangenen Kosegarten, der eben sein Geschäft verrichtet hatte, in die Fichten springen …

»Aus dem Weg!« brüllte ihn der Wachtmeister an und schlug Pagel mit dem Karabinerlauf hart vor die Brust.

»Nicht schießen, Herr Wachtmeister!« brüllten zwei, drei Stimmen. »Wir holen ihn …«

Einen Augenblick nur zögerte der Wachtmeister – und zwei, drei weitere Gestalten verschwanden in den Fichten.

»Steht!« schrie der Wachtmeister und schoß.

Der Knall, trocken und gar nicht laut, klang lächerlich gering gegen den Tumult der Gefangenen. Jetzt wurde auch oben geschossen.

»Antreten zu vieren!« brüllten Stimmen.

Pagel sah einen fünften Mann gegen die Fichten laufen, er setzte ihm nach.

»Bleiben Sie stehen, Sie Dummkopf! Ich kann ja nicht schießen!« brüllte der Beamte.

Pagel zögerte, warf sich hin, über ihm pfiffen die Kugeln. Man hörte es in den Fichten klatschen.

Fünf Minuten später waren die Leute zum Abmarsch aufgestellt, gezählt und die Namen der fehlenden ermittelt. Es fehlten fünf Mann. Ihre Namen lauteten: Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt, Holdrian.

Großer, weiser Marofke! dachte Pagel und schämte sich kräftig der eigenen Torheit. (Wie oft hatte ihm Marofke verboten, mit dem Beamten während der Wache ein Gespräch anzufangen! Wie schafsdumm war es von ihm, einem Ausreißer nachzulaufen, nachdem ihm schon zwei Gefangene demonstriert hatten, wie gut solch Nachlaufen eine Flucht deckte!)

Die Gefangenen schwirrten vor Aufregung, schwatzten – oder waren ganz finster und wortlos, die Aufseher erregt, bärbeißig, wütend.

»Sie, Herr Pagel, sausen Sie mal mit D-Zug-Geschwindigkeit aufs Gut und erzählen Sie Marofke die Scheiße. Gott, wird der platzen, Gott, wird der uns beschimpfen! Und er hat recht gehabt – wir sind alle Idioten gegen ihn, na, mit dem Arbeitskommando ist’s nun vorbei – heute nachmittag geht’s heim nach Meienburg. Sagen Sie dem Marofke, wir kommen erst in gut zwei Stunden. Ich lasse außen rum marschieren, über die offenen Felder. Jetzt mit den Jungen durch den Wald, das riskiere ich nicht, also los!«

Pagel schwang sich auf sein Rad und sauste in den Wald. Während er die Schneisen entlangraste, dachte er: O Gott, was wird Marofke sagen?! Die Jungen hätten’s jetzt verdammt einfach, mich vom Rade zu hauen! Ach, Marofke, hätt ich doch richtig aufgepaßt …

Wolf unter Wölfen
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