11

Nacht ist es – der Wind ist um die dritte Morgenstunde stärker geworden. Er wirft sich brausend in den Wald, aus den Kronen bricht er das morsche, das tote Holz. Krachend fällt es zur Erde. Es ist Herbst, es geht auf den Winter zu! Manchmal jagen die eilig ziehenden Wolken einen raschen Schauer herab, aber der Hund, ein einziger Spürhund, bleibt gut auf der Fährte.

Wieviel Menschen, wieviel Menschen sind unterwegs! Ganz Neulohe ist auf den Beinen, in keinem Haus schlafen die Menschen, überall brennen die Lampen!

Eine große Sache, eine ungeheuerliche Sache: Die entflohenen Zuchthäusler, sie hatten im Schloß gesteckt! Sie waren überhaupt nicht fort gewesen, in den Kammern der Mädchen verborgen, hatten sie der Liebe und dem guten Essen gelebt. Dann, als die Herrschaft abgereist war, hatte man ein großes Fest gegeben. Der Übermut war ihnen zu Kopf gestiegen, die Tollheit – sie hatten sogar den alten würdigen Elias bei ihrem Bacchanal zusehen lassen, in einen Teppich gewickelt, ein Tuch vor dem Munde! Diese Mädchen – sie waren ja ohne jede Scham und allen Anstand gewesen, sie hatten mit den Zuchthäuslern Freundschaft geschlossen. Von ihren Mädchenkammern war in die Schnitterkaserne zu schauen gewesen, es waren Zeichen getauscht worden, Neckereien zuerst nur, aber dann hatten sie sich sehr gut verstanden. Der alte Marofke hatte die richtige Witterung gehabt!

Ja, es war etwas faul gewesen, hüben wie drüben, in der Villa wie im Schlosse. Im Schloß hatten sie viel gebetet, aber Beten allein tut es freilich nicht – die alte gnädige Frau, wie würde sie über diese schlimme Nachricht hinwegkommen? Ihr Haus mußte ihr ja geschändet vorkommen!

Die Gendarmen hatten leichte Arbeit gehabt. Sie hatten überhaupt keine Arbeit gehabt, als sie mit Herrn von Studmann unter »Hände hoch!« in den großen Speisesaal eindrangen! Die Verbrecher hatten gelacht, sie hielten es für einen guten Witz! Sie hatten eine köstliche Zeit gehabt, saftige Dinge hatten sie zu erzählen, sie würden die Helden des Zuchthauses werden – und was konnte ihnen viel passieren?! Oben in den Kammern der Mädchen lag fein zusammengelegt ihre Zuchthauskluft, kein Stück fehlte. Unterschlagung kam nicht in Frage, Einbruch kam nicht in Frage – mit einem halben Jahr, mit drei Monaten würde die Sache für sie abgemacht sein. Und das war sie ihnen wert!

Die Mädchen freilich weinten. Oh, was die dicke Mamsell heulte, als man ihrem Liebsten, dem Verbrecher Matzke, die Handschellen anlegte! Sie zog den Rock ganz über ihren Kopf, sie heulte darunter wie ein Hündlein, sie schämte sich so –!

Wolfgang Pagel, der hereinsah, um die Gendarmen zur Eile anzutreiben, denn wichtiger als diese Zuchthäusler schien ihm jetzt das gnädige Fräulein – Wolfgang Pagel also sah Amanda Backs an einem Saalfenster stehen, dieses große, stramme, derbe Mädchen, das jetzt einen merkwürdig gespannten Zug im Gesicht hatte. Grimmig leuchtend beobachteten ihre Augen das betrunkene, heulende, lachende, schimpfende Treiben im Saal. (Da nicht genug Gendarmen zur Absperrung da waren, hatten sich viel zuviel Neugierige eingedrängt.)

Mit einem Gefühl der Enttäuschung sah Pagel das Mädchen dastehen, er hatte sie gestern nachmittag noch so großartig gefunden, als sie den Verräter Meier vor der Ententekommission geohrfeigt hatte.

»Sie auch –?« fragte er betrübt.

Amanda Backs wandte ihm das Gesicht voll zu und sah ihn an. »Bei Ihnen piept’s wohl?« sagte sie verächtlich. »Mit schlechten Kerlen habe ich genug zu tun gehabt. Nee, danke, davon bin ich kuriert. Wenn kein Anständiger, dann lieber gar nicht!« Pagel nickte, und die Backs sagte erklärend: »Ich wohn doch wegen der Hühner unten, weil ich immer so früh raus muß und die Gnädige nicht stören sollte. Und die wohnen alle oben. – Aber jewußt habe ich es natürlich – das sind doch bloß alles Jänse, und Jänse ohne Schnattern gibt es nich.«

Sie sah wieder in das Getümmel und fragte nachdenklich: »Ob sie’s nun schon gemerkt haben? Ich verstehe es nicht. Es waren doch immer fünfe, und viere haben sie bloß gekappt! Ob der fünfte getürmt ist oder ob er gar nicht hier im Schloß war – ich weiß es nicht.«

Pagel sieht das Mädchen mit aufleuchtenden Augen an. »Liebschner, Kosegarten, Matzke, Wendt und Holdrian«, sagt er wie aus der Pistole geschossen her. »Und welcher fehlt, Amanda?«

»Liebschner«, sagt sie. »Der Kerl mit dem unruhigen, schwarzen Blick, so ’n Schleicher, Sie wissen doch, Herr Pagel!«

Pagel nickt ihr kurz zu und geht zu den Gendarmen, um sich zu erkundigen. Aber dort hat man das Fehlen des fünften auch schon gemerkt – wie hätte es anders sein können? Selbst wenn die Gendarmen nicht daran gedacht hätten, das treffliche Gedächtnis des Herrn von Studmann sagte ebenso fehlerlos wie das Pagelsche her: »Holdrian, Wendt, Matzke, Kosegarten, Liebschner …«

Ja, eine Weile sah es so aus, als sollte die Suche nach dem gnädigen Fräulein über diesem fehlenden fünften Mann vertrödelt werden, trotz alles Drängens von Wolfgang Pagel. Aber dann, gegen die dritte Stunde, kamen rasch neue Mannschaften. Die Neugierigen wurden aus dem Saal getrieben, schnelle Vernehmungen kamen in Gang, sehr gefördert durch einen plötzlich aus der Nacht aufgetauchten Kriminalbeamten oder ehemaligen Kriminalbeamten, den aber die Gendarmen zu kennen schienen, einen dicken, völlig verschmutzten und durchnäßten Mann mit einem merkwürdig gefrorenen Blick.

Zwei Minuten – und es war klar, dieser Liebschner war bei der Orgie im Saale nicht anwesend gewesen.

Weitere drei Minuten – und es war erwiesen, er war auch nie im Schloß gewesen. Ach, die dicke, heulende Mamsell – jetzt fuhr sie doch wirklich aus ihrem Rock heraus, dieser weinende, seufzende Fleischberg. Sie rief: »Wir haben doch nur zu vieren oben geschlafen – was hätten wir wohl mit fünf Kerlen machen sollen?! Nein, pfui, was solche Männer alles von uns denken!«

Und verschwand flennend wieder unter ihrem Rock.

Nochmals zwei Minuten – und sie wußten: Der Liebschner war den andern vieren schon im Walde verlorengegangen, gleich nach der Flucht …

»Was ist er? Hochstapler? Halten wir uns nicht auf«, sprach der dicke Kriminalist. »Der Junge ist längst in Berlin – für so einen feinen Herrn ist Neulohe kein Pflaster. Der hat gewußt, was er wollte. Mit dem bekommen unsere Kollegen vom Alex zu tun – hoffentlich recht bald. – Ab mit den Leuten! Sie, bitte, Herr von Studmann, gehen mal rüber in die Villa. Sagen Sie dem Arzt, er soll mitkommen. Es ist schon besser, das Fräulein ist im Hemd losgelaufen – oder im Pyjama, bei dieser Witterung dasselbe.«

»Frau von Prackwitz –«, wandte Studmann ein.

»Die gnädige Frau schläft, hat eine Spritzeken gekriegt. Der gnädige Herr schläft – hat auch genug. Der Arzt hat Zeit, sage ich Ihnen. Halt, bringen Sie irgendein Kleidungsstück von dem gnädigen Fräulein mit, damit der Hund immer wieder Witterung nehmen kann, irgend etwas, das sie direkt auf dem Leib getragen hat. – Noch eins! Hier soll es einen Förster geben, ollen Krachstiebel, Kniebusch oder so was. Raus mit dem aus dem Bett – der Mann wird ja seinen Wald kennen …«

»Ich werde den Förster holen«, sagte Pagel.

»Halt! Junger Mann, Herr Pagel, nicht wahr? Mit Ihnen wollte ich grade sprechen.«

Der große Saal hatte sich geleert, zwei oder drei der für die »Orgie« verhängten Birnen brannten nur noch, die Luft war eisig und wie voller Schmutz. Von einem Fenster hing halb heruntergerissen der Vorhang und zeigte die nachtblinde Scheibe.

Der Dicke hatte sich neben Pagel gestellt, er nahm ihn leicht am Arm, er zwang ihn zum Hinundhergehen. – »Eine verdammte Kälte. Ich bin Eis bis aufs Mark. Was das kleine Fräulein frieren muß! Jetzt ist sie beinahe zwei Stunden draußen! Nun los, erzählen Sie mir alles, was Sie von der jungen Dame wissen. Sie sind doch Beamter hier auf dem Gut, junge Männer interessieren sich für junge Damen, also los!«

Und die eisigen Augen sahen Pagel durchdringend an.

Aber Pagel hatte manches gesehen und beobachtet, er war nicht mehr der junge, ahnungslose Mann, der sich jedem mit Autorität auftretenden Anspruch beugte. Er hatte wohl gehört, wie ein Gendarm unmutig gerufen hatte: »Was will der dicke Speckjäger schon wieder bei uns?!« Er hatte beobachtet, wie der dicke Mann wohl jedem Zivilisten Weisungen gab, nie aber einem Gendarmen. Und wie die Gendarmen taten, als sei der Dicke eigentlich gar nicht da, nie mit ihm sprachen …

So sagte er denn langsam unter dem durchdringenden Blick dieser Augen: »Erst einmal müßte ich wissen, im Auftrage welcher Behörde Sie hier sprechen!«

»Wollen Sie ein Blechschild sehen?« rief der andere. »Ich könnte Ihnen eines zeigen, bloß, es gilt nichts mehr. Ich bin ein rausgeschmissener Beamter. In den Zeitungen heißt so was: ›Wegen nationaler Gesinnung gemaßregelt‹.«

Rascher sagte Wolfgang: »Sie sind der einzige Mann hier, der wegen der Nachsuche von Fräulein von Prackwitz gedrängt hat. Welches Interesse haben Sie an ihr?«

»Keines!« sprach der Mann eisig. Er beugte sich nahe zu Pagel, er faßte ihn am Rock, er sagte eilig: »Sie haben Glück, junger Mann, Sie haben ein angenehmes Gesicht, nicht solche Bulldoggenfresse wie ich. Die Menschen werden immer Vertrauen zu Ihnen haben – mißbrauchen Sie es nicht! Nun, ich habe auch Vertrauen zu Ihnen; ich will Ihnen was verraten: Ich habe großes Interesse an allem, was mit ausgenommenen Waffenlagern zusammenhängt.«

Wolfgang sah vor sich hin; er sah wieder auf, er sagte: »Violet von Prackwitz war fünfzehn Jahre. Ich glaube nicht, daß sie …«

Der Kriminalist sah ihn eisig an. »Herr Pagel«, sagte er, »überall, wo Verrat geschehen ist, war eine Frau im Spiel, als Antrieb oder als Werkzeug. Oft als blindes Werkzeug. Immer! – Erzählen Sie!«

Da erzählte Pagel, was er wußte.

Der Dicke ging neben ihm her, er schnaufte, er räusperte sich, er sah verächtlich die Wände an, er riß wütend an einer Vorhangschnur, er spuckte aus, er rief: »Dummheiten, elende Dummheiten! Kotz!« Er wurde leiser, schließlich sagte er: »Danke schön, Herr Pagel, jetzt ist es schon ein bißchen heiler.«

»Werden wir das Fräulein finden –?« rief Pagel. »Der Leutnant …«

»Blind!« sagte der dicke Mann. »Blind hineingeboren in eine Welt von Blinden. Sie denken an den Leutnant. Nun, Herr Pagel«, flüsterte er, »Sie werden diesem Herrn Leutnant in einer Stunde guten Morgen sagen können – ich fürchte, es wird Ihnen nicht gefallen.«

Es war so still im Saal. Die Lampen glimmten nur noch. Das dicke, weiße Gesicht sah Pagel groß an. Ihm war, wie durch einen Schleier, als nicke es, als nicke es ihm zu, dieses böse Gesicht der Menschheit, das alle Gemeinheit, alle nackte Brutalität, alle Sünde des Menschenherzens kennt und das doch weiter lebt, ja sagend. Er sah hinein, sah hinein, ich war auch auf dem Wege, sagte er, hatte er es gesagt?

Plötzlich hörte er wieder den Wind vor den Scheiben, ein Hund jaulte laut auf, ein anderer antwortete. Der Dicke faßte ihn bei der Schulter. »Los, junger Mann, wir haben keine Zeit mehr.«

Sie gingen in den Wald …

Der Wind ging, in den unsichtbaren Kronen rauschte es, Holz brach krachend von oben, Stimmen schienen zu schreien, kurzer Regen stäubte – stumm gingen die Männer. Manchmal leise hechelnd, zog der Hund unentwegt an der Leine; ihm zusprechend, sanft ihn lobend, ging sein Herr ihm nach. Gleich darauf folgten Pagel und der Kriminalbeamte, dann der Arzt mit Herrn von Studmann, dann zwei Gendarmen … Der Förster fehlte, der Förster war nicht zu erreichen gewesen, der Förster sollte außerhalb sein. – »Den lange ich mir noch!« hatte der Kriminalist in einem Ton gesagt, den Pagel nicht gerne hörte.

Aber dann ging er ganz still neben dem jungen Mann. Einmal ließ er den Schein seiner Taschenlampe aufblinken, er blieb stehen, er sagte gleichmütig: »Bitte hier nicht herzutreten!« und ließ die andern vorübergehen. »Sehen Sie«, sagte er zu Pagel und wies auf irgend etwas am Boden, das Pagel nicht unterscheiden konnte. »Er hat an alles gedacht. Hier hat sie schon Schuhe an, und einen Mantel oder so etwas wird er ihr auch mitgebracht haben.«

»Wer hat an alles gedacht?« fragte Pagel müde. Er fragte nur so, es interessierte ihn nicht, er war unerträglich müde, und sein Kopf schmerzte immer stärker. Er würde den Arzt nachher fragen, was denn eigentlich mit ihm los war.

»Wissen Sie es denn noch immer nicht?« fragte der Kriminalist. »Sie haben es mir doch selber gesagt.«

»Ich weiß es wirklich nicht, wenn es nicht der Leutnant ist«, sagte Pagel verdrossen. »Und ich bekomme es heute nacht auch nicht mehr heraus, wenn Sie es mir nicht sagen.«

»Wenn das Blut zu fein wird«, erklärte der Dicke rätselhaft, »dann verliert es an Kraft. Es will wieder hinunter. – Aber jetzt wollen wir schneller gehen. Meine Kollegen sind weit genug voraus, damit sie den Ruhm des Fundes haben …«

»Wissen Sie denn schon, was wir finden werden?« fragte Pagel, immer mit der gleichen müden Verdrossenheit.

»Was wir jetzt finden werden, ja, das weiß ich. Aber was wir dann finden werden, nein, das weiß ich nicht, das kann ich mir nicht einmal vorstellen.«

Nun gingen sie wieder schweigend weiter. Sie gingen immer rascher, die vorne schienen auch rascher gegangen zu sein. Sie kamen zwei Minuten zu spät, die andern waren schon alle um ihn herum.

Es war ein Murmeln, und oben ging der Wind. Aber im Schwarzen Grunde, hier war es still, der Kreis schob sich hin und her – der weiße Lichtkegel von der Taschenlampe des Arztes lag unerträglich grell auf dem, was einmal ein Gesicht gewesen war.

»Hat sich noch sein Grab gegraben, völlig verdreht.«

»Aber wo ist das Fräulein?«

Gemurmel. Stille.

Ja, es war wohl kein Zweifel, dieses war der Leutnant, von dem Pagel so oft hatte reden hören, dem er so gerne einmal begegnet wäre. Hier lag er, eine sehr stille, eine sehr fragwürdige Figur – geradezu gesagt: ein ziemlich besudelter Haufen Lumpen, unverständlich, daß es je um dies Haß und Liebe gegeben haben sollte. Mit einem unerklärlichen Gefühl von Kälte, fast von Abneigung, sah er auf dieses Etwas hinab, gänzlich unerschüttert –: Warst du denn so großer Dinge wert? hätte er fragen mögen.

Der Arzt richtete sich auf. »Unzweifelhaft Selbstmord«, stellte er fest.

»Kennt einer der Herren aus Neulohe den Mann?« fragte ein Gendarm.

Über den Kreis weg sahen sich Pagel und von Studmann an. »Nie gesehen«, antwortete Studmann.

»Nein«, sagte Pagel und sah sich nach dem dicken Kriminalisten um. Aber wie er schon erwartet hatte, war der nirgends zu sehen.

»Dies ist doch wohl der Platz, wo –?«

»Ja«, sagte Pagel. »Ich habe heute nachmittag, gestern nachmittag zu einem Protokoll hierher gemußt. Dies ist der Platz, wo die Ententekommission ein Waffenlager beschlagnahmt hat.«

»Toter also unbekannt«, sprach eine Stimme im Hintergrund abschließend.

»Aber unzweifelhaft Selbstmord!« rief der Arzt eilig, als stellte er etwas richtig.

Eine lange Stille entstand. Die Gesichter der Männer in dem kleinen Lampenschein waren fast mürrisch, sie standen so unentschlossen herum …

»Und wo ist die Waffe –?« fragte schließlich der Hundeführer doch.

Eine kleine Bewegung entstand.

»Nein, hier ist sie nicht. Wir haben schon alles abgesucht. Weit hätte sie nicht wegfallen können.«

Wieder diese lange verdrossene Stille. Das ist ja wie eine Gespensterversammlung, dachte Pagel, unerträglich gepeinigt, und versuchte, näher an den Hund zu kommen, um dessen schönen Kopf streicheln zu können. Denkt denn keiner mehr an das Mädchen –?

Da sagte es schon einer: »Und wo ist das Fräulein?«

Wieder eine Stille, aber belebter, nachdenklicher.

Dann meinte ein Gendarm: »Vielleicht – es ist doch ganz einfach. Er hat sich zuerst erschossen, und das Fräulein hat die Waffe genommen und hat es auch tun wollen. Aber dann hat sie es nicht gekonnt und ist mit der Waffe weitergelaufen …«

Wieder Nachdenken.

Darauf ein anderer: »Ja, so kann es gewesen sein, du hast recht.«

»Dann wollen wir also erst mal rasch weitersuchen.«

»Das kann die ganze Nacht durch gehen – Neulohe bringt uns kein Glück.«

»Los! Jetzt nicht trödeln!«

Eine Hand legte sich von hinten fest auf Pagels Schulter, eine Stimme flüsterte in Pagels Ohr: »Drehen Sie den Kopf nicht um. Ich bin nicht da. Fragen Sie den Arzt, wie lange der Tote schon tot ist.«

»Einen Augenblick bitte!« rief Pagel in die Bewegung des Aufbruchs hinein. Seine Stimme klang so, daß jeder sofort stillstand. »Können Sie uns wohl sagen, Herr Doktor, wie lange dieser Mann hier schon tot ist?«

Der Arzt, ein vierschrötiger, untersetzter Landarzt mit einem merkwürdig schütteren, schwarzen Bart um das Kinn, sah zögernd auf den Toten, dann in Wolfgang Pagels Gesicht. Seine Miene erhellte sich ein wenig, er sagte langsam: »Ich habe hierin nicht die Erfahrung meiner Herren Kollegen von der Polizei. Darf ich fragen, warum Sie diese Frage stellen?«

»Weil ich das Fräulein von Prackwitz noch um halb eins schlafend in ihrem Bett gesehen habe.«

Der Arzt sah auf die Uhr. »Wir haben gleich halb vier«, sagte er rasch. »Um halb eins war dieser Mann schon Stunden tot.«

»Also muß ein anderer Mann das Fräulein von Prackwitz aus ihrem Zimmer hierhergeholt haben«, schloß Pagel.

Die Hand, die schwere Hand, die all diese Zeit über auf seiner Schulter wie eine Last gelegen hatte, wurde fortgenommen, ein leises Geräusch im Rücken verriet ihm, daß der Dicke sich entfernte.

»Es ist also nichts mir deiner Erklärung, Albert!« sagte einer der Gendarmen laut und ärgerlich.

»Wieso? Warum nicht?!« verteidigte sich der andere. »Sie kann ja allein hierhergelaufen sein, den Toten gefunden haben. Nimmt den Revolver, läuft weiter …«

»Unsinn!« sagte der Hundeführer hart. »Wir haben ja immer die zwei Spuren vor Augen gehabt, Mann und Frau – bist du denn blind? – Dies ist eine böse Sache, sie geht weit über unsere Zuständigkeit … Wir müssen die Mordkommission benachrichtigen …«

»Dies hier ist ein Selbstmord«, widersprach der Arzt.

»Wir müssen nur das Fräulein suchen«, mahnte Pagel. »Schnellstens!«

»Junger Herr«, sagte der Hundeführer. »Sie wissen etwas – oder Sie haben einen Verdacht, da Sie eben den Arzt so gefragt haben. Sagen Sie uns doch, was Sie glauben. Lassen Sie uns nicht im Dunkeln herumlaufen …«

Alle Gesichter sahen auf Pagel. Er schaute hinunter auf den Toten, er dachte an jene Unterredung mit Violet im Park, als sie ihn küßte, später bedrängte sie ihn. Er hätte jetzt gern die feste Hand auf der Schulter gespürt, eine Stimme im Ohr – aber wenn wir uns entscheiden müssen, sind wir allein, und wir müssen es sein.

Ich weiß ja nichts, klang es verzweifelt in ihm. Er horchte den Worten nach. Dann hörte er die rauhe Stimme wieder, den bösen und doch traurigen Klang, mit dem sie gesprochen hatte: Das Blut will hinab … – Das Blut will hinab …

Er sah auf von dem Toten, er sah in die Gesichter der Männer. Er sagte: »Ich weiß gar nichts … Aber vielleicht habe ich etwas erraten … Heute früh hat der Herr Rittmeister von Prackwitz seinen Diener entlassen, nach einem schweren Streit. Das Mädchen im Haus hat mir heute abend erzählt, es sei um einen Brief gegangen, den das Fräulein geschrieben … Das Fräulein war sehr jung, und dieser Diener war nach allem, was ich von ihm weiß, ein sehr schlechter Mensch. Ich könnte mir denken …«

Er sah fragend in die Gesichter.

»Also irgend etwas wie eine Erpressung – das hört sich schon anders an!« rief ein Gendarm. »Bloß nicht solche verfluchten Geschichten mit Waffenlagern, Verrätern, Feme –!«

Sein Kollege räusperte sich laut, fast drohend.

»Los mit dem Hund! Laß ihn am Hemd riechen. Bleibt alle stehen. Geh mit der Minka einen Kreis um den Kessel ab, hier ist alles zertrampelt …«

Keine fünf Minuten, und der Hund schoß einen kleinen Pfad hinauf, die Leine spannend. Eilig folgten die Männer. Aus dem Kessel heraus, oben ging es klar eine Schneise entlang, immer weiter fort von Neulohe …

Plötzlich war der Dicke wieder neben Pagel. »Das haben Sie ganz gut gemacht«, sagte er anerkennend. »Haben Sie es also endlich doch erraten?«

»Ist es denn wirklich wahr?!« rief Pagel erschrocken und blieb stehen. »Es kann doch nicht sein!«

»Weiter, junger Mann!« mahnte der Dicke. »Jetzt haben wir Eile, obwohl ich überzeugt bin, wir kommen zu spät. – Natürlich ist es wahr – wer soll es denn sonst sein?«

»Ich glaube es nicht. Dieses graue, fischige Vieh …«

»Ich muß ihn gestern auf den Straßen von Ostade gesehen haben«, sagte der Dicke. »Ich habe so eine Ahnung von dem Gesicht … Aber man sieht zuviel Gesichter heute, die nach Verbrechern aussehen, gewesenen und zukünftigen. – Gnade Gott dem Burschen, wenn ich ihn finde –!«

»Wenn wir sie nur finden!«

»Halt! Vielleicht ist Ihr Wunsch jetzt in Erfüllung gegangen …«

Es gab einen Aufenthalt, quer ab von der Schneise zerrte der Hund in eine dicht bestandene Tannendickung. Mühsam, mit den Zweigen kämpfend, mit den Lämpchen leuchtend, drangen die Männer vor. Keiner sprach ein Wort. Es war so still, daß man das laute, ungeduldige Hecheln des Hundes hörte wie die Stöße einer Dampfmaschine.

»Die Spur ist ganz frisch!« flüsterte der Dicke in Pagels Ohr und brach rascher durch die Zweige.

Aber die kleine Lichtung, auf die sie traten, kaum größer als ein Zimmerchen, war leer. Mit einem leisen Aufheulen stürzte der Hund auf etwas, was auf der Lichtung lag – der Hundeführer griff danach. »Ein Damenschuh!« rief er.

»Und noch einer!« rief der dicke Kriminalist. »Hier hat er –«

Er brach ab. »Los, meine Herren!« rief er, »wir sind direkt hinter ihm. Er kann nicht mehr schnell vorwärts, mit dem Mädchen in Strümpfen. Loben Sie Ihren Hund, Mensch, vorwärts!«

Und sie liefen!

Kreuz und quer ging die wilde Jagd, durch Tannen und Wacholder, der Hund jammerte lauter, immer wieder prallten die Männer im Dunkel gegen Stämme, Rufe wurden laut: »Ich höre sie!« – »Seid doch still!« – »Schrie da nicht eine Frau?«

Der Wald wurde lichter, noch rascher kamen sie vorwärts, und plötzlich, fünfzig, vierzig Meter vor ihnen, wurde es hell zwischen den Zweigen, ein weißer, strahlender Schein …

Einen Augenblick standen sie Atem holend, ohne Verständnis …

»Ein Auto! Er hat ein Auto!« schrie plötzlich einer.

Sie stürmten vorwärts. Laut klang das Tacken des Motors zwischen den Stämmen. Dann brauste er auf, der Lichtschein schwankte, wurde schwächer, sie liefen im Dunkeln …

Auf der Schneise standen sie, in der Ferne leuchtete es noch, der Schein wanderte weiter. Ein Gendarm stand, die Pistole in der Hand, er ließ sie wieder sinken: unmöglich, die Reifen noch zu treffen!

Rasch wurde vereinbart, nach Neulohe zurückzueilen. Es sollte telefoniert werden, mit dem Prackwitzschen Auto wollte man die Spuren des entflohenen Autos verfolgen …

Alles brach auf, von Studmann rief ungeduldig: »Pagel, kommen Sie noch nicht?«

Pagel sagte: »Einen Augenblick. – Ich komme dann sofort nach.«

Der Dicke hielt ihn am Arm. »Hören Sie zu, junger Mann«, flüsterte er. »Ich gehe nicht mit euch, ich gehe zurück nach Ostade. Die da sind voll Optimismus, weil sie den Feind aufgespürt haben und weil es nicht nach Fememord riecht. Verfolgung von Fememördern – das mögen die nicht und müssen es doch. – Aber, junger Mann, Sie sind das einzig vernünftige Gesicht auf dem Hofe – machen Sie sich keine Hoffnung, und machen Sie den andern auch keine Hoffnung. Vor allem der Mutter nicht, bringen Sie es ihr langsam bei …«

»Was? Was soll ich ihr beibringen?«

»Wie wir da in die Tannendickung eindrangen, da dachte ich auch: Er hat’s getan. Aber als wir nur die Schuhe fanden …«

»Wir haben ihn gestört.«

»Vielleicht! Aber der hat seine Zeit auf die Minute berechnet! Pagel, ich sage Ihnen, so einen Kerl wie den, den können Sie nicht einmal in Ihrem schlimmsten Traum träumen. Es ist ja möglich, daß er es noch tut, aber ich glaube es nicht. Es ist viel schlimmer …«

Pagel stand still, er fragte nicht.

»Es gibt solche«, sagte der Dicke. »Meistens, in gesunden Zeiten, lassen die andern sie nicht hochkommen, aber in einer kranken, verfaulten Zeit, da wird es geil, solch Gewächs … Glauben Sie doch nicht, Pagel, daß das ein Mensch ist, daß der fühlt und denkt wie ein Mensch. – Das ist ein Scheusal, ein Wolf, der mordet, nicht um zu fressen, sondern um zu morden!«

»Aber Sie sagen doch: Er wird es nicht tun?«

»Wissen Sie, was das ist: hörig –? Können Sie sich das überhaupt vorstellen: hörig? Von dem Atemzug, dem Blick solch eines Scheusals abhängig zu sein, nichts tun zu können ohne seinen Wunsch und Willen? Das ist Ihr kleines Fräulein! Und, da er nun fort ist, wird er das Schlimmste tun, was er tun kann: Er wird sie immer beinah ermorden, und dann wird er sie wieder ein bißchen leben lassen. Was er so leben nennt, grade noch, daß der Lebensfunke Todesangst empfinden kann …«

Sie schwiegen beide, der Wind ging und ging, es war völlig dunkel …

»Pagel«, sagte der Dicke plötzlich. »Ich gehe jetzt. Wir werden uns kaum wieder begegnen. Aber es hat mich, wie man so sagt, gefreut. – Pagel!« sagte er noch einmal dringlich. »Beten Sie zu Gott, daß diese Mutter ihre Tochter nie wiederfindet – es wäre keine Tochter mehr …«

Er war lautlos fort. Wolfgang Pagel stand allein im dunkeln, windigen Walde.

Wolf unter Wölfen
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