8

Wolfgang Pagel saß schon im Spielzimmer.

Auf eine rätselhafte Weise war die Kunde von der großen Summe Geldes, die der Pari-Panther gegen Spielmarken eingewechselt hatte, aus dem Vorplatz zu dem raubvogelhaften Croupier und seinen beiden Assistenten gedrungen und hatte ihm einen Sitzplatz nahe dem Kopfende des Tisches verschafft. Dabei hatte Pagel nur ein Viertel seines Geldes bei dem traurigen Wachtmeister eingewechselt. Den Rest der Scheine hatte er achtlos und hastig in die Taschen zurückgestopft und war eingetreten, mit der Hand zwischen den beinernen, kühlen Jetons in der Rocktasche wühlend. Leise, mit einem angenehm trockenen Laut klapperten die Spielmarken.

Dies Geräusch rief sogleich die Vorstellung des Spieltisches herauf: das etwas nachlässig gespannte grüne Tuch mit den flach aufgestickten, gelben Zahlen unter dem elektrischen Licht, das über dem Spieltisch trotz aller Geräusche umher stets besonders still und weiß wirkte – und nun das Schnurren und Klappern der Kugel, während das Rad leise schwirrte.

Mit einem tiefen, wie erlösten Atemzug sog Wolfgang die Luft ein.

Das Spielzimmer war schon sehr gefüllt. Hinter den auf Stühlen Sitzenden standen trotz der zeitigen Stunde schon wieder zwei dichte Reihen Spieler. Wolfgang hatte nur eine undeutliche Vorstellung von all diesen weißen, gespannten Gesichtern.

Ein Helfer des Croupiers führte ihn – eine noch nie genossene Gunst – zu dem für ihn frei gemachten Stuhl.

Als Pagel an einer Frau vorüberging, roch er plötzlich fast überwältigend stark ihr Parfüm, ein Duft, der ihm seltsam bekannt vorkam. Er hätte jetzt gerne an das Spiel gedacht, aber zu seinem Ärger entdeckte er, daß er recht zerstreut war. Sein Hirn wollte durchaus den Namen des Parfüms finden. Eine Menge Wörter wie Houbigant, Mille fleurs, Patschuli, Ambra, Mystikum, Juchten schossen ihm durch den Kopf. Erst als er sich hinsetzte, fiel ihm ein, daß er den Namen dieses Parfüms wahrscheinlich gar nicht wußte, daß es ihm nur darum bekannt vorgekommen war, weil es das Parfüm seiner Feindin, des Valutenvamps, war. Er glaubte sich zu erinnern, daß diese Frau ihm zugelächelt hatte.

Pagel saß nun. Aber noch verbot er sich jeden Blick auf seine Umgebung und die Spielfläche. Langsam und sorgfältig legte er ein Päckchen Lucky Strike, die er bei Lutter und Wegner erstanden, eine Schachtel Streichhölzer und einen silbernen Zigarettenhalter vor sich hin, eine Art kleiner Gabel, die man sich mit einem Ring über den kleinen Finger streifte und die das Gelbwerden der Finger verhindern sollte. Dann zählte er dreißig Spielmarken ab und legte sie in Fünferhaufen vor sich. Er hatte noch eine ganze Menge weiterer Spielmarken in der Tasche. Immer noch ohne hochzusehen, spielte er mit ihnen, freute sich an dem trockenen Klappern wie an einer schönen Musik, die ganz ohne Widerstand in ihn einging. Dann plötzlich – der Entschluß war so überraschend in ihm entstanden, wie der erste Blitz aus einem Gewitterhimmel fährt –, dann plötzlich setzte er eine ganze Handvoll Spielmarken, soviel er eben fassen konnte, auf die Zahl 22.

Ein rascher, dunkler Blick des Croupiers traf ihn, die Kugel schepperte, schepperte endlos – und die scharfe Stimme erklang: »Einundzwanzig – Ungleich – Rot …«

Vielleicht irre ich mich, dachte Pagel, seltsam befreit. Vielleicht ist Petra erst einundzwanzig.

Plötzlich war er guten Mutes, seine Zerstreutheit war verschwunden. Ohne Bedauern sah er, wie die Harke des Croupiers seinen Einsatz heranharkte, er verschwand – und dunkel war ihm, als habe er sich mit diesen auf die Lebensjahre Petras geopferten Jetons von ihr freigekauft, könne nun – ohne alle Rücksicht auf sie – spielen, wie er wollte. Schwach lächelte er dem Croupier zu, der ihn aufmerksam ansah. Der Croupier erwiderte dieses Lächeln, fast unmerklich, kaum daß sich die Lippen unter dem gesträubten Bart verzogen.

Pagel sah um sich.

Ihm direkt gegenüber, an der andern Seite des Tisches, saß ein älterer Herr. Das Gesicht war so scharf geschnitten, daß die Nase im Profil wie das Blatt eines Messers wirkte, ihr Ende war wie eine drohende Spitze. Das unbewegte Gesicht war erschreckend bleich, in dem einen Auge saß ein Monokel, über das andere hing schlaff das wohl gelähmte Lid. Der Herr hatte ganze Stöße von Jetons vor sich liegen, aber auch Banknotenpäckchen.

Der Croupier rief, und die langen, dünnen, sehr gepflegten Hände des Herrn griffen mit den aufgebogenen Spitzen hastig nach Spielmarken und Geld. Sie verteilten die Sätze über eine ganze Anzahl von Nummern. Pagel folgte mit dem Blick diesen Händen. Dann sah er rasch und verächtlich fort: dieser blasse Herr mit dem beherrschten Gesicht hatte vollständig den Kopf verloren! Er spielte gegen sich selbst, setzte gleichzeitig auf Null und Zahlen, Gleich und Ungleich.

»Elf – Ungleich, Rot, erstes Dutzend …«, rief der Croupier.

Wiederum Rot!

Pagel war überzeugt, daß jetzt Schwarz kommen würde; mit einem raschen Entschluß setzte er seine sämtlichen dreißig Spielmarken auf Schwarz und wartete.

Es dauerte endlos lange. Irgend jemand nahm im letzten Augenblick seinen Einsatz zurück und setzte dann doch wieder. Eine tiefe, tödliche Unlust ergriff Wolf. Es ging alles zu langsam, dieses ganze Spiel, das sein Leben seit einem Jahr ausgefüllt hatte, schien ihm plötzlich idiotisch. Da saßen sie herum wie die Kinder und lauerten atemlos darauf, daß eine Kugel in ein Loch fiel. – Natürlich fiel sie in ein Loch! In eines oder das andere, es war doch gleich! Da lief sie und schnurrte, ach, wenn sie doch aufhörte zu laufen, wenn sie erst gefallen wäre, daß es vorbei sei! Das Monokel gegenüber erglänzte tückisch und böse, das grüne Tuch hatte etwas Saugendes – daß er doch sein Geld erst los wäre –! Welche Albernheit, nach diesem Spiel gehungert zu haben –!

Pagel war sein Geld los. Unter der Harke des Croupiers entflohen die dreißig Jetons, »Siebzehn« war ausgerufen worden. Siebzehn, auch eine ganz schöne Zahl! Siebzehn-und-vier war immer noch besser als dieses alberne Spiel. Für Siebzehn-und-vier brauchte man ein wenig Verstand. Hier hatte man nur zu sitzen und sein Urteil zu erwarten. Das Dümmste von der Welt – etwas für Sklaven!

Mit einem Ruck stand Pagel auf, schob sich durch die hinter ihm Stehenden und brannte eine Zigarette an. Oberleutnant von Studmann, der unbeteiligt an einer Wand gestanden hatte, fragte mit einem raschen Blick auf sein Gesicht: »Nun? Schon fertig?«

»Ja«, sagte Pagel mißmutig.

»Und wie ist es gegangen?«

»Mäßig.« Er rauchte gierig, dann fragte er: »Gehen wir?«

»Gern! Ich will von diesem Betrieb nichts sehen und hören! – Ich werde gleich Herrn von Prackwitz loseisen! Er wollte spaßeshalber einen Augenblick zusehen …«

»Spaßeshalber! – Also ich warte hier.«

Studmann schob sich zwischen die Spieler. Pagel nahm seinen Platz an der Wand ein. Er war schlaff und müde. So also sah der Abend aus, den er immer erhofft hatte, der Abend mit dem großen Spielkapital, an dem er würde setzen können, wie er wollte. Die Dinge kamen nie zusammen! Heute, da er hätte spielen können, solange er wollte, heute hatte er keine Lust zum Spielen! Dann fehlt uns der Becher, dann fehlt uns der Wein, klang es in ihm.

Es war also endgültig vorbei mit dem Spielen, er fühlte es, er würde es nie mehr wollen. So konnte er also morgen früh geruhig mit dem Rittmeister aufs Land fahren, als eine Art Sklavenvogt vermutlich – er versäumte nichts hier in Berlin. Keine Chance! Man konnte eines tun, man konnte auch etwas anderes tun: alles war gleich sinnlos. Es war nachdenksam zu beobachten, wie einem das Leben unter der Hand zerfloß, gleichsam sich selbst sinnlos machte und entleerte (wie auch das immer eiliger strömende, fließende Geld sich sinnlos machte und leer wurde): an einem kurzen Tage waren Mutter und Peter, nein, Petra!, verloren, und nun auch noch das Spiel … Reichlich inhaltslos geworden, diese Angelegenheit … Wahrhaftig, ebensogut konnte man von einer Brücke unter den nächsten Stadtbahnzug springen – es war genauso sinnvoll und sinnlos wie alles andere –!

Gähnend brannte er sich eine neue Zigarette an.

Der Valutenvamp schien nur darauf gewartet zu haben. Die Frau trat an ihn heran. »Schenken Sie mir auch eine –?«

Wortlos hielt ihr Pagel das Päckchen hin.

»Englische –? Nein. Die vertrage ich nicht, die sind mir zu schwer! Haben Sie keine andern –?«

Pagel schüttelte den Kopf, schwach lächelnd.

»Daß Sie die rauchen mögen! Da ist doch Opium drin!«

»Opium ist auch nicht schlechter als Koks«, sagte Pagel herausfordernd und betrachtete ihre Nase. Sie konnte heute noch nicht viel geschnupft haben, die Nase war nicht weiß. Freilich mußte man an den Puder denken, natürlich war die Nase gepudert … Er sah sie mit einer ruhigen, sachlichen Neugier an.

»Koks! – Denken Sie etwa, ich kokse?«

Etwas von der alten Feindschaft machte ihre Stimme scharf, obwohl sie sich jetzt alle Mühe gab, ihm zu gefallen. Und sie sah wirklich gut aus. Sie war groß und schlank, die Brust in dem weit ausgeschnittenen Kleid schien klein und fest. Nur, daß diese Frau böse war, durfte man nicht vergessen, böse: geizig, gierig, streitsüchtig, verkokst, kalt. Urböse – Peter war nicht böse gewesen, oder doch, Petra war doch böse gewesen. Aber man hatte es nicht so gemerkt, sie hatte es lange verstecken können, bis er ihr draufgekommen war. Nein, auch Petra war erledigt.

»Also, Sie koksen nicht? Ich dachte!« sagte er gleichgültig zu dem Valutenvamp und sah sich nach Studmann um. Er wäre gerne gegangen. Diese wohlgebaute Kuh langweilte ihn zu Tode.

»Nur mal dann und wann«, gab sie zu. »Wenn ich abgespannt bin. Das ist auch nichts anderes, als wenn man eine Pyramidon nimmt, finden Sie nicht auch? Mit Pyramidon kann man sich auch ruinieren. Ich hatte mal eine Freundin, die nahm zwanzig Pyramidon den Tag. Und die ist …«

»Geschenkt, mein Schatz!« sagte Pagel. »Interessiert mich nicht. Willst du nicht ein bißchen spielen gehen?«

Aber so leicht war sie nicht loszuwerden. Sie war auch nicht die Spur beleidigt; sie war immer nur dann beleidigt, wenn sie gar nicht gemeint war.

»Sie sind schon mit dem Spiel fertig?« fragte sie. »Jawohl«, sagte er. »Keine Valuten mehr zu holen. Völlig pleite!«

»Kleiner Schäker!« lachte sie albern.

Er sah ihr an, sie glaubte ihm nicht. Sie hatte etwas über den Inhalt seiner Taschen gehört, nie würde sie sonst so viel Zeit und Liebenswürdigkeit an einen schäbigen Kerl im Waffenrock verschwenden, da doch für sie nur Kavaliere im Frack in Frage kamen –!

»Tun Sie mir einen Gefallen!« rief sie plötzlich. »Setzen Sie einmal für mich!«

»Wozu soll das denn gut sein?« fragte er ärgerlich. Dieser Studmann blieb endlos, und er wurde die Gans nicht los! »Ich denke, Sie wissen mit dem Spiel auch ohne mich Bescheid!«

»Sicher bringen Sie mir Glück!«

»Möglich. Aber ich spiele nicht mehr.«

»Och, ich bitte Sie – seien Sie einmal nett zu mir!«

»Sie hören doch, ich spiele nicht mehr.«

»Wirklich nicht –?«

»Nein!«

Sie lachte.

Und Pagel ärgerlich: »Was lachen Sie so dumm?! Ich spiele nicht mehr!«

»Sie – und nicht spielen! Ich glaube, eher …«

Sie brach ab, gab ihrer Stimme einen sanften, überredenden Ton: »Komm, Liebling, setze einmal für mich – ich will dann auch sehr nett zu dir sein …«

»Danke bestens für deine Nettigkeit!« sagte Pagel grob. Und ausbrechend: »Gott, kann ich Sie denn überhaupt nicht loswerden?! Gehen Sie weg, sage ich Ihnen, ich spiele nicht mehr, und Sie kann ich schon überhaupt nicht ausstehen! – Ekelhaft sind Sie mir!« schrie er.

Sie sah ihn aufmerksam an. »Jetzt siehst du reizend aus, Kerlchen. Ich hab nie gesehen, wie hübsch du eigentlich bist – immer hast du wie ein Stockfisch beim Spiel gesessen!« – Sie schmeichelte: »Komm, Liebling, setze einmal für mich! Du bringst mir Glück!«

Pagel warf die Zigarette fort und beugte sich ganz nahe zu ihr. »Wenn du noch ein Wort zu mir sprichst, du verdammtes Hurenluder, schlage ich dir ein paar in die Fresse, daß du …«

Er zitterte vor sinnloser Wut am ganzen Leibe. Ihre Augen waren ganz dicht bei den seinen. Sie waren auch braun – jetzt verschwammen sie in einer hingebenden Feuchte.

»Hau los!« flüsterte sie hingegeben. »Aber setze einmal für mich, Süßer …«

Er drehte sich mit einem Ruck um und ging rasch an den Spieltisch. Er faßte von Studmann am Ellbogen. Rasch atmend fragte er: »Gehen wir nun, oder gehen wir nicht?«

»Ich kriege den Rittmeister nicht los!« flüsterte Studmann ebenso erregt zurück. »Sehen Sie bloß!«

Wolf unter Wölfen
titlepage.xhtml
ccover.html
cinnertitle.html
cimprint.html
cnavigation.html
ctoc.html
c5_split_000.html
c5_split_001.html
c7.html
c8.html
c9.html
c10.html
c11.html
c12.html
c13.html
c14_split_000.html
c14_split_001.html
c16.html
c17.html
c18.html
c19.html
c20.html
c21.html
c22.html
c23_split_000.html
c23_split_001.html
c25.html
c26.html
c27.html
c28.html
c29.html
c30.html
c31.html
c32.html
c33_split_000.html
c33_split_001.html
c35.html
c36.html
c37.html
c38.html
c39.html
c40.html
c41.html
c42_split_000.html
c42_split_001.html
c44.html
c45.html
c46.html
c47.html
c48.html
c49.html
c50.html
c51.html
c52.html
c53_split_000.html
c53_split_001.html
c55.html
c56.html
c57.html
c58.html
c59.html
c60.html
c61.html
c62.html
c63.html
c64_split_000.html
c64_split_001.html
c66.html
c67.html
c68.html
c69.html
c70.html
c71.html
c72.html
c73.html
c74_split_000.html
c74_split_001.html
c76.html
c77.html
c78.html
c79.html
c80.html
c81.html
c82.html
c83.html
c84.html
c85.html
c86_split_000.html
c86_split_001.html
c88.html
c89.html
c90.html
c91.html
c92.html
c93.html
c94.html
c95_split_000.html
c95_split_001.html
c97.html
c98.html
c99.html
c100.html
c101.html
c102.html
c103.html
c104.html
c105.html
c106_split_000.html
c106_split_001.html
c108.html
c109.html
c110.html
c111.html
c112.html
c113.html
c114.html
c115.html
c116.html
c117.html
c118.html
c119.html
c120_split_000.html
c120_split_001.html
c122.html
c123.html
c124.html
c125.html
c126.html
c127.html
c128.html
c129.html
c130.html
c131.html
c132.html
c133_split_000.html
c133_split_001.html
c135.html
c136.html
c137.html
c138.html
c139.html
c140.html
c141.html
c142.html
c143.html
c144.html
c145_split_000.html
c145_split_001.html
c147.html
c148.html
c149.html
c150.html
c151.html
c152.html
c153.html
c154.html
c155_split_000.html
c155_split_001.html
c157.html
c158.html
c159.html
c160.html
c161.html
c162.html
c163.html
c164_split_000.html
c164_split_001.html
c166.html
c167.html
c168.html
c169.html
c170.html
c171.html
c172.html
caboutBook.html
caboutAuthor.html