6

Wie lange hatte Wolfgang Pagel am Telefon gestanden? Eine Stunde? Zwei Stunden? Er wußte es nicht. Als er aber aus dem Schloß zum Beamtenhaus hinüberging, sah er schon die ersten Wirkungen seiner Telefonate mit Augen: an der Wand des Beamtenhauses lehnten Räder über Räder, die Landjäger standen in Gruppen vor der Tür, auf den Wegen. Sie rauchten, sie redeten, ein paar lachten. Und immer neue kamen an, mit »hallo« oder einem abwartenden Stillschweigen begrüßt, Witze wurden gerissen.

Drinnen im Büro fand Pagel die Leute ernster. Karten lagen auf dem Tisch, die gnädige Frau, der alte Geheimrat, Herr von Studmann sahen gespannt darauf. Ein Oberlandjägermeister zeigte mit dem Finger. Marofke stand am Fenster, er sah bleich und verfallen aus, sichtlich war es ihm nicht gut ergangen.

»Die polnische Grenze, Polen scheidet ganz aus«, sagte der Oberlandjägermeister. »Keiner von den fünfen kann nach den bisherigen Ermittlungen Polnisch, außerdem ist Polen kein Arbeitsfeld für Verbrecher solchen Schlages. Für mich ist sicher, daß sie nur die Absicht haben, sich möglichst schnell nach Berlin durchzuschlagen. Natürlich in Nachtmärschen auf Nebenwegen. Es sind – bis auf einen – Zuhälter, Betrüger, Hochstapler, solche Kerle lockt nur Berlin …«

»Aber …«, fing Oberwachtmeister Marofke an.

»Ich bitte, mich nicht zu unterbrechen!« sagte der Oberlandjägermeister scharf. »Zweifelsohne werden die Leute sich bis zur Nacht im Wald versteckt halten. Mit einem Teil meiner Mannschaften werde ich versuchen, die Kerle da zu fangen – obwohl ich das für ziemlich aussichtslos halte, die Wälder sind zu groß. Unser Hauptaugenmerk müssen wir nachts auf die Nebenstraßen und die abgelegenen Dörfer richten. Auf ihnen werden sie versuchen, vorwärts zu kommen, in ihnen sich Zivilsachen und Essen besorgen … Vielleicht fassen wir sie schon diese Nacht. In dieser Nacht sind sie hier noch in der Nähe …«

»Erzählen Sie das bloß meiner Frau nicht, Verehrtester!« rief der Geheimrat.

»Wenn irgendein Punkt zwischen hier und Berlin vollkommen sicher vor den Brüdern ist, so ist es Neulohe«, erklärte der Oberlandjägermeister lächelnd. »Das ist ohne Frage. Hier, wo wir unser Hauptquartier haben. – Nein, die kleinen abseitigen Dörfer, für die wird es schlecht, aber wir werden für Bewachung sorgen. Die allein liegenden Höfe – aber wir werden sie warnen. Und wenn wir die fünf auch nicht zu sehen kriegen, ungefähr wissen wir doch immer, wo sie sind. Ich rechne mit sechzig Kilometer Nachtmarsch im Durchschnitt, in der ersten Nacht weniger, dann etwas mehr. Müssen sie sich mit Essenbesorgen aufhalten, wird es wieder weniger. Ich nehme an, sie werden in der ersten Nacht, statt westlich zu marschieren, nach Norden gehen, um diesem unruhigen Bezirk auszuweichen. Allerdings liegt da wieder Meienburg …« Ein Gedanke kam ihm. Er sah Marofke an, er fragte: »Wissen Sie, ob einer von den fünfen in Meienburg Verbindungen hat: Verwandte, eine Braut, Freunde?«

»Nein!« sagte der Oberwachtmeister.

»Was heißt nein?!« tadelte der Oberlandjägermeister scharf. »Wissen Sie es nicht, oder haben die Leute keine Verbindungen?«

»Die Leute haben keine Verbindungen«, sagte der Oberwachtmeister böse.

»Soweit Ihnen das bekannt ist, natürlich«, spottete der Oberlandjägermeister. »Ihnen ist ja nicht sehr viel bekannt, nicht wahr? – Also dann danke! Wir brauchen Sie hier nicht mehr, Herr Oberwachtmeister; lassen Sie mir noch Meldung machen, ehe Sie mit Ihrem Kommando abmarschieren.«

»Zu Befehl!« sagte der Oberwachtmeister, legte die Hand an die Mütze und ging aus dem Büro.

Alle sahen ihm nach, aber keiner sagte ihm ein Wort zum Abschied – auch Herr von Studmann nicht. Wolfgang sah von einem Gesicht zum andern. Der Geheimrat fing an zu brummen: »Ach wie bald, ach wie bald schwindet Schönheit und Gestalt …«

Der Oberlandjägermeister lächelte wohlwollend.

Die gnädige Frau sagte: »Er hat mir von Anfang an einen unangenehmen Eindruck gemacht …«

Herr von Studmann meinte: »Unser Herr Pagel ist anderer Ansicht …«

»Einen Augenblick Entschuldigung«, sagte Pagel und ging rasch aus dem Büro.

Der Oberwachtmeister Marofke war durch die versammelten Landjäger gegangen, mit seinem lächerlichen Spitzbauch, seinen dünnen Beinchen in tadellos gebügelten Hosen, mit seinem gesträubten Katerschnurrbart und seinen rötlichvioletten Hamsterbäckchen. Der Oberwachtmeister sah nicht rechts noch links, er blickte starr vor sich hin – bei jedem Schritt erzitterten seine Bäckchen, so fest setzte er die Füße auf. Aber wenn Herr Marofke auch nichts sah, seine Ohren konnte er nicht verschließen, sie hörten, wie ein Landjäger erstaunt fragte: »Was ist denn das für einer?«

»Na, Mensch! Der hat sie doch türmen lassen!«

»Ach so! Wegen dem können wir jetzt nachts im Walde rumliegen!«

Marofke ging grade, ohne eine Miene zu verziehen, auf die Schnitterkaserne zu. Er setzte sich nieder auf die Bank, auf der er so oft zum Ärger der Neuloher Bevölkerung gesessen hatte, er sah wieder starr vor sich hin.

Drinnen in der Kaserne war der Lärm des Einpackens und Aufbrechens; ärgerlich, gereizt schalten die Wachtmeister; zornig, wütend antworteten die Gefangenen – Marofke stand nicht auf. Er wußte, es konnte nichts fehlen, keine Decke war gegen Tabak vertauscht worden, kein Laken zu Lunte versengt, keine Spaten auf dem Felde vergessen. Es war alles in bester Ordnung, nur fünf Mann waren abgängig. Und wenn sie selbst heute noch wieder eingefangen wurden (woran Marofke nicht glaubte), das Odium würde auf ihm haftenbleiben: ihm waren fünf Mann weggelaufen, seinetwegen war ein Kommando aufgelöst worden. Das wusch ihm keiner wieder ab!

Ja doch, jawohl, da war sein Bericht an die Zuchthausverwaltung. Er hatte Scharfblick bewiesen, er hatte um die Ablösung grade dieser fünf gebeten – aber auch das würde ihn nicht rein waschen! Grade die Schreibhengste auf dem Büro, die seinen Antrag abgelehnt hatten, würden alles tun, um dieser Eingabe Gewicht zu nehmen. Sie war ja völlig unbegründet, auf solche Eingabe konnte man keine Rückschickung verfügen, die Leute hätten sich mit vollem Recht beschwert! Und wenn der Herr Marofke den Leuten wirklich so sehr mißtraute, so hätte er ihnen nicht von der Pelle gehen dürfen, er hätte Tag und Nacht neben ihnen stehen müssen, sie nicht einem unerfahrenen Hilfswachtmeister anvertrauen dürfen – ach, hundert Stricke würden ihm gedreht werden! Die Kollegen mochten ihn nicht, sie würden alle Schuld auf ihn schieben – und dann dazu noch der Bericht von der Gutsverwaltung hier, vom Oberlandjägermeister –!

Er war nun so lange im Beruf, der Oberwachtmeister Marofke, er wußte, pensionieren würden sie ihn wegen dieser Sache nicht können, aber sie würden ihn nicht befördern! Er hatte mit dieser Beförderung zum Herbst gerechnet, Michaeli schied der Hauptwachtmeister Krebs aus, er hatte mit diesem Posten gerechnet, er hätte ihn haben müssen! Es war nicht die liebe Eitelkeit, es war nicht nur der verständliche Ehrgeiz, höher zu kommen, der ihn diese Beförderung hatte ersehnen lassen, es war noch etwas anderes. Er hatte ein Mädchen daheim, eine Tochter, ein etwas altjüngferliches Geschöpf mit Brille, das er sehr liebte. Dieses Mädchen wäre für sein Leben gerne Lehrerin geworden – von einem Hauptwachtmeistergehalt hätte er sie vielleicht aufs Seminar schicken können, jetzt würde sie Kochen lernen müssen und Mamsell werden! Lächerlich und zum Kotzen war dieses Leben, weil ein junger Bursche einen Wachtmeister im Dienst anquatschte, liefen fünf Mann weg – und darum konnte er seiner Tochter ihren Lebenswunsch nicht erfüllen!

Der Oberwachtmeister sieht auf. Neben ihn auf die Bank hat sich der junge Pagel gesetzt. Er streckt ihm mit einem Lächeln das Zigarettenetui hin und sagt dabei: »Idioten!«

Marofke möchte die Zigarette zurückweisen. Aber es tut ihm ja doch gut, daß ihm dieser junge Mensch vom Büro her nachgegangen ist, daß er sich vor aller Leute Augen zu dem in Ungnade Gefallenen auf die Bank setzt und mit ihm rauchen will. Er meint’s ja gut, sagt er sich und nimmt dankend eine Zigarette. Er kann ja nicht wissen, was für Folgen seine Dummheit hat. Alle machen Dummheiten.

»Ich werde dafür sorgen, Ober«, sagt Pagel, »daß ich den Bericht an Ihre Direktion mache. Und der soll aussehen, daß Sie zufrieden sind!«

»Schön von Ihnen«, dankt Marofke. »Aber es lohnt nicht, daß Sie sich darum Ihre Stellung hier verderben, weil’s mir nämlich nicht viel helfen wird. – Aber passen Sie auf, was ich Ihnen jetzt sage. Ich sage es Ihnen allein, die andern wollen ja nicht auf mich hören. – Was der Landjägermeister gesagt hat, haben Sie verstanden?«

»Ich war ja nur einen Augenblick drin, aber was er gesagt hat, das hat mir eingeleuchtet, Ober«, antwortet Pagel.

»Schön. Aber mir hat’s nicht eingeleuchtet. Und warum nicht? Weil es Sachen sind, die man sich so ausdenkt, wenn man die Leute nicht kennt. Es stimmte, wenn nur der Wendt und der Holdrian von der Tour wären. Die sind doof genug, die machen ein halbes Dutzend schwere Einbrüche und womöglich noch Raubüberfälle, bloß wegen dem bißchen Essen und Kleidern unterwegs. Und wenn sie wirklich nach Berlin kommen, dann haben sie schon für sechs, acht Jahre Zuchthaus ausgefressen, bloß um hinzukommen. Aber sie kommen nicht so weit, denn jeder Einbruch ist eine Spur …«

»Und wie machen sie’s denn?«

»Es sind eben der Matzke und der Liebschner und der Kosegarten dabei. Das sind helle Jungen, die überlegen sich ein bißchen, was sie tun. Die sagen sich immer: ›Es muß sich auch lohnen, was wir anfangen.‹ Die machen keinen Einbruch in ein Bauernhaus für mindestens ein Jahr Zet, um nachher ’ne olle Manchesterjacke von einem Knecht zu finden, die sie sich nie auf den Leib ziehen würden.«

»Aber sie müssen sich doch Zivil besorgen!« sagte Pagel. »In der Tracht kommen sie doch nicht weit!«

»Richtig, Pagel«, sagte Marofke und legte den Finger mit der alten, so eitel aussehenden Überlegenheit an die Nase. »Und da sie schlau sind und sich das selber sagen und da sie vorsichtig sind und Zivil nicht stehlen wollen, so folgt daraus?«

Pagel sah den kleinen Mann an und wußte noch immer nicht, was daraus folgte.

»Es wird ihnen einer Zivil besorgen«, erklärte Marofke milde, »sie haben Helfershelfer hier in Neulohe, einen oder mehrere. Glauben Sie mir, so ausgekochte Jungen wie der Kosegarten und der Liebschner, die reißen nicht aus ohne Vorbereitung. Das ist eine verabredete Sache, und weil ich nicht gemerkt habe, wie sie es verabredet haben (denn sie haben es hier verabredet, durch Briefe oder Zeichen; in Meienburg haben sie es doch nicht verabreden können), weil ich doof gewesen bin, deswegen geschieht’s mir schließlich ganz recht, wenn alle über mich schimpfen …«

»Aber, Herr Oberwachtmeister, wie sollen sie denn hier unter unser aller Augen –? Und wer soll sich denn hier in Neulohe dazu hergegeben haben –?!«

Der Oberwachtmeister bewegte unnachahmlich die Schultern. »Ach, Fähnrich, was wissen Sie, wie schlau ein Mensch ist, der seine Freiheit wiederhaben will –?! Sie denken den lieben langen Tag an hundert verschiedene Dinge, so ein Mann denkt von morgens bis abends und die Hälfte der Nacht nur eines: Wie komme ich raus? Und da wollen Sie was von unsern Augen reden?! Wir sehen gar nichts. Wenn er raus zur Arbeit geht und er dreht sich ’ne Zigarette und sein Tabak ist grade alle und er schmeißt das Tabakpapier vor ihren Augen in den Dreck, Sie gehen mit den Leuten weiter. Aber nach drei Minuten kommt der, der gemeint ist, und er hebt das Papier auf und liest, was darauf gekritzelt ist … Und vielleicht ist noch nicht mal was darauf gekritzelt, es ist bloß so und so gefaltet, und das bedeutet dann das und das …«

»Aber, Herr Oberwachtmeister, ich finde, das klingt so unwahrscheinlich …«

»Unwahrscheinlich ist gar nichts, bei denen nicht«, sagte Marofke und war in seinem Fahrwasser. »Bedenken Sie mal so ’n Zuchthaus, Pagel, Eisen und Glas und Zement, Schlösser und Riegel, und nochmals Schlösser und Riegel, und Ketten gibt es auch noch. Und Mauern und Tore und dreifache Kontrolle und Posten draußen und Posten drinnen – und glauben Sie mir, es gibt kein einziges Zuchthaus in der ganzen Welt, das wirklich vollkommen dicht ist! So ein riesengroßer Apparat und so ein einzelner Mensch, mittendrin in Eisen und Stein! Und doch erfahren wir immer wieder: es ist ein Brief rausgegangen, den hat keiner gesehen, und es ist Geld oder eine Stahlfeile reingekommen, keiner weiß den Weg. Und wenn so was in einem Zuchthaus möglich ist, mit all seinem Apparat, da soll es nicht hier draußen auf unsern ungeschützten Arbeitskommandos möglich sein – vor unsern sehenden Augen?!«

»Aber, Ober«, sagte Pagel, »das mag ja sein, daß sie einen Brief schreiben können. Aber dann muß doch einer hier sein, der mit ihnen unter einer Decke steckt, der den Brief auch lesen will!«

»Und warum soll denn keiner hier sein, Pagel?!« rief Marofke. »Was wissen Sie denn?! Und was weiß ich denn?! Hier braucht ja nur einer bei euch zu wohnen, der mit einem von meinen Jungens im Felde zusammen gewesen ist. Die brauchen sich ja nur anzusehen, und meiner sagt mit einem Blick: Hilf mir, Kamerad! – schon sind sie im Komplott! Einer von hier kann doch einmal in Untersuchungshaft gesessen haben, und mein Husar hat in der Zelle daneben seine Untersuchungshaft abgerissen, und sie haben sich damals Nacht für Nacht durchs Zellenfenster das Herz ausgeschüttet – schon ist der Schade geschehen. – Aber das alles braucht nicht zu sein, das wär ein Zufall – und ein Zufall braucht nicht zu sein. Aber die Weiber sind kein Zufall, die Weiber sind immer und überall dabei …«

»Was für Weiber –?« fragte Pagel verblüfft.

»Was für Weiber, Pagel? Alle Weiber! Das heißt, ich meine natürlich nicht alle Weiber. Aber überall sitzt so ’ne Sorte, die ist scharf auf solche Kerls wie manche Männer auf Wildfleisch, wenn es recht stinkerig ist. Und die bilden sich ein, so ’n ausgeruhter Zuchthäusler ist mehr als ein anderer Mann, ist gewissermaßen raffinierter, Sie verstehen mich schon. Und solche Weiber tun alles, um einen Zuchthäusler für sich ins Bett zu kriegen; Gefangenenbefreiung und das, da denken die doch nicht daran, davon haben sie noch nie gehört …«

»Aber, Herr Oberwachtmeister!« wandte Pagel wiederum ein, »solche Weiber gibt’s vielleicht in Berlin, aber doch nicht hier bei uns auf dem Lande!«

»Woher wissen Sie das denn, junger Mann?« sagte Marofke unendlich überlegen, »was es hier für Sachen gibt und was für Weiber?! Nee, Fähnrich, Sie sind ein netter Kerl, Sie sind der einzige, der hier anständig zu mir war, aber Sie sind mir noch zu dünn! Sie denken immer: Es ist alles halb so schlimm, und es wird nischt so heiß gegessen, wie’s gekocht wird. Aber, Manning, Manning, das sollten Sie doch heute früh begriffen haben, daß manches noch viel heißer gegessen wird!«

Pagel machte ein unbehagliches Gesicht. Es heißt davon: ein Gesicht wie von einer Katze, wenn’s donnert. Für Pagel donnerte es jetzt, und recht unbehaglich.

»Ich habe Ihnen heute früh alles von meinen Gedanken erzählt«, sagte der Marofke seufzend. »Ich habe nicht geglaubt, daß Sie mir viel helfen könnten. Aber ich habe gedacht, er wird ein bißchen die Augen aufhalten, der junge Mann. Die Augen haben Sie ja nicht grade aufgehalten, Fahnenjunker, das Eiserne Kreuz hätten Sie im Felde nicht dafür gekriegt … Na, ist ja schon gut, ich weiß auch, wie einem jungen Mann zumute ist. Aber nun tun Sie mir einen Gefallen – machen Sie die nächsten Tage wirklich ein bißchen die Augen auf! Die ganzen Landjäger, so groß sie tun, ich glaube nicht, daß sie meine fünfe fangen … Und dann sind Sie hier, und es wäre doch ganz schön, wenn Sie in ein paar Tagen der Direktion schreiben könnten: Hier sind die fünf, und der Marofke hat uns gesagt, wie wir sie fassen … Was meinen Sie dazu?«

»Gerne, Ober!« sagte Pagel bereitwillig. »Und was soll ich nun also Ihrer Ansicht nach tun –?«

»Mensch!« sagte der Marofke und schnellte hoch von seiner Bank. »Haben Sie denn Watte in den Ohren? Haben Sie denn keine Verstehste? Ich habe Ihnen doch alles gesagt! Die Augen sollen Sie aufmachen, weiter gar nichts! Sonst wird nischt von Ihnen verlangt! Sie sollen nicht Detektiv spielen, Sie sollen nicht in die Ecken kriechen, nicht mal schlau sollen Sie sein – bloß die Augen sollen Sie aufmachen!«

»Na schön, Ober«, sagte Pagel und stand auch auf. »Ich werde sehen, was sich machen läßt …«

»Sie wissen Bescheid!« sagte Marofke eilig. »Ich glaube daran, die Leute haben Helfershelfer im Dorf, einen oder mehrere, wahrscheinlich Mädchen, aber das muß nicht sein. Solange hier rum alles voll Polizei ist, halten sie sich versteckt, im Wald, im Dorf, was weiß ich! Sie sollen die Augen auf haben! Und wenn’s ein bißchen ruhiger geworden ist, in drei, vier Tagen, dann fahren die Brüder ab, richtig mit der Bahn und fein in Zivil …«

»Ich werde aufpassen!« versprach Pagel.

»Tun Sie das aber auch!« bat Marofke. »Aufpassen ist schwerer, als man denkt. Und da ist noch eins, was Sie wissen müssen. Das sind die Sachen, die die Leute auf dem Leibe haben –«

»Ja –?« fragte Pagel.

»Die sind nämlich Staatseigentum! Und jeder Gefangene weiß, daß er wegen Unterschlagung belangt wird, wenn er nur ein Stück von den Sachen wegbringt. Da kann ein Halstuch, das fehlt, ein halbes Jahr Zuchthaus kosten. Darum, wenn so ausgekochte Jungen türmen, sehen sie, daß ihre Sachen möglichst rasch ins Zuchthaus zurückkommen. Meistens schicken sie sie mit der Post, dann gebe ich Ihnen Bescheid. Aber wenn hier nur ein Stück auftaucht, dann müssen Sie aufpassen wie ein Schießhund! Denken Sie nicht, es ist hier von mir was liegengeblieben, von mir bleibt nichts liegen! Und wenn es nur eine graue Gefängnissocke mit rotem Rand ist, dann stinkt was! Wissen Sie überhaupt, wie unsere Hemden aussehen? Und die Halstücher –? Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen …«

Aber er kam nicht mehr dazu, der Herr Oberwachtmeister Marofke, seinen Freund Pagel in die Geheimnisse der Anstaltswäsche einzuführen. Die Dorfstraße hinunter fuhr es »klingling« auf zehn Rädern, und neun Wachtmeister des Strafanstaltsdienstes saßen darauf, alle umgeschnallt. Die Gummiknüppel schaukelten, und die Gesichter waren schweißnaß. Vorne aber fuhr ein dicker, faltiger Mann, in einem dicken, faltigen schwarzen Anzug, sein Bauch lag fast auf der Lenkstange, und er hatte ein weißes, strenges, fettes Gesicht mit buschigen, dunklen Brauen und einem schneeweißen Bart.

Als der Oberwachtmeister diesen drohenden, weißschwarzen Koloß sah, richtete er die Augen starr auf ihn. Er vergaß alles um sich, eingerechnet den jungen Pagel, und murmelte tief bestürzt: »Der Herr Arbeitsinspektor selbst!«

Pagel sah den Dicken schnaufend vom Rade steigen; ein diensteifriger Wachtmeister hielt es dem Inspektor, der sich die Stirn vom Schweiß trocknete, ohne seinen Marofke zu sehen.

»Herr Inspektor!« sagte Marofke flehend und hielt die Hand noch immer am Mützenschild. »Ich melde Arbeitskommando 5, Neulohe, ein Oberwachtmeister, vier Wachtmeister – fünfundvierzig Mann …«

»Wo ist hier das Gutsbüro, Jüngling?« fragte der Elefant fern und fremd. »Wollen Sie mir bitte den Weg zeigen. – Was Sie angeht, Marofke …« Der Inspektor sah nicht Marofke, er sah interessiert die Giebelwand der Kaserne an, auf der das Steinkreuz sich mit einem etwas helleren Rot abhob … »Was Sie angeht, Marofke, so werden Sie wohl noch lernen, daß Sie nichts mehr zu melden haben.« Er sah immer noch die Wand an, dachte nach. Dann, gleichgültig im Ton, fern, fremd, sehr weiß, sehr faltig, sehr fett: »Sie werden jetzt sofort feststellen, Marofke, ob das Schuhwerk der Gefangenen nach Vorschrift geschmiert und ob es ordnungsgemäß geschnürt ist, also Doppelschleifen, keine Knoten!«

Einer der wartenden Wachtmeister lachte höhnisch auf.

Oberwachtmeister Marofke, der kleine, eitle Dickwanst, sagte weiß, aber sich zusammenreißend: »Zu Befehl, Herr Inspektor!« und entschwand um die Kasernenecke.

Vor dem Inspektor zum Büro her gehend, dachte Pagel mit Erbitterung über diesen kleinen Mann nach, der getreten wurde von allen, obwohl er sich die meiste Mühe gegeben, die schwersten Sorgen gemacht hatte. Er dachte daran, daß ihm selbst kein Mensch einen Vorwurf gemacht, daß ihm eben noch auf dem Büro alle zugelächelt hatten, obwohl er Fehler genug begangen hatte. Er schwor sich, die Augen wirklich aufzumachen und Herrn Marofke, biete sich nur irgendeine Gelegenheit, wieder zu rehabilitieren. Aber er verstand, wie schwer es bei aller Tüchtigkeit einem so lächerlich aussehenden Mann sein mußte, etwas zu gelten. Es genügte bei weitem nicht nur Tüchtigkeit, viel wichtiger war es, tüchtig auszusehen.

»Und das hier also ist das Büro«, sagte der Arbeitsinspektor milde. »Ich danke Ihnen, junger Mann. Wer sind Sie?«

»Ein Freund von Herrn Marofke«, antwortete Pagel grob.

Aber der dicke Mann war nicht zu erschrecken. »Ich meinte mehr Ihren Beruf«, sagte er unverändert freundlich.

»Lehrling!« antwortete Pagel wütend.

»Sieh da! Sieh da!« strahlte der Dicke erfreut. »Da passen Sie freilich zu Marofke. Lehrling! Der muß auch noch viel lernen.«

Er legte die Hand auf die Klinke, nickte Pagel noch einmal zu und verschwand.

Wolfgang Pagel aber hatte wiederum eine Lehre, nämlich die, daß man seinen Ärger nicht an Leuten auslassen soll, die solcher Ärger freut.

Wolf unter Wölfen
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