7

Die Thumannsche, Eheliebste des Maurers Wilhelm Thumann, schwammig, wabblig, in fließenden Gewändern, mit einem schwammig-wabbligen Gesicht, in dem doch ein Zug säuerlicher Strenge vorherrscht – die Thumannsche schlurrt mit dem unvermeidlichen Pott über den Gang, zum Klo, abwärts, eine halbe Treppe tiefer, Klo von drei Parteien. Die Thumannsche, völlig bedenkenlos in der Beherbergung übelst beleumundeter Mädchen mit Anhang (zur Zeit bewohnt die rassige Ida vom Alex das Zimmer vis-à-vis von Pagels), ist voller sanitärer Bedenken, was das Klo anlangt:

»Da hamm se ja nu diese Baktzillen entdeckt, Liebecken. Sie hätten es können ja ooch sein lassen, aber wo se’s nu mal jetan haben, und die feinsten Leute haben wir hier ooch nich, und manchmal, wenn ick uff den Klosett komme, ick denke doch, mir jeht die Puste wech, und wer weeß, wat da allens drin rumwirbelt, und eenmal war ooch een schwarzer Käfer da, und er sah mir soo jefährlich an … Nee, wie denn, wat denn, ick wer keene Wanzen kennen, keene Hausbienen! Mir dürfen Se doch so wat nich erzählen, Liebecken, wo ick und de Wanzen, wir sind doch zusammen jroß jeworden. Aber seitdem se die entdeckt haben, sare ick zu meinem Willem: Pott bleibt Pott, und: Gesundheit ist das halbe Leben! Willem, sare ick zu ihm, paß uff, wo de dir hinstellst. Die Biester springen dir an wie de Tiger, und eh de dir umsiehst, bringst de eene janze Mikrokosmetik int Haus! Aber wat soll ick Sie sagen, Liebecken, komisch is der Mensch ja doch injerichtet, seit ick mit dem Pott jehe, loof ick immerzu. Nich, daß ick mir beklage, nur: es ist wunderbar! Ick weeß, unser junger Herr, der de kleene, blasse Dunkle hat, sie is aber nich seine Frau, bloß, sie bildt sich ein, sie wird’s, und manchen schmeckt ja so ’ne Inbildung wie uns Kuchen von Hilbrichen, der nennt mich imma Pottmadamm. Nur, sie verbietet’s ihm, was ich wieder hochreell finde. Aber soll er’s ruhig saren, von meinswejen! Denn warum sagt er es? Weil er seinen Jokus haben will! Und warum will er seinen Jokus haben? Weil er jung is! Denn wenn man jung is, jloobt man jar nischt, nich an de Pfaffen, was ick ooch nich tue, un nich an de Baktzillen. Aber wie kommt es? Wie ick mit ’em Pott, so loofen die nachher uff de Beratungsstelle, aber mit wat, det sare ick nich, weil wir’s nämlich beede wissen, Liebecken, un manche nennen’s ja ooch bloß ’en Schnuppen. Und da sind se, so dumm se sind, plötzlich klug geworden, und wat den Schnuppen anjeht, so möchten se plötzlich niesen können und einen haben, der ihnen Jesundheit sagt. Aber die is perdü, und darum loofe ick lieba mit ’em Pott …«

Also diese Sorte Thumannsche, wabblig-schwabbelig, aber von zuviel Magensäure im Gesicht gezeichnet, schlurrt mit ihrem Pott den Gang entlang.

Die Tür zum Pagelschen Zimmer geht auf, und in ihr steht der junge Wolfgang Pagel, groß, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, dem hellen, fröhlichen Gesicht, in seiner feldgrauen Litewka mit den schmalen, roten Streifen – es ist ein Stoff, der selbst jetzt, nach fünfjährigem Gebrauch, noch gut aussieht, sanftsilbrig glänzend wie manche Lindenblätter …

»Guten Morgen, Frau Thumann«, sagt er ganz vergnügt. »Wie ist es denn mit einem kleinen Palaver wegen Kaffee?«

»Sie! Sie!« sagt die Thumann entrüstet und schiebt mit halb abgewandtem Gesicht vorbei. »Sie sehen doch, ich bin beschäftigt!«

»Aber selbstverständlich, entschuldigen Sie bloß, Frau Thumann. Es war ja nur ’ne eilige Anfrage wegen Kohldampf. Wir warten gerne. Es geht ja erst auf elfe.«

»Verwarten Sie man nich bloß noch de Zwölfe«, sagt die Thumann wie eine warnende Schicksalsgöttin in der Eingangstür, und der Topf schwankt in ihrer Hand. »Um zwölf kommt der neue Dollar, und wie der Olle im Jemüsekeller jesacht hat, wird er kräftig kommen, und Berlin macht sich wieder mal schwach. Denn können Se mir ohne Wimpernklimpern so an ’ne Million Mark mehr auf den Tisch des Hauses lejen. Und Kaffee ohne Jeld is überhaupt nich!«

Damit fällt die Tür hinter ihr zu, das Urteil ist gesprochen, und Wolfgang wendet sich zum Zimmer zurück und sagt nachdenklich-unentschlossen: »Eigentlich hat sie ja recht, Peter. Ehe ich sie wegen des Kaffees rumgeschmust habe, ist es sicher zwölf, und wenn der Dollar wirklich steigt – was meinst du?!«

Er wartet aber ihre Antwort nicht ab, sondern sagt halb verlegen: »Leg dich gemütlich ins Bett, ich trag die Sachen gleich zum Onkel. Und in zwanzig Minuten, spätestens in einer halben Stunde bin ich wieder hier, und wir frühstücken gemütlich Schrippen und Leberwurst – du im Bett und ich auf der Bettkante, was meinst du, Peter?«

»Ach, Wolfi«, sagt sie schwach, und ihre Augen werden sehr groß. »Grade heute …«

Obwohl sie heute morgen noch nicht einen Ton von dieser Sache gesprochen hatten, tat er doch nicht einen Augenblick so, als ob er sie nicht verstünde. Ein wenig schuldbewußt sagte er: »Ja, ich weiß, es ist dumm. Aber es ist wahrhaftig nicht meine Schuld. Oder fast nicht meine Schuld. Alles ging verquer heute nacht. Ich hatte schon ganz schön gewonnen, aber dann hatte ich plötzlich die wahnsinnige Idee, Null müsse gewinnen. Ich verstehe mich selbst nicht mehr …«

Er hielt inne. Er sah den Spieltisch vor sich, weiter nichts als ein abgegriffenes, grünes Tuch, über den Eßzimmertisch eines gutbürgerlichen Zimmers gebreitet. In der Ecke stand klobig, mit Türmen, geschnitzten Rittern und Edeldamen, Knäufen und Löwenmäulern, das Büfett. Denn die Spielklubs, Spielhöllen jener Tage führten – auf der ständigen Flucht vor dem Spielerdezernat der Kripo – ein unstetes Dasein. Von einer Nacht zur andern – roch es sauer am alten Ort – mieteten sie bei irgendeinem verarmten Angestellten das Eßzimmer, den Salon. »Nur für die paar Nachtstunden – da brauchen Sie es ja doch nicht. Und Sie liegen im Bett und schlafen; was wir tun, geht Sie nichts an!«

So kam es, daß bei jenem Oberbuchhalter, bei diesem Abteilungsvorsteher das Vorkriegszimmer, das Schwiegermutter noch ausgesucht hatte, Versammlungsort von Smokings und Jackettanzügen, Blusen und Abendkleidern wurde – ab nachts elf Uhr. In der stillen, geruhig-anständigen Straße trieben Schlepper und Spanner ihr Unwesen, sie holten das Publikum zusammen, auf das es ankam: Provinzonkels, angesäuselte Herren, unentschlossen, wohin nun; Börsenjobber, die von dem täglichen Valutataumel noch nicht genug hatten. Der Portier hatte sein Geld und schlief fest, die Haustür mochte gehen, sooft sie wollte. In der nüchternen Flurgarderobe mit den angegrünten Messinghaken stand ein Tischchen mit dem großen Spielmarkenkasten, den ein bärtiger, traurig aussehender Hüne vom Wachtmeistertyp verwaltete. An der Tür des WC hing ein Pappschild »Hier!«. Es wurde nur geflüstert, jeder hatte ein Interesse, daß niemand im Haus »etwas« merkte. Es gab auch nichts zu trinken. Betrunkene konnte man wegen etwaigen Lärms nicht gebrauchen. Es gab nur das Spiel, Rausch genug.

So still war es, daß man schon vom Vorplatz das Schnurren der Kugel hörte. Hinter dem Croupier standen zwei Männer in Jackettanzügen, jederzeit bereit, einzugreifen und jeden Streit durch die gefürchtete Verweisung auf die Straße, durch Ausschluß vom Spiel zu schlichten. Der Croupier trägt Frack. Aber sie sehen sich alle drei ähnlich, er und seine beiden hinter ihm stehenden Helfershelfer, diese drei Männer, ob mager oder fett, dunkel oder hell. Alle haben kalte, rasche Augen, krumme, böse Nasen wie Habichtschnäbel, dünne Lippen. Sie sprechen kaum miteinander, sie verständigen sich durch Blicke, allenfalls ein Deuten mit der Schulter. Sie sind böse, gierig, kalt – Abenteurer, Raubritter, Beutelschneider, Zuchthäusler – wer weiß das! Man kann sich unmöglich vorstellen, daß sie ein Privatleben haben, eine Frau, Kinder, die ihnen die Hand geben und »guten Morgen« sagen. Man kann sich nicht ausmalen, wie sie sind, wenn sie mit sich allein sind, aus dem Bett aufstehen, sich beim Rasieren im Spiegel anschauen. Sie scheinen dafür bestimmt, hinter dem Spieltisch zu stehen, böse, gierig, kalt. Vor drei Jahren gab es sie noch nicht, und in einem Jahre wird es sie nicht mehr geben. Das Leben hat sie emporgespült, da sie gebraucht wurden; es trägt sie wieder mit sich fort, unfaßlich, wohin, wenn ihre Zeit vorüber ist, aber das Leben hat sie, das Leben hat alles, was gebraucht wird.

Um den Tisch sitzt eine Reihe Spieler, die Reichen, die Leute mit der dicken, schwellenden Brieftasche, die ausgenommen werden sollen, die Neulinge, die grünen Heringe. Daß sie stets einen Sitzplatz finden, dafür sorgen die drei schweigsamen, gesträubten Raubvögel schon. Hinter ihnen stehen in zwei, drei Reihen die andern Spieler, dicht aneinandergedrängt. Sie machen ihre Einsätze über die Schultern der Vordermänner weg, unter den Armen durch, auf ein Fleckchen Spielfeld, das sie grade erspähen können. Oder sie reichen die Spielmarken, hoch über die Köpfe der andern fort, einem der drei Männer, mit einer gemurmelten Weisung.

Aber trotz dieser Unübersichtlichkeit, dieses Gedränges gibt es kaum je Streit, denn die Spieler sind viel zu versunken in das eigene Spiel, in das Rollen der Kugel, um auf die andern groß zu achten. Und zudem gibt es so viele Sorten verschiedenfarbiger Spielmarken, daß selbst bei stärkstem Andrang höchstens zwei, drei Spieler dieselbe Farbe spielen. Eng aneinandergedrängt stehen sie: schöne Frauen, gut aussehende Männer sind dabei. Sie lehnen sich aneinander, Hand berührt Brust, Hand streift seidige Hüfte: sie spüren nichts. Wie eine große Glut den Glanz des kleinen Feuers bleich macht und dunkel, hören die eng Gedrängten nur noch das Schnurren der Kugel, das Klappern der beinernen Jetons. Still steht die Welt, die Brust kann nicht atmen, die Zeit steht, während die Kugel läuft, klappert, läuft, in ein Loch lenkt, sich besinnt, weiterspringt, klappert …

Da! Rot! Ungleich! Einundzwanzig! Und plötzlich atmet die Brust wieder, das Gesicht entspannt sich – ja, dies Mädchen ist schön … »Der Einsatz, meine Damen und Herren! Der Einsatz! Der Einsatz! – Nichts mehr!« Und die Kugel läuft, schnurrt, klappert … still steht die Welt …

Wolfgang Pagel hat sich in die zweite Reihe der stehenden Spieler gedrängt. Weiter nach vorn kommt er nie, darauf achten die drei Raubvögel schon, die unzufriedene Blicke miteinander tauschen, sehen sie ihn nur eintreten. Er ist der allerunerwünschteste Spieler, er ist der Pari-Panther, der Mann, der vorsichtig spielend sich nicht hinreißen läßt; der Mann mit dem kleinsten Betriebskapital in der Tasche, das nicht einmal das Ansehen lohnt, geschweige denn das Wegnehmen; der Mann, der Abend für Abend mit dem festen Vorsatz kommt, der Bank grade so viel abzunehmen, daß er den nächsten Tag das Leben hat – und dem das meistens gelingt.

Es ist ganz unnütz für Pagel, den Klub zu wechseln (denn es gibt in diesen Tagen Spielklubs wie Sand am Meer, wie es überall Heroin und Koks gibt, Schnee; wie es überall Nackttänze, französischen Sekt und amerikanische Zigaretten gibt; wie es überall Grippe, Hunger, Verzweiflung, Unzucht, Verbrechen gibt). Nein, die Raubvögel am Kopfende des Tisches erkennen ihn immer gleich. Sie erkennen ihn an der Art des Eintretens, dem prüfenden Blick, der fremd alle Gesichter streift, um an dem Spielfeld haftenzubleiben. Sie erkennen ihn an seiner übertriebenen Ruhe, seiner gespielten Gleichgültigkeit, der Art seines Setzens, an den langen Pausen, die er macht, die Sprünge der Chancen auszulassen, um eine Serie zu fassen: sie erkennen den gleichen Vogel im anderen Gefieder!

An diesem Abend war Wolfgang nervös. Zweimal hatten ihm die Schlepper die Haustür vor der Nase zugeschlossen, um den unerwünschten Spieler zu verscheuchen, bis es ihm gelang, sich mit einer Gesellschaft einzuschmuggeln. Der Mann mit dem traurigen Wachtmeistergesicht hatte getan, als höre er seine Bitte um Spielmarken nicht; Wolfgang hatte sich sehr zusammennehmen müssen, um nicht laut zu werden. Schließlich hatte er seine Jetons doch bekommen.

Im Spielraum hatte er sofort gesehen, daß eine gewisse Halbweltdame, von Kennern der Valutenvamp genannt, anwesend war. Er hatte schon einige Male an verschiedenen Orten mit diesem anspruchsvollen, lauten Mädchen Zusammenstöße gehabt, weil sie, in einer Pechsträhne und dem Ende ihrer Mittel nahe, unbedenklich über die Einsätze ihrer Mitspieler zu verfügen pflegte.

Am liebsten wäre er umgekehrt. Eine Spielmarke war ihm auf die Erde gefallen, was von unheilvoller Bedeutung war, denn es besagte, daß dieser Raum sein Geld zu behalten wünschte. (Es gab viele Vorzeichen solcher Art – bis auf eines oder zwei alle von schlimmer Vorbedeutung.)

Dann war er doch an den Tisch getreten, um zu spielen. Er konnte es immerhin – im Rahmen seiner Gewohnheiten – versuchen, da er nun einmal hier war. Wie alle Spieler war auch Wolfgang Pagel der unerschütterlichen Überzeugung, daß das, was er tat, gar kein richtiges Spiel war, daß es »nicht galt«. Er glaubte fest daran, daß irgendwann einmal, blitzartig, in einer Sekunde, ihn das Gefühl überkommen würde: Jetzt ist deine Stunde! In dieser Stunde würde er wirklich Spieler sein, der Liebling des blinden Glücks. Die Kugel im Rade würde schnurren, wie er setzte, das Geld würde herbeiströmen –: Alles, alles werde ich gewinnen! – Wenn er an diese Stunde dachte, manchmal, nicht sehr häufig, wie man den Genuß eines großen Glückes nicht wertlos machen will dadurch, daß man es zu oft vorkostet – wenn Wolfgang daran dachte, fühlte er, wie sein Mund trocken, die Haut über seinen Schläfen pergamenten wurde.

Er meinte sich zu sehen, leicht vorgeneigt, mit glänzenden Augen – und zwischen die ein wenig auseinandergespreizten Hände glitt ihm das Papier, wie von einem Winde hineingeweht, all dies verschiedenartige Papier mit den ungeheuren Zahlen, Nullen über Nullen, ein betäubender, nie völlig zu verstehender Reichtum – astronomisch!

Bis diese Stunde kam, war er ein kleiner Freitischgänger des Glücks, ein Hungerleider, der mit den mageren Gewinnchancen des Parispiels vorliebnehmen mußte. Gerne vorliebnahm, denn ihm winkte die Aussicht auf Großes!

An diesem Abend war er für seine Verhältnisse nicht schlecht bei Kasse. Spielte er ein wenig vorsichtig, mußte sich ein ausreichender Gewinn nach Haus tragen lassen. Wolfgang Pagel hatte sein bestimmtes, auf Grund sorgfältiger Beobachtungen erdachtes System beim Spiel. Von den sechsunddreißig Zahlen des Rouletts waren achtzehn rot, achtzehn schwarz. Zog man die siebenunddreißigste Chance, das Null, bei dem alle Einsätze der Bank verfielen, nicht in Betracht, so stand die Chance für Rot und für Schwarz gleich. In einem unendlich weitergespielten Roulett mußte nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung gleich oft Rot wie Schwarz kommen. Das tat es auch sicher. Aber wie sich im Laufe des Spieles Rot und Schwarz ablösten, darüber schien eine viel geheimnisvollere Regel zu walten, die man halb beobachten, halb im Gefühl haben mußte.

Stand Wolfgang – wie stets, ehe er zum ersten Male setzte – beobachtend am Spieltisch, so sah er etwa, daß Rot kam, und noch einmal Rot, und wieder Rot. Ein viertes, fünftes, sechstes Mal Rot, es konnte bis zum zehnten Male gehen, bis zum fünfzehnten Male, ja, in ganz seltenen Fällen noch höher: Rot, immer Rot. Es war gegen jeden Sinn und Verstand, es widersprach aller Wahrscheinlichkeitsrechnung, es war die Verzweiflung aller »Spieler mit System«.

Dann kam auf einmal Schwarz, nach sechs-, achtmal Rot kam Schwarz! Kam zwei-, dreimal; nun kam wieder Rot, und nun ging es mit einem ermüdenden, immerwährenden Wechsel hin und her: Rot und Schwarz, Schwarz und Rot.

Wolfgang aber wartete noch immer. Nichts war zu sagen, kein Einsatz mit einiger Aussicht auf Gewinn zu wagen.

Aber plötzlich fühlte er, wie sich irgend etwas in ihm spannte. Er schaut auf das Fleckchen Spieltisch, das seinem Blicke frei ist. Ihm ist, als sei er eine Weile mit seinen Gedanken fortgewesen, ohne doch zu wissen, wo, als habe er das Spiel nicht verfolgt. Trotzdem weiß er, daß jetzt dreimal hintereinander Schwarz kam, er weiß, daß er nun setzen muß, daß jetzt eine Serie Schwarz begonnen hat – er setzt.

Er setzt drei-, viermal. Öfter getraut er sich nicht. Ach, zwölf-, fünfzehnmal Rot sind eine Ausnahme, da liegen die großen Gewinnchancen: Stehenlassen den Einsatz und Gewinn – verdoppelt! Stehenlassen – verdoppelt … immer weiter, in märchenhafte Zahlen hinein. Aber sein Kapital ist zu klein, er kann keinen Fehlschlag riskieren, er muß mit der hausbackenen Sicherheit vorliebnehmen. Aber einmal – einmal bestimmt wird die Nacht kommen, und er wird setzen, weiter setzen, immer weiter … Er wird wissen, daß siebzehnmal Rot kommt, er wird es siebzehnmal setzen und keinmal mehr.

Und dann wird er nie wieder spielen. Dann werden sie mit dem Gelde etwas Geruhiges anfangen, ein Antiquitätengeschäft zum Beispiel. Er hat Sinn für so etwas, er geht gerne mit diesen Dingen um. Das Leben wird dann sanft und ruhig strömen, keine äußerste Anspannung mehr, nichts von tiefster Verzweiflung, keine Raubvogelgesichter mehr, die ihn gesträubt mustern, keine ganz unzweifelhaften Halbweltdamen mehr, die ihm seinen Einsatz stehlen …

Er hat seinen Platz am andern Ende des Spieltischs gesucht, um nicht in der Nähe des Valutenvamps zu sein, aber es hilft ihm nichts. Er setzt grade, da hört er schon ihre Stimme: »Machen Sie doch Platz! Stehen Sie doch nicht so breit da! Andere möchten auch spielen.«

Er macht eine Verbeugung, sieht sie nicht an und räumt ihr das Feld. Er findet einen andern Platz und fängt wieder an zu setzen. Er denkt daran, daß er heute besonders vorsichtig spielen, etwas mehr als sonst nach Haus bringen muß: morgen um halb eins wollen sie heiraten.

Nun gut. Nun gut. Sie ist ein ausgezeichnetes Mädel, es wird nie eine geben, die ihn selbstloser liebt, so wie er ist, ohne ihn mit einem lästigen Ideal zu vergleichen. Sie werden also morgen heiraten, warum eigentlich, ist im Augenblick nicht feststellbar. Es kommt nicht darauf an, es wird schon richtig sein. Aber er wünschte, er würde ein bißchen aufmerksamer spielen, eben hätte er keinesfalls Schwarz setzen dürfen. Dahin! Dahin! Also jetzt …

Plötzlich hört er wieder die böse, gereizte Stimme hinter sich. Sie streitet jetzt mit einem andern Herrn, spricht sehr hoch und empört. Natürlich: ihre Nase ist ganz weiß, die schnupft Schnee, das Luder, kokst. Keinen Zweck, mit ihr anzubinden, die weiß schon nüchtern nicht, was sie will oder tut. Und jetzt erst recht –!

Er sucht sich wiederum einen andern Platz und fängt von neuem zu spielen an.

Diesmal geht alles gut. Er setzt vorsichtig und holt wieder auf, was er bisher zugesetzt, ja, er kann schon sein ganzes Betriebskapital zurückziehen und mit dem Gewinn operieren. Neben ihm steht ein Jüngling mit flackernden Augen und fahrigen Bewegungen, der todsicher sein Jungfernspiel macht. Solche bringen Glück. Es gelingt ihm, dem Jüngling, ohne daß er es merkt, über den Rücken zu streichen, mit der linken Hand, der linken Hand – so etwas steigert die Gewinnaussichten! Daraufhin läßt er den Einsatz einmal länger stehen, als er sonst gewagt hätte. Er gewinnt wieder. Der Raubvogel schießt ihm einen kurzen, bösen Blick zu. Gut.

Er hat jetzt genug für morgen, für ein paar Tage länger noch (wenn der Dollar nicht gar zu sehr steigt), er könnte nach Haus gehen. Aber es ist noch ganz früh; er weiß, er würde nur Stunden wach im Bett liegen und über das Spiel nachdenken, er weiß, er würde von Reue gepackt sein, daß er diese Glückssträhne nicht ausgenützt hat …

Er steht ruhig da, seine gewonnenen Jetons in der Hand, hört auf die Kugel, die Rufe des Croupiers, das leise, kratzige Scharren der Harken auf dem grünen Tisch. Es ist ihm wie halb im Traum. Er weiß, er ist hier, in diesem Spielsaal, aber vielleicht ist er ganz woanders. Das Klappern der Kugel erinnert an ein klapperndes Mühlrad. Ja, es ist einschläfernd; das Leben, wenn man es spürt, erinnert immer an Wasser, fließendes Wasser; panta rhei, alles fließt, hieß es auf der Penne, noch vor der Kadettenanstalt. Auch weggeflossen.

Er fühlt, daß er sehr müde ist, außerdem ist seine Mundhöhle ledrig vor Trockenheit. Eine Schweinerei, daß es hier nichts zu trinken gibt. Er müßte an den Wasserhahn auf der Toilette gehen. Aber dann weiß er nicht, wie das Spiel weitergeht. Rot – Schwarz – Schwarz – Rot – Rot – Rot – Schwarz … Natürlich, etwas anderes gibt es nicht: rotes Leben und schwarzer Tod. Etwas anderes wird nicht gereicht und erfunden, sie mögen erfinden, soviel sie wollen, Leben und Tod, darüber hinaus gibt es nichts …

Null!

Natürlich – Null hatte er vergessen, das gab es natürlich auch noch. Die Parispieler vergaßen immer Null, und plötzlich war ihr Geld fort. Aber wenn es Null gab, so war Null der Tod, und das war auch ganz richtig. Dann war Rot die Liebe, eine etwas übertriebene Sache, aber nun gut: angenehm, wenn man es hatte. Aber Schwarz – was war Schwarz dann? Nun, für Schwarz blieb noch das Leben, auch wieder übertrieben, aber nach der andern Seite hin. Nicht völlig schwarz, grau hätte auch gereicht. Oft ein lichtes, fast silbriges Grau. Gewiß, Peter ist ein gutes Mädchen.

Ich habe ja Fieber, dachte er plötzlich. Aber ich habe, glaube ich, jeden Abend Fieber. Ich müßte wirklich Wasser trinken. Jetzt gehe ich sofort.

Statt dessen schüttelte er die Spielmarken in der Hand, tat eilig die aus der Tasche dazu und setzte alles, grade als der Croupier rief: »Nichts mehr!«, auf Null. Auf Null.

Das Herz blieb ihm stehen. Was tue ich da? fragte er sich verwirrt. Das Gefühl der Trockenheit in seinem Munde verstärkte sich zum Unerträglichen. Die Augen brannten, über den Schläfen spannte pergamenten die Haut. Unfaßbar lange schnurrte die Kugel, ihm war, als sähen ihn alle an.

Alle sehen mich an. Ich habe auf Null gesetzt. Alles, was wir haben, habe ich auf Null gesetzt – und Null bedeutet Tod. Morgen ist die Trauung …

Die Kugel schnurrte noch immer; unmöglich war es, den Atem noch länger wartend anzuhalten. Er atmete tief auf – die Spannung ließ nach …

»Sechsundzwanzig!« rief der Croupier. »Schwarz, ungleich, passe …« Pagel stieß durch die Nase die Luft, beinahe erleichtert. Es war richtig gewesen: der Spielsaal hatte sein Geld behalten. Der Valutenvamp hatte ihn nicht umsonst verwirrt. Grade sagte das Mädel halblaut: »Diese kleinen Nebbichs! Spielen wollen sie – in der Sandkiste sollten sie spielen!« Der raubvogelhafte Croupier schoß einen scharfen, triumphierenden Blick auf ihn ab.

Einen Augenblick stand Wolfgang noch wartend. Das Gefühl der Befreiung aus quälender Spannung verging. Hätte ich noch eine Spielmarke, dachte er. Nun, es ist egal. Einmal wird der Tag kommen.

Die Kugel schnurrte schon wieder. Langsam ging er hinaus, an dem traurigen Wachtmeister vorüber, die dunkle Treppe hinab. Lange stand er in dem Hauseingang, bis ihn ein Schlepper hinausließ.

Wolf unter Wölfen
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