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Die Frau, die dicke, verfettete Frau, deren ganzer Lebensinhalt nur noch Essen war, saß schon am Tisch und löffelte aus einer Terrine, als der Leutevogt Kowalewski müde und naßgeregnet heimkam. Kowalewski warf einen Blick in die Suppenschüssel, er runzelte die Stirn, aber bezwang sich. Er schnitt sich einen Kanten Brot ab, strich Schmalz darauf und fing auch an zu essen, aber nicht von der Suppe.

Die kauende Frau warf aus kleinen Augen einen bösen Blick auf ihn, auch sie wollte etwas sagen, aber ihre Gier war zu groß, bei ihr war es die Gefräßigkeit, die sie nicht zum Sprechen kommen ließ.

So saßen die beiden alten Leute schweigend am Tisch, beide essend, er das Brot, sie die Hühnersuppe.

Erst als der schlimmste Hunger der Frau gestillt war, tat sie den Mund auf. Sie schalt: »Schön dumm bist du! Die gute Hühnersuppe! Davon wird es auch nicht anders, daß du keinen Bissen anrührst!« Sie kellte in der Suppe herum, sie fand wirklich noch eine Keule. Über dem Anblick der Keule vergaß sie fast ihren Zorn auf den Mann, sie rühmte: »So ein fettes Huhn, wie das war! Ja, Haases füttern gut. Über fünf Pfund hat es gewogen, und was es für Fett hatte. Schönes, schieres, gelbes Fett, das gibt aus für die Suppe!« Sie schmatzte.

»Ist die Sophie oben?« fragte der alte Mann mutlos.

Kauend: »Wo soll sie denn sonst sein? Die schlafen doch noch!« Sie aß langsam weiter, obwohl sie eigentlich nicht mehr essen konnte. Zum Übermaß gesättigt, schwelgte sie schon in der Hoffnung auf neue Mahlzeiten: »Heute nacht sollen wir eine Rehkeule kriegen, Rehkeule mag ich gerne, wenn sie richtig durch ist! Und wenn es erst gefroren hat, will er uns auch ein Fettschwein bringen …!«

»Ich brauche kein Schwein, ich will das Schwein nicht!« rief der alte Kowalewski verzweifelt, gepeinigt aus. »Wir sind immer ehrlich gewesen – und nun? Diebe und Diebsgenossen! Keinen kann man mehr grade ansehen –!«

»Reg dich bloß nicht auf!« sagte die Frau gleichgültig. »Du weißt, er läßt sich nichts gefallen von dir. Diebe –! Diebstahl ist es doch erst, wenn man gefaßt wird, aber dafür ist er viel zu schlau! Er ist zehnmal schlauer als du! Hundertmal!«

»Er muß endlich aus dem Haus …«, murmelte Kowalewski.

»Ja, das sieht dir ähnlich!« schrie die Fresserin wütend. »Endlich mal einer, der für uns sorgt – und da soll er aus dem Hause! Aber ich sage dir, wenn du Stunk mit ihm anfängst, ich sage dir …« Sie schwenkte den Löffel, sie wußte nicht, mit was sie ihm drohen sollte. Ihre kleinen, im Fett ertrinkenden Augen irrten von dem Mann ab, suchten in der Stube umher … »Ich esse dir alles weg, verhungern sollst du!« schrie sie die schlimmste Drohung aus, die sie sich ausdenken konnte.

Ihr Mann sah sie einen Augenblick trübe an. Wie die Mutter, so die Tochter, dachte er. Eigensüchtig, gierig, gierig –! Er drehte sich um und ging aus der Stube zur Treppe.

»Wenn du raufgehst zu ihm! Wenn du Stunk mit ihm anfängst!« schrie sie ihm nach.

Kowalewski stieg schon die Treppe hinauf. Einen Augenblick stand er rasch atmend vor der Tür zum Zimmer der Tochter, fast verlor er wieder den Mut. Dann klopfte er.

»Wer ist denn da?« fragte nach einer Weile die Stimme Sophies ärgerlich.

»Ich – Vater«, antwortete er halblaut.

Es gab ein Tuscheln drinnen, aber dann wurde doch der Schlüssel im Schloß umgedreht. Sophie stand in der Tür. Sie sah böse in ihres Vaters Gesicht, sie schalt: »Was willst du denn?! Du weißt doch, daß Hans seinen Schlaf braucht. Erst macht ihr solchen Krach unten, daß man kein Auge zutun kann, und jetzt kommst du auch noch rauf. Was ist denn los?«

»Treten Sie näher, Schwiegervater!« rief die freundliche, falsche Stimme drinnen. »Freut mich ungeheuer. Sophie, schwatz nicht, rede nicht, das ist hoher Besuch. Der Herr Schwiegervater! Platzen Sie bitte, alter Herr! Gib ihm doch ’nen Stuhl, Sophie, daß er platzen kann! Entschuldigen Sie bloß, Schwiegervater, daß wir noch im Bette liegen. Hätte ich von dem hohen Besuch gewußt, ich hätte meinen Frack angezogen …«

Er sah den verängstigten alten Mann grinsend an. »Das heißt, genaugenommen ist es nicht mein Frack. Aber er paßt mir ausgezeichnet, der Frack vom Herrn Rittmeister. Herr von Prackwitz war so freundlich, mir auszuhelfen. Ich war etwas knapp mit Garderobe!«

Der Leutevogt Kowalewski war so viel und so gründlich verspottet und gescholten worden in seinem Leben, er ließ sich nichts anmerken, wenn es ihm vielleicht auch immer wieder weh tat. Er stand hinter dem Stuhl, er sah nicht nach dem Bett mit Hans Liebschner, er sah auf die Erde, als er leise sagte: »Du, Sophie …«

»Na, was denn, Vater? Erzähl schon! Sicher wieder so ’ne Meckerei, weil was weggekommen ist! Schreit der Schulze Haase wegen der paar Hühner so laut, daß du nicht mehr schlafen kannst?! Der kann noch was ganz anderes erleben –!«

»Treibriemen!« grinste Liebschner. »Schöne Treibriemen, ausgezeichnet als Sohlenleder. Lebhafte Nachfrage – guter Preis! – Ist Ihnen was, Schwiegervater? Ich beteilige Sie gerne, zehn Prozent vom Erlös – ich habe was über für meine Verwandtschaft, was, Sophiechen?«

Wieder ließ der alte Mann Schelten und Spott wortlos über sich ergehen. Nun, da sie stille geworden waren, fing er noch einmal an: »Sophie, der Herr Pagel hat wieder gefragt, warum du nicht arbeitest …«

»Der Kerl soll …«

»Laß ihn doch fragen! Wer viel fragt, kriegt viel Antwort! Ich werd ihm schon antworten, wenn er zu mir kommt!«

»Er sagt aber, wenn du morgen nicht beim Buddeln bist, setzt er am Abend die schwarze Minna hierher ins Dachgeschoß!«

»Der Kerl soll …«

»Ja, Hans, das solltest du! Gib ihm was auf die freche Schnauze, daß er sie sechs Wochen nicht aufmachen kann! Was der Affe sich einbildet –!«

»Richtig, Sophie! Das heißt, ich nicht. Ich danke. Ich bin nicht für so was, das schlägt nicht in meine Branche. Aber das ist was für den Bäumer! Der erledigt den Jungen mit Vergnügen, der Junge braucht keine Decke mehr, der Junge weiß bis an sein Lebensende nicht …«

Schweigend hatte der alte Mann zugehört. Jetzt hob er den Kopf, er sagte leise: »Wenn dem Herrn Pagel was passiert, zeige ich euch an …«

»Was geht denn dich der Pagel an, Vater?!« fing Sophie an. »Du bist ja verrückt geworden …«

Aber Kowalewski sagte: »Ich habe das Maul gehalten, weil du meine einzige Tochter bist und weil ihr immer wieder versprochen habt, ihr fahrt nun bald ab. Es hat mir fast das Herz abgedrückt, dich hier mit so einem …«

»Quatschen Sie sich ruhig aus, alter Herr!« rief der im Bett. »Genieren Sie sich bloß nicht unter Verwandten! Zuchthäusler, wie –?«

»Jawohl, Zuchthäusler!« wiederholte der alte Mann trotzig. »Aber ich glaub doch nicht, daß alle im Zuchthaus so gemein sind wie Sie! Und dann das Stehlen! Immer nur stehlen … Tut denn das ein Mensch, bloß aus Lust am Schadenstiften?! Ihr habt ja gar nichts davon, das Geld, das ihr in Frankfurt und Ostade für das Gestohlene kriegt, ist ja nichts wert …«

»Gedulden Sie sich nur, alter Herr, es kommen auch wieder andere Zeiten. Sobald ich Reisegeld und Betriebskapital zusammen habe, schmettern wir ab. Meinen Sie, mir gefällt Ihre Kate hier so? Oder ich kann mich nicht von Ihrer Jammervisage trennen?«

Er pfiff durch die Zähne: »Du bist verrückt, mein Kind!«

»Ja«, rief der alte Mann eifrig. »Fahren Sie ab! Fahren Sie nach Berlin!«

»Schwiegervater! Sie haben mir doch eben erst erzählt, daß wir kein Geld haben! Oder wollen Sie mir die Aussteuer für Ihr Fräulein Tochter in bar geben?! Nee, mein Lieber, ohne Geld nach Berlin – und gleich wieder verschüttgehen?! Danke! Jetzt haben wir so lange gewartet, nun muß es auch noch die paar Tage oder Wochen gehen, bis wir …«

»Aber was soll werden, wenn er uns wirklich die Minna reinsetzt?!« rief Sophie zornig. »Das hast du uns sicher eingebrockt, du willst uns bloß weghaben, Vater!«

Herr Liebschner pfiff, er wechselte einen Blick mit Sophie. Sophie verstummte.

Kowalewski hatte den Blick gesehen. »So wahr ich hier stehe!« rief er zitternd, »so wahr ich hoffe, daß mir Gott meine Schwachheit vergeben wird – wenn dem Herrn Pagel was passiert, ich bringe selbst die Gendarmen hierher!«

Einen Augenblick schwiegen sie alle drei. In dem Ausruf des alten Mannes hatte eine solche Kraft gelegen, daß auch die beiden andern überzeugt waren, er werde es tun.

»Und du tust immer so, als wenn du was für ’n Vater wärst!« sagte Sophie schließlich verächtlich.

»Da kannst du nischt bei machen, Sophiechen!« sagte Liebschner ergeben. »Der Alte hat eben einen Narren an dem Bengel gefressen. So was gibt es. – Hör zu, Sophie, hören Sie auch zu, alter Herr! Erst einmal wirst du jetzt gleich dem jungen Mann auf die Bude rücken. Jetzt um die Mittagsstunde wird er ja allein sein. Sei ein bißchen nett zu ihm, Sophiechen, du weißt ja, ich bin nicht eifersüchtig. Da wird er schon nachgeben … Das bringste doch fertig, was, Sophie?«

»So ein Stiesel!« sagte sie verächtlich. »Wenn ich will, rutscht der auf Knien. Aber die Backs wird bei ihm sein, er hat doch die Backs!«

»Die Dicke von den Hühnern –? Wenn du den Trampel nicht ausstechen kannst, bist du auch bei mir abgemeldet, Sophie!«

»Fahren Sie ab! Fahren Sie doch lieber bitte ab, ehe alles rauskommt!« bat Kowalewski.

»Bei Ihnen muß der Pastor wohl auch dreimal am Sonntag predigen, ehe Sie was kapiert haben, he? Geld, sage ich, eher werden Sie uns nicht los! – Also, Schwiegervater, seien Sie beruhigt, wir schaukeln das Kind, wir behalten die Wohnung, sie gefällt uns noch. – Und Ihrem guten Jungen wird nichts getan – einverstanden?«

»Sie sollten abreisen!« wiederholte der alte Mann hartnäckig.

»Zeig ihm die Tür, Sophie! Laß erst mal ihn abreisen! Wäre ich nicht zu faul, ich ließe Sie die Treppe runterreisen. Guten Morgen, Schwiegervater, hat mich sehr gefreut. Empfehlen Sie mich Ihrem Freunde, Herrn Pagel!«

»Ach, Sophie!« flüsterte der alte Mann auf der Treppe trostlos. »Und du warst früher so ein braves Kind …«

Wolf unter Wölfen
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