Yoga harmonisiert Körper, Geist und Seele
Die Ursprünge des Yoga verlieren sich im Dunkel der Menschheitsgeschichte – das hörte ich oft in Indien. Unseren westlichen, kritischen Geist befriedigt eine solche Antwort kaum. Unabhängig von dem, was die Forschung über die Entstehung bereithält, habe ich mir meine eigenen Gedanken gemacht und mich dabei an meinen Erkundungen in Mohenjo Daro, Harappa und Taxila im heutigen Pakistan orientiert.
Yoga wird – so besagen Forschungen – zu den indischen Weisheitssystemen oder Philosophien gezählt. Bei jeder neuen Forschungserkenntnis verliert es an Alter. Während ich bei meinen Ausbildungen noch hörte, dass diese Systeme Tausende von Jahren alt seien, heißt es heute, Yoga sei zwischen 700 und 300 vor unserer Zeitrechnung entstanden. Patanjalis Yoga-Sutren, die philosophischen Leitfäden des Yoga, sollen einigen Forschungen zufolge in den ersten Jahrhunderten nach Christus geschrieben worden sein.
Ähnlich wie Ayurveda kann Yoga als Heilkunst oder Wissenschaft vom gesunden Leben gesehen werden.
Nachdem ich in den 1970er Jahren Ausgrabungen im Industal besuchte, stelle ich mir dies vor: Weise Frauen und Männer beobachteten die Natur, den Lauf der Gestirne, den Zyklus der Jahreszeiten. Sie studierten die Bewegungen der Tiere, das Leben der Menschen. Sie untersuchten Kranksein wie Gesundsein, experimentierten, probierten aus und gelangten schließlich zu einem System von Übungen für ein gesundes Leben. Viele Ratschläge wurden gesammelt und in acht Stufen zusammengefasst: Verbote und Gebote (Niyama und Yama auf Sanskrit), Haltungen, Stellungen und Bewegungen (Asanas), Atemtechniken (Pranayama), Übungen für unsere Sinne (Pratyahara), Konzentrationsmethoden (Dharana), Meditationen (Dhyana). Verhält man sich solcherart gesund und bewusst – so die Alten –, gelangt man zu einem Zustand des Einsseins von Körper, Geist und Seele, verspürt ein Gefühl der Einheit mit der Natur oder dem Kosmos oder auch dem Göttlichen. Dieser Zustand wird Samadhi genannt.
Das Wort Yoga stammt aus dem altindischen Sanskrit und bedeutet: »vereinigen, verbinden, einen, zusammenfügen«. Da die indoeuropäischen Sprachen aus der Sanskrit-Wurzel stammen, finden wir Ähnlichkeiten im Französischen »joindre« und im Englischen »to join«. Die Entsprechung im Deutschen lautet: »Joch«. Mit diesem verbinden wir meist etwas weniger Angenehmes. Ochsen werden mit einem Joch vor den Wagen gespannt. Gleichwohl stellt das Joch eine Verbindung vom Bewegenden, dem Ochsen, zum Bewegten, dem Wagen, her. Im Yoga geht es um ein Zusammenfügen dessen, was wir gemeinhin sprachlich trennen: Wir erleben Körper, Geist und Seele als eins. Aus dieser Verschmelzung ergeben sich die heilsamen Wirkungen des Yoga.
Die anfangs erwähnten acht Stufen des Yoga gehen auf den Weisen Patanjali zurück, der – wenn überhaupt – zwischen 200 und 600 nach Christus gelebt haben soll. Wahrscheinlich gehen die Yoga-Sutras auf mehrere Autoren zurück – und eventuell waren auch Autorinnen darunter. Yama und Niyama, die Gebote und Verbote im Yoga, beziehen sich auf ein gesundes und sozialverantwortliches Leben. In den Asanas werden bestimmte Körperhaltungen und -stellungen für eine gesunderhaltende Handlungsfähigkeit im Alltag geübt. Manche Yoga-ForscherInnen meinen, Asanas seien eine Erfindung der Kriegerkaste (Ksatriya). Die Konfrontation mit Tod und Kampf ließ sie einerseits Haltungen entwickeln, die ihnen Kraft und Stärke gaben, andererseits gelangten sie dadurch vielleicht eher auf den Weg nach innen als andere, die nicht gleichermaßen in Gefahr schwebten. Im Pranayama geht es um die Art und Weise des Atmens. Im Yoga heißt es, dass wir bei unserer Geburt eine bestimmte Anzahl von Atemzügen mitbekommen, und je nachdem, wie schnell oder langsam wir atmen, währt unser Leben kurz oder lang. Im Pratyahara erlernen wir den bewussten Umgang mit unseren Sinnen, die uns von uns wegführen können, die Verbindung zu anderen herstellen oder nach innen führen zu unserem wahren Selbst. Dharana stärkt die Konzentrationsfähigkeit. Meditation – Dhyana – führt in die Mitte, zu unserem eigenen Mittelpunkt, von dem aus wir agieren können. Beim Meditieren wird »medha«, die innere Weisheit, gesucht. Eine der Übersetzungen für medha lautet: das, was heilt. Unser Begriff Medizin geht auf diese Wortwurzel zurück. Im Samadhi, dem Zustand der Freiheit, verspüren wir Harmonie und Einklang.
Anders als unsere westlichen medizinischen Systeme, die sich hauptsächlich an der Pathologie, dem kranken Zustand, orientieren, richtet sich Yoga am Gesundsein aus und sucht dieses zu fördern. Bei allen Übungen schaut man hin, spürt nach, ist mit Leib und Seele dabei. Die Übungen werden im Allgemeinen langsam und bedacht ausgeführt, oft hält man in bestimmten Stellungen inne, beobachtet den Atem, fühlt hin, was sich im Körper tut. Yoga ist keine Gymnastik, bei der man Bewegungsabläufe technisch vollzieht und mit den Gedanken und Gefühlen irgendwo herumschwirrt. Yoga ist ein Geschenk, das wir uns selbst machen können. Yoga ist Achtsamkeit im Alltagsgeschehen, Präsenz in jedem Augenblick. Es führt zu unserem Gesundsein. Mit Yoga können wir unsere Selbstheilungskräfte stärken.
Im Lauf der Zeit haben sich verschiedene Traditionen im Yoga gebildet und sind unterschiedliche Schulen entstanden:
- Bhakti-Yoga ist das Yoga der Hingabe und Liebe.
- Jnana-Yoga stellt das Wissen und den Intellekt ins Zentrum.
- Anna-Yoga befasst sich mit Ernährung, Diäten, Heilpflanzen.
- Karma-Yoga ist das Yoga der Handlung, der Tat.
- Mantra-Yoga rückt die Meditation auf einen bestimmten Laut, ein Mantra, in den Mittelpunkt.
- Hatha-Yoga, das im Westen am meisten bekannt gewordene System, konzentriert sich auf Körperübungen. Ha kann mit Sonne und Tha mit Mond übersetzt werden, sodass Hatha-Yoga die Harmonie von Sonne und Mond herstellt, das heißt, die sogenannt männlichen und weiblichen Kräfte in uns zum förderlichen Zusammenspiel bringt. Manche übersetzen Hatha mit Gewalt, was darauf hindeutet, dass es beim Yoga um gewaltige Kräfte geht, über die wir walten sollten.
- Tantra-Yoga mit seinen Ritualen ist nach einigen Forschungen das älteste System. Es soll schamanische Wurzeln haben. Tantra bedeutet das Gewebe, das Geflecht unseres Lebens. Die Ursprünge reichen einigen Quellen zufolge bis 20 000 Jahre vor Christus zurück und werden in Chaldäa und Mesopotamien vermutet. Neuere Forschungen datieren seinen Ursprung allerdings in die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Tantra kennt viele magische Rituale, die noch heute im Buddhismus und Hinduismus vollzogen werden. Tantra legt einen Schwerpunkt auf die Verbindung von Mann und Frau, sinnlich wie auch symbolisch. Es geht dabei um deren Verbindung als Paar, wie auch um das Zusammenwirken der weiblichen und männlichen Anteile in uns. Ähnlich hat der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung (1875–1961) Anima und Animus beschrieben und gedeutet.
- Raja-Yoga geht den Königsweg und bezieht die verschiedenen Aspekte der anderen Schulen ein.
All die vielen Wege – ich habe längst nicht alle aufgezählt – zeigen die Vielseitigkeit des Yoga, sodass ein jeder Mensch das für ihn Passende finden kann. Denn was mir guttut, kann anderen schaden oder sie im Moment nicht ansprechen. Schön ist es, wenn sich die unterschiedlichen Menschen die ihnen gemäßen Wege suchen.
Die Anfänge des Yoga verlieren sich im Dunkel der Menschheitsgeschichte, schrieb ich zu Beginn dieses Kapitels. Schriftliche Zeugnisse über das Yoga werden auf ein Alter von bis zu dreitausend Jahren datiert. Figuren aus Ton oder Stein, die Menschen in Yoga-Positionen oder Trancehaltungen zeigen, sollen bis zu sechstausend Jahre alt sein. Diese Plastiken zeigen Frauen und Männer. In manchen Gegenden wurden auch mehr weibliche als männliche Figuren gefunden. So wird wohl auch im Yoga wie bei vielen unserer Traditionen Matriarchales durch Patriarchales ersetzt oder übertüncht worden sein. Heute betreiben in vielen Gegenden Indiens mehr Männer als Frauen Yoga, während es im Westen häufig eher umgekehrt ist. Und meist sind die Lehrenden Männer und die Lernenden Frauen.
Dieser Aspekt des Ungleichgewichts zwischen Frau und Mann oder auch die Verschiebung von matriarchalen zu patriarchalen Strukturen ließ mich Luna-Yoga entwickeln. Wenn Yoga-Lehrer mir erzählten, was ich während, vor oder nach meiner Blutung tun und lassen darf, war ich oft überrascht und staunte. Wie will ein fremder Mann meine Empfindungen kennen? Warum will er mir vorschreiben, was mir guttut? Auf die Idee, Männern Ratschläge zu ihren sexuellen Empfindungen zu geben, kam ich bisher nicht. Ich finde ja gerade die Unterschiede zwischen Frau und Mann spannend und faszinierend. Diese machen schließlich die Anziehung aus.
So ermuntere ich, selbst zu entscheiden, was bekommt und was förderlich ist.
Ich beschreibe Luna-Yoga mit seinem spezifischen Schwerpunkt bei den Beckenorganen, weil ich in etlichen Yoga-Büchern Unsinnigkeiten in Bezug auf die Menstruation las. Häufig definieren Männer unsere weiblichen Organe und deren Funktionen. Im Luna-Yoga befasse ich mich mit den Zyklen der Frau und wende mich deshalb eher an Frauen, doch spreche ich mit diesem Thema auch Männer an – leben wir doch zusammen auf dieser Erde und wollen in guter Beziehung zueinander sein.
Lassen wir also rigide Rollenvorstellungen und konventionelle Klischees beiseite und schauen und hören auf das, was uns selbst wohltut. Probieren wir aus, was wir uns aneignen können oder neu entwickeln wollen. Werden wir freie Frauen und Männer nach unseren eigenen inneren Bildern.
Yoga reicht über die Einheit von Körper, Geist und Seele hinaus – es meint auch die Einbindung in die Natur, den Kosmos. Nichts geschieht im luftleeren Raum, wir sind stets eingebettet in eine Gemeinschaft, nicht nur der Menschen, sondern auch anderer Lebewesen und der sogenannten unbelebten Welt. All dies wird beim Yoga mitbeachtet, mitbedacht und integriert. Allein der Atem zeigt, dass wir mit allem verbunden sind: Wir atmen alle die gleiche Luft. Und haben zugleich unseren individuellen Atemrhythmus, der sich fabelhaft allen Gegebenheiten anpasst. Wenn ich mir dies verdeutliche, fühle ich mich jedes Mal in meiner Einzigartigkeit bestärkt und in meiner Verbundenheit berührt.
Somit ist Yoga zeitgemäß: Im Sinne der Ökologie werden die unterschiedlichen Lebensumstände einbezogen und wertfrei ohne moralisches Urteil auf- und angenommen. Daraus kann Veränderung entstehen. Aufmerksam wird beobachtet und wahrgenommen, wie der Körper reagiert. Gefühle und Gedanken werden geachtet. So entsteht ein immer klarer werdendes Bild des eigenen Zustands. Man kämpft beispielsweise nicht gegen ein Unwohlsein, sondern lässt zu, wie es sich anfühlt. So richten wir die Energie nicht gegen etwas, sondern lernen, diese für etwas zu nutzen.
Die schlichte Wirtschaftlichkeit im Yoga hat mir auch immer wieder Freude bereitet: Sie brauchen keine besondere Ausrüstung, keinen speziellen Raum. Yoga lässt sich überall ausüben, in der Kleidung, in der Sie sich gerade wohlfühlen.
Von Indien, dem Ursprung des Yoga, wo die Wurzeln des Baums Luna-Yoga liegen, geht die Reise weiter nach Israel, wo Aviva Steiner ihre erstaunlichen Entdeckungen machte. Diese bilden den Stamm des Luna-Yoga.