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Staub auf deinen Worten. Staub auf meinen Lidern, die es müde sind, dich zu suchen.

Mit diesen Worten verlassen die Typen von »Amnesie erwacht um Mitternacht« die Bühne. Applaus brandet auf.

Hier in einer Ecke der Piazza auf dem Bürgersteig sitzend fühle ich mich allein inmitten der bunten Menge, zwischen Gruppen von Goths, Emos, ein paar Punks mit zerlöcherten Shirts und Jugendlichen in Jeans und T-Shirt. Vor mir zieht eine bunte bewegte Welt vorüber. Ich bleibe sitzen. Des Mittelpunkts beraubt, um den mein Leben kreiste: Mikael.

Die Großbildleinwand zeigt Bilder aus dem Publikum. Jungs und Mädchen, die auf und ab hüpfen und Sprechchöre anstimmen. Eine Blondine, die auf den Schultern ihres Freundes hockt, wirft eine rote Rose auf die Bühne und winkt in Richtung Kamera.

Meine Freunde, die ganz in meiner Nähe sind, scheinen meine geistige Abwesenheit nicht zu bemerken. Dafür bin ich ihnen dankbar, ich muss jetzt ein wenig für mich sein.

Genziana und Lorenzo tauschen Zärtlichkeiten aus, dann Knüffe und Ellenbogenstöße. Sie lachen, entfernen sich voneinander, um sich von Neuem zu suchen. Caterina redet ununterbrochen mit Laura. Sie schauen jedem hübschen Jungen nach, der ihnen unterkommt.

Ich verberge mein Gesicht zwischen den Knien.

Eine langgezogene Note ertönt, verstärkt durch die Lautsprecher. Ein klagender, leidenschaftlicher Ton.

Eine Violine. Das Intro für einen Song, dessen Melodie so zerbrechlich wie Glas ist.

Ich blicke hoch.

Und schaue direkt in die Augen Ofelias, die in Großaufnahme auf dem Riesenbildschirm zu sehen sind. Sie sind schwarz umrandet, in den Klängen versunken.

Der Ohrhänger mit dem Amethyst glitzert durch ihre Haare. Sie trägt eine Spitzenbluse mit einem Stehkragen, der von einem schwarzen Satinband zusammengehalten wird. Dazu einen Rock mit einem hohen Seitenschlitz, Netzstrümpfe und Bikerstiefel.

Der Bildausschnitt zeigt jetzt die gesamte Bühne. Meine Hoffnung zerbricht, dass auch Mikael und Vincent dort sein könnten. Hinter ihr steht nur ein noch unbesetztes Schlagzeug.

Vielleicht handelt es sich um ein Solostück Ofelias zum Gedenken an die beiden.

Ich bleibe mit angehaltenem Atem sitzen, streichle den antiken Armreif, der an meinem Handgelenk glitzert, und lasse mich von der beschwörenden Klage einhüllen, die die Virtuosität des Mädchens mit den violetten Augen hervorbringt.

Es dauert viel zu kurz.

Das Ende des Songs geht im donnernden Applaus des Publikums unter.

Die Pause danach dauert eine gefühlte Ewigkeit. Dann hört man einen Trommelwirbel, der immer lauter wird.

Instinktiv stehe ich auf. Wieder bietet die Großbildleinwand einen Blick auf das Publikum. Von hier aus kann ich die Bühne nicht sehen, deshalb bahne ich mir einen Weg durch die Menge.

Das rhythmische Pulsieren des Basses. Ein fesselnder, drängender Lauf wie die Steilkurven einer Achterbahn.

Diese Stimme. So tief und einschmeichelnd wie der aufsteigende Duft von Weihrauch. Seine Stimme.

»Verzeihung«, schreie ich. Ich höre nicht auf die Flüche der Jugendlichen, die ich wegstoße. Ein wütendes Gitarrenriff kündigt den Beginn des Chorus an: Girl from the stars, take me away from all this darkness.

Ich schiebe mich weiter vor, benutze die Ellenbogen, die Augen habe ich starr vor mich gerichtet.

Girl from the stars, love won’t tear us apart. Mädchen von den Sternen, die Liebe wird uns nicht trennen.

We will find a way, regardless of what they say, wir finden einen Weg, egal, was sie sagen.

Mikael, der zum ersten Mal den Part des Leadsängers übernimmt, singt das Lied, das er für mich geschrieben hat.

Neben ihm steht Vincent, bearbeitet die Gitarre heftig mit der linken Hand und stimmt mit seiner schneidenden Stimme in die Refrains ein. Bei jeder Bewegung werden die Tätowierungen lebendig, wie Schatten, die das Mondlicht im Wald wirft.

Ein berührender Einsatz der Violine. Die Luft zittert, und als die Kamera Mikaels Eisaugen einfängt, fürchte ich, dass ich sterbe.

Aus der ersten Reihe, die Hände um die Absperrung geklammert, verfolge ich den Song, der mir nie aus dem Kopf gegangen ist.

I don’t know about forever, all I want is to lose myself in you, ich weiß nicht, ob es für immer ist, ich will nur eins, mich in dir verlieren.

We will steal time to the stars in the sky, wir werden den Sternen am Himmel die Zeit stehlen.

Für die beiden Protagonisten wurde ein neues Ende geschrieben.

Tränen so süß wie Honig.

Ich betrachte Mikael, als wollte ich ihn in meinem Kopf malen und dieses Bild für immer in mir behalten. Er trägt schwarze enganliegende Hosen und ein nachtblaues T-Shirt. Um den Hals einen violetten Seidenschal. Den kenne ich doch! Ich habe ihn damals bei Black zurückgelassen, damit er sich nicht so einsam fühlt. Und dann habe ich ihn nicht mehr in der Abstellkammer gefunden …

Er sieht mich an wie bei unserer ersten Begegnung beim Konzert in der Schule. Mir wird bewusst, dass ich nie aufgehört habe, ihn zu lieben.

Ofelia lächelt mir zu. Vincent kneift die Augen zusammen, er scheint mich zu beobachten. In seinem Blick keine Spur von Hass.

Am Ende des Songs tobt das Publikum so heftig, dass die gesamte Piazza zu beben scheint.

»Dead Stones, Dead Stones!« Laute Sprechchöre.

Mikael verlässt die Bühne. Die Kamera folgt ihm. Er kommt auf mich zu, mein Herz setzt aus. Einen Moment lang vergesse ich sogar das Atmen.

In einer Umarmung hebt er mich hoch und trägt mich auf die andere Seite der Absperrung. Der Riesenbildschirm fängt unser Bild ein, aber es ist so, als gäbe es nur mich und ihn.

Ich versinke in seinen Augen. Helle Himmelsfragmente voller Kraft und Melancholie.

Er streicht mir über die Haare. »Du hast mir gefehlt«, sagt er leise. Ich stütze mich mit den Handflächen gegen seine Brust.

Seine vollen Lippen öffnen sich leicht.

Ich gehe auf die Zehenspitzen und schließe die Augen.

Ein Kuss so zart wie der Flug von tausend Schmetterlingen mit Silberflügeln.

Ein Kuss so wild wie das Meer, das sich am Ufer bricht.

Ein Kuss so süß wie die Blütenblätter einer Wildrose.

Wir werden den Sternen am Himmel die Zeit stehlen.