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Den Kopf zu benutzen verbraucht mehr Kalorien als ein Vierhundert-Meter-Hürdenlauf. Zumindest meine ich, so was irgendwo gelesen zu haben. Also verbrauche ich jetzt Kalorien, während ich auf dem Schaukelstuhl sitze, der zwischen dem Schrank und der Wand steht. Mein Nest aus alten Teddybären, die meine wilden Zärtlichkeiten und Kinderspiele verschlissen haben.

Heute ist Freitag. Der Tag der Venus, würde Genziana jetzt sagen. Die Woche ist wie im Flug vergangen, mit Höhen und Tiefen und dem Heimweh nach einer Welt, die nicht mehr meine ist. Seit dem Zusammenstoß mit Lavinia weicht Pietro mir nicht mehr von der Seite und verbringt mit Lorenzo und uns die Pausen unter dem mächtigen Baum mit den tiefhängenden Ästen.

»Los, gehen wir alle zu Großmutter Eiche!«, hat Genziana gestern gerufen. Sie hat für alles einen Namen. Und dann schafft sie es immer, mich oder Cat mit den unmöglichsten Verehrern zu nerven. »Du hast ja einen neuen Mär-chen-prin-zen«, flötet sie, als sie Pietro hinter mir auftauchen sieht, schweigend und verlässlich in seiner neuen Rolle als Bodyguard. Das Ganze ist mir ziemlich peinlich, aber ich kann nichts dagegen tun. Und Pietro mag ja ein bisschen komisch sein, aber Lorenzo ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Er meckert an allem und jedem herum, scheint sich ständig zu langweilen und hat sich immer mit Genziana in der Wolle. Sobald sie den Mund aufmacht, muss er prompt mit dem genauen Gegenteil kontern.

Heute haben sie sich aus einem absolut blödsinnigen Anlass gestritten. Genziana hat gesagt, Ahörnchen und Behörnchen seien Geschwister. Lorenzo meinte, die seien allerhöchstens Cousins, Brüder wären nur Tick, Trick und Track.

»Was haben jetzt die Ducks damit zu tun? Wir waren doch bei Streifenhörnchen!«

»Das sind doch auch Comicfiguren.« Und aus diesem Quatsch ist dann eine ganze Diskussion über Verwandtschaftsbeziehungen in Comics entstanden.

»Aber die von der Panzerknackerbande waren doch auch Brüder, oder? Und was sind das überhaupt für Tiere?«, hat Caterina gefragt.

»Das sind Hunde«, hat Genziana geantwortet.

»Das sind doch keine Hunde … Goofy ist ein Hund!«, hat Lorenzo gesagt, und schon ging eine neue Diskussion los.

Als uns die Pausenklingel überrascht hat, hat Caterina den Schlusspunkt gesetzt: »Da fällt mir ein, ich habe einen Panzerknacker-Comic auf Englisch zu Hause, da heißen sie ›Beagle Boys‹, also sind sie doch eindeutig Hunde. Außerdem haben sie diese schwarzen Knopfnasen.«

Da hat sich sogar Lorenzo geschlagen gegeben.

Nach dem Unterricht haben wir drei Mädchen so getan, als würden wir auf die Toilette gehen, aber sobald Pietro und Lorenzo nicht mehr auf uns geachtet haben, sind wir hinaus auf den Schulhof gehuscht.

»Ich muss euch etwas Wichtiges zeigen«, meinte Genziana. Während wir durch den Park mit den jahrhundertealten Bäumen liefen, der die Schule umgibt, hat sie uns überraschenderweise von ihrer Mutter erzählt. »Ich habe ein Foto von ihr auf dem Nachttisch stehen. Das müsstet ihr mal sehen. Wir gleichen uns wie ein Ei dem anderen. Wäre es nicht so verblasst, könnte man meinen, das sei ich. Mama war Biologin, deshalb hat sie mich Genziana genannt: Es bedeutet Entschlossenheit und ist außerdem noch der Name einer Blume.«

»Wie schön! Ich habe leider überhaupt keine Ahnung, was Caterina bedeuten könnte.«

»Der Enzian ist eine Blume, die in den Bergen wächst, zwischen den Felsen, bei härtesten Temperaturen und anderen schlechten Witterungsbedingungen. Nur durch große Entschlossenheit gelingt es dieser Pflanze, unter diesen Umständen zu überleben. Deshalb versuche ich auch, nie den Mut zu verlieren, um meinem Namen Ehre zu machen.« Bei diesen Worten machte Genziana ein ganz merkwürdiges Gesicht. Vielleicht suchte sie in ihrer Erinnerung Spuren von ihrer Mutter. »Sie ist nur ein paar Monate nach der Geburt meiner Schwester gestorben. Ein Unfall.«

Caterina und mir verschlug Genzianas Geständnis die Sprache, betroffen und schweigend liefen wir hinter ihr her.

»Wir sind da!«, rief sie, als wir den Rand des Parks erreichten. Vor uns lag ein kleiner Garten mit unbekannten jungen Pflanzen, die intensiv dufteten. »Das sind meine Gewürzkräuter.« Sie hat uns erklärt, dass der Parkwächter ein Freund ihres Vaters ist. »Ich habe immer viel Geld im Reformhaus für die Zutaten meiner Kräutertees ausgegeben, denn wir leben in einer kleinen Wohnung, also haben wir keinen Garten. Er hat mir diese Ecke des Parks für meinen Kräutergarten überlassen. Aber das ist ein Geheimnis! Davon darf niemand wissen.«

Caterina tippte sich äußerst bezeichnend mit dem Finger an die Stirn.

»Ich bin nicht verrückt! Die Spinner seid ihr, weil ihr nichts über die heilkräftige Wirkung von Pflanzen und Blumen wisst.« Sie beugte sich hinunter und nahm zärtlich ein Blatt zwischen Zeigefinger und Daumen. »Das hier ist zum Beispiel Salbei, der Name kommt aus dem Lateinischen, ›salvus‹ bedeutet gesund … Ich habe gelernt, seht ihr?«

»Wenn du in der Schule nur genauso fleißig wärst! Ich würde alles dafür geben, um das Gesicht von Herrn Minarelli zu sehen, wenn er dich lateinische Vokabeln zitieren hört.«

»Jetzt versuch nicht, alles ins Lächerliche zu ziehen, und lass mich ausreden. Ich sagte gerade, dass die Pflanze den Namen ihrer Heilkraft verdankt. Bei den Römern galt sie als heilig.«

»Und was ist das hier?«, fragte Caterina.

»Das ist Verbene, ein Kraut, das der Venus geweiht ist. Die Pflanze der Liebe, ich glaube, mehr brauche ich nicht zu sagen.« Und ich habe beobachtet, wie Cat sich hinunterbeugte, hastig einen Zweig von dieser Liebespflanze abriss und ihn in der Tasche ihrer Jeans verschwinden ließ.

»Bei nächster Gelegenheit lade ich euch zu einem Essen ein, bei dem Pflanzen und Blumen die Hauptzutaten sind. Viele Blumen sind essbar, wusstet ihr das?«

»Also, ehrlich gesagt ziehe ich einen Hotdog vor«, habe ich gestanden, und alle haben laut gelacht.