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Montage fangen eigentlich immer schon am Sonntagnachmittag an. Deshalb habe ich Sonntage nie gemocht. Die ganze Woche sehne ich mich danach, der lästigen Schule mit ihren Pflichten zu entfliehen und einmal ausschlafen zu können. Aber wenn der Sonntag dann da ist, denke ich bloß: »Morgen ist wieder Montag und dann erwartet mich wieder eine ganze Woche mit Schule!« Auf den Sonntag muss man einfach zu lange warten, und dann ist er zu kurz, als dass man ihn wirklich genießen könnte.

Ich trage nur Jeans und ein ärmelloses T-Shirt und sauge diese nach Sommer duftende Sonne tief in mich ein. Eine Fata Morgana, denn der Herbst hat schon an die Tür geklopft. Aber dafür sind Fata Morganas ja da, oder nicht? Um sich in der milden Wärme einer Illusion zu sonnen.

Ich halte einen Pinsel mit frisch gemischter Farbe in der Hand. Vor mir die Leinwand und auf der Leinwand die Skizze eines kleinen Turms inmitten von Hügeln. Ich betrachte die Landschaft, dann wende ich mich wieder der Skizze zu, mit dem Bild vor meinem inneren Auge. Ein Bild, das von meinem Herzen verklärt wird. Und trotzdem … Irgendetwas stimmt nicht. Der Turm ist der gleiche, mit seinem etwas gespenstischen Aussehen. Er wirkt wie eine Vogelscheuche, die sich dunkel vom Himmel abhebt. Ich erkenne auch die kleinen rundlichen Hügel im Hintergrund und die Bäume, die deren Linie folgen und aussehen wie grüne Geburtstagskerzen auf einer Schokotorte. Was fehlt also?

Das Gefühl.

Ich wette, es wäre nicht so, wenn ich meinem eigentlichen Wunsch nachgeben und das malen würde, was ich wirklich will. Heute Nacht habe ich kein Auge zugetan. Ich habe mein Kissen umarmt und an ihn gedacht. Ich habe ihn in mir gespürt wie den Dorn einer Rose, der schönsten und wohlriechendsten von allen, aber trotzdem kann man ihn nicht aus dem Fleisch entfernen.

Mikael … Ich flüstere seinen Namen in den Wind und lege den Pinsel beiseite. Er ist nichts als ein Fremder für mich, aber trotzdem … Es ist sonderbar, aber ich habe das Gefühl, als hätte ich ihn schon immer gekannt. Vielleicht war er in meinen Träumen längst aufgetaucht. Vielleicht begleitet er mich schon länger von Sonnenuntergang bis zur Morgendämmerung, und bei den ersten Sonnenstrahlen löst sich sein Bild auf.

Oh Mann … Was bin ich bloß für eine Romantikerin. Ich und meine Märchen von der großen Liebe, die man nur ergreifen muss, wenn sie einem begegnet, weil man gar nicht anders kann. In einem Buch habe ich eine Legende der Apachen-Indianer gelesen. Sie besagt, dass der Planet Erde nach einer großen Explosion im Himmel entstanden ist. Die Sterne sind in zwei Teile zerbrochen und auf die Erde gefallen, und so hat sich das Leben entwickelt. Und seit diesem Tag wandert jeder von uns über die Erde auf der Suche nach seiner anderen Hälfte, der verloren gegangenen Hälfte des zerbrochenen Sterns, die uns wieder in ein Ganzes, in etwas Besseres verwandeln kann. Denn es gibt nur eine passende Hälfte.

Vielleicht liegt es ja an meiner Liebe zu den Sternen, aber diese Legende hat sich mir eingeprägt, und ich habe immer gedacht, dass ich meine Sternenhälfte erkennen würde, wenn sie mir begegnete.

Tja, wer weiß, wie viele Schülerinnen meines Gymnasiums wohl dasselbe über Mikael denken. Und mindestens ebenso viele träumen von Vincent und seinen Tattoos, die wie Schlangen in ihre Wunschträume gleiten. Malen hilft überhaupt nicht dagegen. Ich schließe die Farbtuben wieder und räume die Staffelei weg.

Mit einem Buch in der Hand lege ich mich in das kühle Gras. Ich geselle mich zu Madame Bovary, aber schon bald vermischt sich ihr Liebesleid mit meinen Gedanken, und Mikael tritt an die Stelle des jungen Jurastudenten, mit dem die Frau Ehebruch begeht. »Oh nein! Das gibt’s doch gar nicht!«

»Was gibt’s nicht?«, fragt Marco, der plötzlich neben mir aufgetaucht ist.

»Nichts, was dich interessieren könnte.«

Als Antwort streckt er mir die Zunge raus.

»Ich habe gerade überlegt, einen Spaziergang zu machen. Siehst du den Turm da?« Ich stehe auf, und er folgt mir mit einem Schritt Abstand.

»Ist der nicht zu weit weg? Oma sagt doch auch immer: Manche Dinge scheinen so nah zu sein, und dabei sind sie in Wirklichkeit weit entfernt. Und andere scheinen so fern und sind stattdessen …«

»Manchmal machst du mir Angst, Marcolino.«

»Nenn mich nicht so«, schmollt er.

»Schon gut. Heute werde ich den ganzen Tag lang nicht mehr Marcolino zu dir sagen.«

»Jetzt hast du es ja schon wieder gesagt!«

»Das ändert nichts an der Tatsache, dass du einfach zu klein bist, um so kluge Dinge von dir zu geben!«

Und wenn es wirklich so wäre? Ist Mikael, der so gar nicht zu meinem Leben zu passen scheint, in Wirklichkeit viel näher bei mir, an dem, was mich ausmacht und an meiner Sehnsucht, als ich mir vorstellen kann?

»Ich komme mit, zu Hause langweile ich mich.«

»Na also. Wenigstens bist du jetzt wieder so dumm wie immer, ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen. Wenn der Turm nämlich für mich weit weg ist, dann erst recht für dich mit deinen kurzen Froschbeinchen!«

»Ich habe keine kurzen Beine! Und außerdem können Frösche ganz schön schnell sein. Ich möchte mit dir kommen, weil Mama und Papa nirgendwo mit mir hingehen. Und dabei haben sie mir versprochen, wenn ich brav bin beim Um … beim Umzug …« Das Wort »Umzug« bekommt er fast nicht raus. Ob es daran liegt, dass der Ortswechsel für ihn so traumatisch war?

»Na gut. Aber wir gehen nur auf richtigen Wegen, nicht querfeldein.« Nein, ich bin nicht plötzlich zu einer Heiligen geworden, ich hoffe nur, dass ich in Gesellschaft meines kleinen Bruders nicht ständig an Mikael denken muss.

Kurz darauf laufen wir schweigend nebeneinander die Straße herunter, Hand in Hand. Und meine Gedanken eilen wieder dahin, wohin sie nicht sollen.

»Na toll. Sonst plapperst du immer wie ein Wasserfall, und jetzt, wo ich gern ein wenig Gesellschaft hätte, kriegst du den Mund nicht auf!«

»Ich bin eben ganz ruhig.«

Ich gebe ihm einen schmatzenden Kuss auf die Backe.

»Nein. Igitt! Wie eklig!«, schreit er und reibt sich sofort die Backe, um den Kuss abzuwischen. Ich muss laut lachen und sehe mich um. Um uns herum nur Grün, das uns mit einer zarten Umarmung aus Harz und Piniennadeln umfängt. Es ist wirklich schön hier.

Von Zeit zu Zeit fragt mich Marco: »Wie heißt das da?«, und zeigt auf einen Baum oder eine Blume. Ich weiß darauf so gut wie nie eine Antwort und verspreche ihm, ihn demnächst mit Genziana bekannt zu machen: Sie wird ihn in sämtliche Geheimnisse der Natur einweihen.

»Ich bin müde.«

»Aber der Turm ist doch noch weit weg.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass er schrecklich weit weg ist!«

Ich werfe ihm einen gespielt bösen Blick zu, aber er schaut mich bloß mit großen Augen an, und dagegen bin ich wehrlos. Also, mit diesen riesigen Kulleraugen kommt er ganz nach mir! Und ich dachte, das wäre meine Geheimwaffe … Der Arme, er schwitzt und ist eindeutig erschöpft.

»Na gut. Du darfst bei mir mitfahren. Genieß die Reise, denn mit einem Ferrari Scarlett dürfen nur die wenigsten fahren. Mach dich bereit, gleich heult der Motor auf, und die Straße rast unter dir davon. Fertig?«

»Ja!« Er streckt die Arme aus, und ich nehme ihn auf die Schultern wie früher, als er noch kleiner war. Ich laufe los, und er kriegt sich gar nicht mehr ein.

»Schneller!«, schreit er.

Kurz darauf kann ich nicht mehr, ich werde langsamer und beginne sein Lieblingslied zu singen, Kleine freche Sonne. Das Lied muss etwas Einschläferndes an sich haben, denn kurz darauf spüre ich, wie sein kleiner Kopf schlaff auf meine Schulter sinkt. Er ist eingeschlafen. Ich kehre um, und auf dem Rückweg holt mich die untergehende Sonne ein. Kein Sonnenuntergang gleicht dem anderen. Meine Gefühle jedoch haben sich seit gestern nicht verändert. Mikael Lancieri beherrscht meine Gedanken. Und mit seinen Eisaugen würde ich gern einen einzigartigen Sonnenuntergang teilen.