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Ich streichele die Kette mit den Fledermausflügeln und versuche, daraus die nötige Kraft zu ziehen, um in dieser chaotischen Zeit weiterzumachen. Mikael fehlt mir wahnsinnig.

Ich spüre das Bedürfnis, mich in seinen Augen zu verlieren, über die weiche Haut seiner Hände zu fahren. Die Narben auf seinem Rücken zu küssen.

Ich wünsche mir sehnlichst eine Umarmung von ihm, ich möchte ihn um Verzeihung bitten, für alles, was ich ihm angetan habe. Wenn ich Fehler gemacht habe, dann nur aus Angst!

Genziana und Lorenzo sind endlich zusammen. »Seit einem Jahr habt ihr Katz und Maus miteinander gespielt!«, hat Caterina ausgerufen. Sie sind ein schönes Paar. Sie haben zwar nicht aufgehört, gegeneinander zu sticheln, aber sie sind süß und hängen immer zusammen.

Umberto hat sich mit einer Mitschülerin eingelassen, die ihm laut Rehauge schon seit einer Ewigkeit hinterherlief. Dennoch wirft er mir immer noch vielsagende Blicke zu, und ich tue, als würde ich es nicht merken.

Die ganze Schule spricht nur noch von dem Konzert am Ersten Mai, das demnächst stattfinden wird. Mehr oder weniger bekannte Bands werden im Zentrum von Siena zu einem großen Event zusammenkommen. Mikael hatte mir davon erzählt …

Ein Tag ist für mich wie der andere, und meine einzige Ablenkung ist die Zeit, die ich mit Marco verbringe.

Ich berühre das Bild an der Wand. Es hängt ein wenig schief, ich bin nicht sehr gut darin, Nägel einzuschlagen. Aber es war mir wichtig, es sofort, nachdem ich es vollendet hatte, gegenüber von meinem Bett aufzuhängen. Ich wollte, dass es das Erste ist, was ich morgens sehe, wenn ich die Augen öffne, und das Letzte am Abend vor dem Einschlafen.

Mein Gemälde. Endlich konnte ich es beenden. Darauf ist der alte Turm zu sehen, der auf der Anhöhe gegenüber von unserem Haus aufragt. Er wird von einem scheuen Mond unter einem wunderbaren Sternenhimmel beleuchtet. Zwei winzige Gestalten verharren in einer Umarmung in seinem Schatten.

So will ich mich an ihn erinnern … wie in jener Nacht, in der ich mit Mikael zusammen war. Die Nacht, in der wir uns zum ersten Mal unsere Liebe erklärt haben.

In Wirklichkeit ist mein geliebter Turm jetzt halb zerfallen. Verwundet, melancholisch. Wenn ich ihn betrachte, erfüllt mich das mit Unruhe.

Schmerzliche Erinnerungen werden wach. Der Dämon und sein böses Ritual verfolgen mich oft in meinen Träumen.

»Darf ich reinkommen?«

»Na klar, kleiner Frosch.«

»Ich kann nicht schlafen.«

Ich hole meine Sternenkugel aus der Hosentasche. Der Moment ist gekommen, wo sie den Besitzer wechseln soll. »Komm mal her«, sage ich zu Marco.

Wir setzen uns auf mein Bett, und in feierlichem Ton erzähle ich ihm von den Fähigkeiten meines Glücksbringers, genau wie Oma Evelyn es bei mir gemacht hat, als ich sechs Jahre alt war.

»›Wenn es dir schlecht geht oder wenn du traurig bist, drück diese Kugel ganz fest. Das ist dann so, als würdest du die Sterne berühren, das ist dein ganz persönlicher Himmel in Griffweite, der alles viel klarer erscheinen lässt.‹ Diese Worte hat mir unsere Großmutter geschenkt, als ich in deinem Alter war. Das hier ist ein mächtiger Talisman.«

»Was bedeutet ›Talisman‹?«

»Das ist ein Gegenstand, der dich beschützt, wenn du ihn brauchst.«

»Dann hat er also Zauberkräfte!«

»Genauso ist es. Und je mehr du an ihn glaubst, desto größer wird seine Kraft.«

Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich die Kugel Sally genannt habe, denn ich finde, er sollte für seinen Glücksbringer einen eigenen Namen aussuchen.

Die Sternenkugel hat erst mir und dann für eine kurze Weile Mikael gehört. Sie ist mit unseren Träumen und Wünschen durchdrungen. Aber Marco braucht sie jetzt dringender als ich: Er ist am Beginn seines Lebenswegs und muss noch viele Antworten finden.

Black kommt ins Zimmer. Er reibt sich an meinen Beinen und hüpft aufs Bett. Wenn Mama das sehen würde …

»Toby!«

»Was?«

»Er heißt Toby, mein Sternenball heißt Toby! Wir beide gehen jetzt schlafen. Gute Nacht, Scarlett.«

»Gute Nacht, kleiner Frosch.« Ich verpasse ihm einen Kuss auf den Kopf.

Dann lasse ich mich aufs Bett sinken. Black legt sich auf meinen Bauch, und unter seinem leisen Schnurren finde ich meine Ruhe wieder.