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Willkommen zurück, Scarlett! Im Namen der ganzen Klasse. Ich weiß, du hast eine schwere Zeit hinter dir, aber du kannst auf die Hilfe und Unterstützung von uns allen zählen.« Die Zini ist sichtlich bewegt. Sie lächelt.

Mein erstes Erscheinen in der Klasse nach so vielen Tagen Abwesenheit wird von langanhaltendem Beifall begleitet.

Caterina reicht mir einen Stapel Blätter. »Ich habe dir meine Notizen kopiert. Sie sind nach Fächern geordnet, so kannst du schnell wieder alles aufholen.«

»Danke«, flüstere ich verlegen. Ich bin so viel Aufmerksamkeit nicht gewöhnt. Verläuft mein Leben endlich in den richtigen Bahnen? Vielleicht hat ja in mir eine Veränderung stattgefunden und die Welt da draußen hat es bemerkt.

Nach den Renovierungsarbeiten wurde die Bibliothek wieder geöffnet. »Du wirst dich bestimmt freuen zu hören, dass sie jetzt Edoardos Namen trägt, zum Gedenken an ihn. Es hat eine kleine Feier gegeben, bei der man an seine große Liebe zu Büchern erinnert hat. Seine Frau war auch da. Sie ist wunderschön, aber so traurige Augen wie ihre habe ich noch nie gesehen«, fährt Cat fort.

Ich erinnere mich an diesen traurigen Blick. Er hat sich in meinen Kopf eingebrannt.

Ich betrachte die Welt draußen vor dem Fenster und stelle fest, dass der Winter nur noch eine vage Erinnerung ist. In letzter Zeit hatte ich weder Zeit noch Lust, um das zu bemerken. Der Frühling setzt hier und da schon seine ersten schwachen Vorzeichen.

Ich nutze die Pause, um bei Black vorbeizuschauen. Als ich die Tür öffne, fürchte ich schon, dass er mich nicht mehr erkennt, aber er läuft mir miauend entgegen.

»Wie groß du geworden bist! Wenn ich dir auf der Straße begegnet wäre, hätte ich dich nicht wiedererkannt.«

Er antwortet mir mit einem Miau und streicht bettelnd nach Zärtlichkeiten um meine Beine. Als ich ihn auf den Arm nehme, schnurrt er wie ein kleiner Motor. Von Mikael keine Spur.

»Tut mir leid, Black, ich gehe dein Herrchen suchen. Ich muss unbedingt mit ihm reden.«

Zum ersten Mal werde ich zu der Statue der Frau mit der Taube gehen, um ihn zu finden.

Ich verlasse den Raum, laufe mit großen Schritten den Flur entlang und stehe plötzlich vor Ofelia.

Sobald sie mich sieht, schaut sie weg. Sie ist wunderschön wie immer, aber blasser als sonst. Ihre scharlachroten Lippen heben sich von ihrem Gesicht ab wie Blutstropfen im Schnee.

»Ofelia, warte. Ich muss mit dir reden.«

Sie läuft vor mir davon.

»Verzeih mir, ich hatte Angst …«

Sie bleibt stehen, ballt die Hände zu Fäusten. Kurz darauf dreht sie sich zu mir um. »Ich hätte dich nicht für so egoistisch gehalten«, sagt sie. Ein Hauch von Traurigkeit verschleiert ihren Blick.

»Ich weiß, dass ich Fehler gemacht habe …«

Sie lässt mich nicht ausreden.

»Zuerst hast du Mikael verurteilt. Du hast nicht berücksichtigt, welche Pflichten ihm sein Wesen auferlegt. Du hast ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen, als er dir sein Herz auf einem Silbertablett serviert hat. Und dann …«, ihre Lippen zittern wie Rosenblätter im Wind, »… hast du nicht gezögert, ihn um Hilfe zu bitten, ohne auch nur einen Augenblick darüber nachzudenken, welche schrecklichen Folgen das haben könnte.«

»Was für Folgen? Wovon redest du?«

»Sollte Mikael oder Vincent etwas zustoßen, werde ich dich direkt dafür verantwortlich machen. Ich habe nie eine Familie gehabt, die beiden sind alles für mich. Begreifst du das?«

So habe ich sie noch nie erlebt. Sonst ist sie immer so distanziert wie ein ätherisches Wesen von einem anderen Stern, aber heute ist sie erfüllt von endlosem Schmerz und Wut.

»Bitte, erklär mir doch, was passiert ist. Wenn ich dich so reden höre, bekomme ich Angst.«

Sie senkt den Kopf, und ihre Haare fallen wie ein schwarzer Vorhang vor ihre Augen.

Sie scheint ihre Ruhe, ihre äußere Distanziertheit wiederzufinden.

»Mikael und Vincent hatten eine äußerst heftige Auseinandersetzung.«

»Meinetwegen?«

»Du hast alte Erinnerungen in ihnen geweckt, die zu schmerzlich sind, als dass sie einfach beiseitegewischt werden könnten.«

»Erklär mir das, Ofelia, ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren. Hasst Vincent mich deswegen?« Ohne groß nachzudenken, packe ich sie am Handgelenk. Sie befreit sich aus meinem Griff und durchbohrt mich mit ihren Augen. »Vincent hasst dich nicht. Jedenfalls geht es nicht darum. Vor ein paar Jahren hatte er sich in ein Mädchen verliebt …«

»Sprich weiter«, dränge ich sie.

»Mikael hat ihm schwere Vorwürfe deswegen gemacht. Er hat ihn an seine Pflichten erinnert und ihn dazu gebracht, sie aufzugeben. Zu ihrem Besten, hat er gesagt. Um sie nicht Gefahren auszusetzen, die für ein menschliches Wesen zu viel sind. Das hat er zumindest geglaubt.«

Ich bekomme eine Gänsehaut, weil ich ahne, was sie mir gleich erzählen wird.

»Wenig später ist das Mädchen unter mysteriösen Umständen gestorben. Vincent hat seitdem immer wieder darüber nachdenken müssen, dass er sie vielleicht hätte beschützen können, wenn er mit ihr zusammengeblieben wäre.«

»Und er macht Mikael für das Geschehene verantwortlich …«, sage ich leise. Jetzt ist auf einmal alles schrecklich klar.

»Vincent hat geschworen, er würde sich nie wieder verlieben. Dann kam ich.« Ihre violetten Augen durchbohren mich. »Mikael hat jedes Gesetz gebrochen, um dir zur Seite zu stehen, und jetzt droht uns allen, dass wir die Folgen tragen müssen. Wegen deiner Leichtfertigkeit sind wir alle in Gefahr. Verstehst du wirklich nicht, wie ernst die Situation ist?«

Ich schweige. Ich begreife den Sinn ihrer Worte nicht bis ins Letzte, obwohl mir Mikael erklärt hat, dass in der Welt der Dämonen eherne Gesetze herrschen und dass er auf keinen Fall seine Kräfte für persönliche Zwecke einsetzen darf. Und meinem Bruder das Leben zu retten gehört sicher nicht zu den Aufgaben eines Wächters.

Ich muss alles wissen!

Ich liebe ihn.

Mikael ist die Luft, die ich atme, mein Herz schlägt im Takt seines Namens. Er ist die große Liebe, auf die ich mein ganzes Leben gewartet habe.

»Ich liebe Mikael und hätte ihn um nichts auf der Welt in Gefahr bringen wollen. Ich habe nichts von ihm verlangt. Er hat mich weinen sehen und …«

»Das ist, als hättest du ihn darum gebeten. Mikael würde sein Leben für dich geben, und das weißt du.«

»Bitte, Ofelia, ich muss mehr wissen.«

Die Klingel zum Pausenende unterbricht unser Gespräch.

Was soll das heißen, dass wegen meiner Leichtfertigkeit jetzt alle in Gefahr sind?

Ohne dass ich diese Frage stelle, bekomme ich schon die Antwort: »Du kannst das nicht verstehen. Jetzt bete nur, dass alles gut geht, denn sonst bekommst du es mit mir zu tun.«

Ich stürze mich in Ofelias Schmerz und packe sie am Arm: »Bitte komm nach Unterrichtsschluss in die Bibliothek. Ich muss unbedingt mit dir reden, muss dir unbedingt etwas erklären.«