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Essen ist fertig! Los jetzt, bevor es kalt wird! Erst kommst du so spät nach Hause, und dann schließt du dich eine Ewigkeit im Bad ein. Also wirklich, beweg dich endlich!« Die Hartnäckigkeit meiner Mutter kennt keine Grenzen. Sie ruft aus dem unteren Stockwerk nach mir, aber trotzdem höre ich sie durch die abgeschlossene Badezimmertür so deutlich, als stünde sie direkt neben mir. Ein tiefer Seufzer, ich habe keinen Hunger und erst recht keine Lust auf eins von ihren Verhören. Ich wasche mir energisch das Gesicht in dem Versuch, wenigstens einen Moment lang nicht mehr an Mikael zu denken. Aber es funktioniert nicht.

Dann lege ich mich auf den Boden und versuche es mit Sit-ups. Ich bin völlig außer Form! Nach zweien kann ich schon nicht mehr. Dafür sehe ich Mikaels perfektes Gesicht und seine vollen Lippen vor mir, die das Mikrofon zart streifen. Oh mein Gott, was ist nur in mich gefahren? Ich würde mir ja eine runterhauen, wenn das etwas bringen würde. Los, Scarlett, wach auf!

Vielleicht habe ich ja jetzt ein Gegenmittel gefunden: Ich schaue in den Spiegel und zähle ganz laut die Namen von Genzianas Kräutern auf. Verbene, Basilikum. Und dann? Rosmarin, das war leicht, denn der schmeckt toll zu Ofenkartoffeln. Enzian, supereinfach, so heißt ja auch die Herrin über den Kräutergarten. Und weiter? Mikael …

Mikael? Nein, so wird das nichts.

»Scarle-tt, ich möchte mich nicht wiederholen!« Oje, meine Mutter hat meinen Namen wieder auf diese Art betont, ich sollte besser in die Hufe kommen. Summend gehe ich die Treppe hinunter. I’m closer to you … la la la … I’m closer to you. Auweia!

»Hmm, das riecht aber lecker. Was gibt’s denn Gutes?«

»Leber mit Zwiebeln. Und versuch es erst gar nicht damit, dass du keinen Hunger hast.«

»Ach, Mama! Ich habe sowieso schon keinen Appetit, und dann setzt du mir Leber vor. Du weißt genau, dass mir davor graust!«

»Dann zwing dich und iss wenigstens ein bisschen. Das ist gut für dich. Schau dir deinen kleinen Bruder an. In deinem Alter solltest du dich nicht so anstellen.« Ich drehe mich zu Marco um, der sich den Mund vollstopft und mit einem hinterhältigen Grinsen kaut.

»Hast du gesehen? Jetzt muss er schon dir mit gutem Beispiel vorangehen.«

Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu und fahre mir als Zeichen der »Freundschaft« mit dem Zeigefinger auf Höhe der Kehle von rechts nach links.

»Ich – krieg – einfach – keine – Leber – runter, auch – beim – besten – Willen – nicht.« Ich betone jedes einzelne meiner Worte und vermeide jeden Blick auf den Teller. Zum Zeichen meines Protests verschränke ich die Arme vor der Brust.

»Ach, mach doch, was du willst, Scarle-tt.«

Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich stehe auf, schnappe mir die Schachtel mit dem Müsli und schütte mir kalte Milch in eine Schüssel. Mit spitzen Fingern schiebe ich den Teller von mir weg, in dem die Leber in einem Meer goldgelber Zwiebeln versinkt. »Igitt!«

»Du kannst nicht immer nur essen, was dir passt. Du solltest dich ausgewogen und abwechslungsreich ernähren.«

»Ich sag’s gerne noch einmal, ich habe keinen Hunger. Und außerdem ist Milch ein vollwertiges Lebensmittel.« Gleich ist sie sauer, das spüre ich.

»Schatz, lass sie doch in Ruhe. Sie hat gesagt, dass sie keinen Hunger hat. Eine Schüssel Milch mit Müsli ist mehr als in Ordnung.« Mein Vater hat beschlossen, mir zu Hilfe zu eilen, der direkte Weg in die Katastrophe. Nur komisch, dass es mir vollkommen egal ist, ob sie in der nächsten Minute zu streiten beginnen. Denn etwas anderes beherrscht meine Gedanken. Eine fixe Idee. Eine Idee mit so eisblauen Augen, dass mir davon schwindelig wird, mit vollen Lippen und braunen Haaren und Strähnchen so golden wie schöne Träume.

»Nein, das ist nicht in Ordnung, überhaupt nicht! Du kannst sie nicht immer verteidigen. Du bist doch nie zu Hause und weißt gar nicht, was hier unter der Woche passiert!«

»Aber Simona, unsere Tochter ist doch jung. Wenn man jung ist, dann lebt man, weil man Spaß am Leben hat. Weil man die Leidenschaft spürt, weil man gerade auf der Straße einen Blick aufgefangen hat, der einem nicht mehr aus dem Kopf geht.«

Ich verschlucke mich an meiner Milch und muss husten, mein Kopf läuft puterrot an. Der kleine Marco prustet los, und meine Mutter kommt jetzt so richtig in Fahrt. »Ich bin es leid, hier immer die böse Mutter spielen zu müssen. Es ist so bequem, einmal die Woche den verständnisvollen Vater zu geben, der etwas von Jugend und Leidenschaft erzählt und seinen Kindern recht gibt. Ich bin ständig hier, den lieben langen Tag, und immer bin ich diejenige, die Nein sagen muss, wenn es nötig ist …«

»Schatz, ich will doch Scarlett nicht um jeden Preis recht geben.«

»Aber das tust du doch gerade.«

Ich höre sie nicht mehr. Ich klinke mich aus der Realität aus und verliere mich in meinen Gedanken. Gedanken so weich wie Sommerwolken. Wolken wie Schlagsahnetupfer.

Ob Mikael und der Motorradfahrer ein und dieselbe Person waren? Ich kann mich nicht geirrt haben. Diese Kristallaugen sind unverwechselbar. Aber manchmal spielt einem die Einbildung böse Streiche. Ich gehe in den Garten. Dort setze ich mich auf eine der Schaukeln und sehe verträumt zu dem einsamen Turm, der sich auf dem Hügel vor mir erhebt. Jetzt ist auch schon die Abenddämmerung da und umgibt ihn mit dem Reiz des Geheimnisvollen. Sie hüllt ihn in ihre violett-schwarzen Gewänder und breitet den Silberglanz der Sterne über ihn. Ich möchte ihn gerne einmal besichtigen, ein wenig von seinem verfallenen Zauber in mich aufsaugen. Am liebstem wäre ich dort mit …

Ich verjage diesen Gedanken sofort, aber das ist nicht einfach. Seit Stunden bemühe ich mich vergebens darum!

Wieso bin ich Mikael oder Vincent noch nie begegnet, wo sie doch auf dieselbe Schule gehen wie ich? Nach dem Konzert habe ich Genziana danach gefragt, und sie hat gemeint, dass sie immer für sich bleiben. Sie verbringen die Pause im alten Kreuzgang, wo eine Frauenstatue mit einer Taube steht. Ich war noch nie dort, aber jetzt sterbe ich vor Neugier.

»Wo ist der denn?«, habe ich Genziana gefragt.

»Östlich von der Haupttreppe, neben der Reihe Zypressen, die früher zu dem kleinen Friedhof der Mönche führte. Ich war nur einmal da, und das auch nur ganz kurz; in dem Teil der Schule bekomme ich eine Gänsehaut. Daran ist auch die Frau mit der Taube schuld. Ihr fehlt ein Arm, und sie sieht so traurig aus.«

Ich stelle mir Mikael vor, wie er mit melancholischem Gesichtsausdruck zu Füßen dieser Statue sitzt. Unvermittelt verlasse ich die Schaukel, die leise quietschend nachschwingt. Morgen will ich aus den Umzugskartons die Staffelei, die Leinwände und die Pinsel auspacken. Malen ist immer ein Ventil für mich gewesen, um mich abzureagieren. Aber seit wir umgezogen sind, stecke ich wohl in einer schöpferischen Krise.

»Du sprichst durch die Farben, genau wie dein Großvater. Der hätte dir gefallen, weißt du?«, hat Oma Evelyn eines Tages verträumt und mit Tränen in den Augen zu mir gesagt. Sie muss immer weinen, wenn sie von ihrer großen und einzigen Liebe spricht. Giulio, ein italienischer Maler, ein verkanntes Talent, zu jung gestorben, um eine bleibende Spur in den Kunstgeschichtsbüchern zu hinterlassen. Von ihm habe ich meine Liebe zur Malerei geerbt. An dem Tag hatte ich ihr ein Ölporträt geschenkt, das sie nachdenklich vor einem Fenster zeigt, mit den gleichen großen grauen Augen wie ich und dem Ausdruck von jemandem, der auf der Suche nach etwas ist, aber nicht so genau weiß, was das sein soll.

Ja, morgen werde ich wieder zu malen beginnen. Ich werde versuchen, den verlassenen Turm und seine gruselig-düstere Atmosphäre einzufangen, um nicht die Gefühle zu vergessen, die heute in mir toben. Ich werde sie für die Ewigkeit festhalten.