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Wie viele Tage sind inzwischen vergangen? Im Krankenhaus scheint man in einer völlig anderen, sich endlos ausdehnenden Zeit zu leben. Selbst eine einzelne Minute kann eine Ewigkeit dauern, wenn man auf etwas wartet, das nicht geschieht. Ich möchte, dass Marco die Augen aufmacht. Jetzt!
Ich möchte, dass er mich ansieht und mich mit seinem hellen Stimmchen begrüßt.
Aber er bewegt sich nicht, er wirkt, als sei er in einen schweren Schlaf versunken. Von seinen Armen hängen dünne Schläuche herunter. Fühlt er Schmerzen? Er hat Spritzen immer gehasst.
»Sobald es dir wieder gut geht, nehme ich dich ins Kino mit. Du hattest recht, der Trickfilm mit der kurzsichtigen Fledermaus ist toll. Du musst bald gesund werden, denn er wird nur noch wenige Tage im Kino laufen, sonst müssen wir warten, bis die DVD herauskommt.«
Ich warte, dass er mir antwortet, aber … keine Reaktion. Ich streichele seine Hand und beginne zu singen:
Kleine freche Sonne, scheine und trockne meinen Schmerz.
Das Lied, das ich immer für ihn gesungen habe, als er noch kleiner war und sich vor dem Einschlafen fürchtete.
Ich werd auch wieder glücklich lächeln, komm nur aus den Wolken, dann wein ich auch nicht mehr.
Das Lied, das er für mich gesungen hat, als es mir schlecht ging.
Kleine freche Sonne, lächle und wärme mir das Herz.
Ich dachte, ich hätte schon all meine Tränen verbraucht. Aber jetzt rollen sie wieder herunter und brennen heiß auf meiner Haut.
»Du bist doch schon ein großer Junge. Du kümmerst dich um mich, nicht umgekehrt … Wenn ich in meinem Zimmer verschwunden bin, um zu weinen, bist du immer unter einem Vorwand gekommen, um mich wieder aufzubauen. Und das könnte ich jetzt wirklich brauchen, weißt du? Bitte, wach auf. Lass mich nicht allein.«
Ich fühle mich so nutzlos. Trotz aller Liebe, die ich für ihn empfinde, kann ich nichts tun. Außer Warten und Beten.
Ich würde alles dafür geben, an seiner Stelle zu sein … Eigentlich müsste ich an diese Schläuche angeschlossen in dem Krankenhausbett liegen. Ich bin schuld, dass er hier liegt!
Meine Achtlosigkeit ist schuld.
Mein Egoismus ist schuld.
All die Male, die ich nur an mich selbst und meine eigenen Probleme gedacht habe, sind schuld.
Er wollte mich überraschen. Mir zeigen, dass er fähig ist, seine Ängste zu besiegen. Letztes Weihnachten haben wir ihm ein neues, leuchtend rotes Fahrrad geschenkt. Er hat es zärtlich berührt, hat es poliert, aber dann hat er nie den Mut gefunden, ohne Stützräder zu fahren. Wie oft habe ich ihn deswegen aufgezogen!
Dabei bin ich diejenige, die nicht genug Mut hat. Ich bin sogar unfähig, meine Gefühle zu leben. Ich habe alle enttäuscht …
»Scarlett, ich bin da.« Die Stimme meiner Mutter hinter mir. »Geh bitte nach Hause. Du musst dich dringend ein wenig ausruhen. Um vier kommt Papa, um mich abzulösen, und er wird dann die ganze Nacht bleiben.«
»Nein, ich rühre mich hier nicht weg.«
»Es hilft niemandem, wenn du so stur bist. So wirst du noch krank. Außerdem hast du das Brötchen, das ich dir dagelassen habe, nicht einmal angerührt.«
»Ich habe keinen Hunger. Ich muss hierbleiben. Falls er aufwacht …«
»Falls er aufwachen sollte, rufe ich dich sofort an. Und ich werde ihm sagen, dass du ihn in der ganzen Zeit keinen Augenblick allein gelassen hast.«
»Aber wenn ich nach Hause gehe, ist es noch schlimmer, begreifst du das nicht? Gestern Nacht war es die Hölle, von ihm getrennt zu sein. Ich bin wohl tausend Mal aufgestanden, um in sein Zimmer zu gehen, in der Hoffnung, dass ich ihn in seinem Bett finde, seinen Atem höre. Und dann ist mir eingefallen, dass er hier ist, und ich bin in Tränen ausgebrochen.«
Mama streichelt mich. Wie lange haben wir uns nicht mehr wirklich berührt!
»Ich weiß, es ist schwer. Ich verdanke es nur den Tropfen, die mir der Arzt gegeben hat, wenn ich zwischendurch ein paar Stunden schlafen kann. Wir müssen jetzt stark sein. Für Marco. Denk daran, wir sind eine Familie.«
Ich verberge mein Gesicht in ihrem Schoß und umarme sie heftig. »Ich wünschte, das Ganze wäre nur ein böser Traum«, flüstere ich.
»Geh und iss etwas, tu es für deine ewig nervende Mutter.«
Ich muss lächeln. »Okay, aber in der Bar hier unten.«
»Kannst du bitte Oma anrufen? Heute Morgen war ich etwas grob zu ihr. Es ist nur, wenn ich über Marco rede …«
»Das übernehme ich.« Ich werfe noch einmal einen Blick auf unser kleines schlafendes Dornröschen. Dann beuge ich mich hinunter und küsse ihn auf die verbundene Stirn. In einem Märchen wäre er bei meiner Berührung aufgewacht.