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Im Kino ist es dunkel. Erstaunlich, wie lebendig die Gestalten wirken, die sich über die Leinwand bewegen, und das nur dank der Brillen, die man am Eingang ausgeteilt hat. Ich habe noch nie einen 3D-Film gesehen. Am Anfang wurde mir ein wenig übel, aber dann habe ich mich daran gewöhnt. Caterina und Genziana lachen sich kringelig, während wir die Abenteuer einer Tierbande verfolgen, die sich für Menschen halten.

Auch Marco hat sich jedes Mal fast weggeschmissen vor Lachen, wenn im Fernsehen Trailer von dem Film gesendet wurden. Sein Lieblingstier ist die kurzsichtige Fledermaus: Ständig knallt sie beim Fliegen irgendwo gegen und sorgt für unendliches Chaos.

»Gehst du mit mir ins Kino, Scarlett?«, hat er mich mit seinen großen Hundeaugen angebettelt. Ich war gerade dabei, von meinem Platz am Fenster den Baum zu betrachten, der mir so ähnlich ist. Der mit den hoch erhobenen Ästen, der so aussieht, als ob er sich ergeben wollte. Noch nie habe ich mich so sehr wie er gefühlt wie in diesem Moment. Ich möchte um das kämpfen, was ich verloren habe, aber ich traue mich nicht. Meine Angst, dass Mikael nichts mehr von mir wissen will, hält mich davon ab, den ersten Schritt zu tun.

Wenn du mich darum bittest, aus deinem Leben zu verschwinden, werde ich im gleichen Moment fort sein. Und ich habe in meiner Angst und Wut einfach Ja gesagt.

Wie lang ist das jetzt her? Ein paar Wochen? Monate? Ich weiß es nicht, mir ist jedes Zeitgefühl abhandengekommen. Ich habe versucht, diesen Tag aus meinem Kalender zu löschen. Aber es schmerzt immer noch so stark, als wäre es gestern gewesen.

Ich werde mit Marco in diesen Film gehen. In letzter Zeit habe ich ihn zu oft enttäuscht, bin nicht auf seine kleinen Versuche eingegangen, meine Aufmerksamkeit zu erlangen, weil ich so in meine eigenen Probleme versunken war. Ich bin aber nicht absichtlich in seinen Film gegangen, die anderen haben mich buchstäblich mitgeschleppt. Sie versuchen mit allen Mitteln, mich aufzuheitern, auch wenn das schwer nach Mission impossible klingt.

Ich hab’s! Ich werde Marco nichts erzählen und nächsten Sonntag mit ihm ins Kino gehen. Mit den 3D-Brillen wird er sicher wahnsinnig viel Spaß haben.

»Oh nein!«, schreit ein Junge in der Reihe vor mir. Er lehnt sich zur Seite, wie um der bösen Eule auszuweichen, die die kurzsichtige Fledermaus verfolgt.

»Hey, du! Wir haben dich hierhergeschleppt, um dich abzulenken, aber ich habe dich noch kein Mal lachen hören!« Genziana stößt mich mit dem Ellenbogen an, und ich versuche, mehr bei der Sache zu sein. Los, setz dich gerade hin und Augen nach vorn! Auch Spaß zu haben scheint inzwischen nur noch eine Pflichtübung zu sein.

Um ihnen den Gefallen zu tun, versuche ich ein nicht gerade überzeugendes Lachen. Also wirklich, Scarlett, streng dich etwas mehr an!

»Das war toll! Ich möchte auch so eine süße Fledermaus haben!«, sagt Caterina, sobald der Abspann läuft.

»Du hast recht, die war wirklich niedlich!«

»Hallo!« Eine Männerstimme hinter uns. Es ist Tommaso, Caterinas Bruder. Ich habe ihn schon länger nicht mehr getroffen, er sieht noch attraktiver aus als beim letzten Mal. Bei ihm ist ein Junge in seinem Alter.

»Was machst du denn hier? Ist das nicht nur was für kleine Kinder?«, zieht ihn Caterina auf.

»Mädchen stehen nun mal auf dumme kleine Tierchen«, erwidert Tommaso mit einem anzüglichen Lächeln.

»Ach, du bist unverbesserlich! Du kommst also hierher, um Mädels abzuschleppen?«

»Hallo, Scarlett. Ich muss meiner Schwester sagen, dass sie dich öfter zu uns nach Hause einladen soll. Als ich in eurer Jahrgangsstufe war, hatten die Lehrer es immer schrecklich mit Gruppenarbeit: Gibt es das bei euch nicht?«

»Weißt du was? Erst letzte Woche haben wir so etwas gemacht, als du in der Uni warst. Was denkst du denn? Ich lade meine Freundinnen doch nur zu mir nach Hause ein, wenn ich sicher bin, dass du nicht da bist«, zischt Cat ihn an.

»Wollen wir endlich gehen?«, fragt Genziana, die diesmal nicht im Mittelpunkt steht.

»Wohin?«, fragt Tommaso nach.

»Zu Gegè, der macht die beste Pizza in der Stadt.«

»Zu diesem Blödmann? Wir könnten doch auch ins Blue Velvet gehen.«

Caterina und Genziana schauen mich beide an. Sie wissen, dass das eins von Mikaels Stammlokalen ist, auch wenn ich ihnen keine Einzelheiten erzählt habe.

»Das kommt nicht infrage, ich habe Hunger! Macht, was ihr wollt, aber wir gehen zu Gegè.« Bei solchen Gelegenheiten bewundere ich einfach Genzianas Coolness.

»Was meinst du, Francesco, wollen wir die Mädels begleiten?«

»Ich denke, das ließe sich einrichten.«

Plötzlich fällt mir ein, dass ich während der Vorstellung das Handy ausgeschaltet hatte. Ich schalte es wieder ein und stelle überrascht fest, dass es endlos piept.

»So viele SMS! Du bist aber gefragt, Scarlett!«

»Das sind keine SMS … Das sind Benachrichtigungen über verpasste Anrufe.« Papa hat die ganze Zeit versucht, mich zu erreichen! Das verstehe ich nicht, er ruft mich sonst nie an … Es muss etwas passiert sein. Meine Hand zittert, als ich versuche, ihn zurückzurufen.

Keine Antwort.

»Los, Scarlett, gehen wir. Du kannst es ja später noch mal versuchen.«

Zum Glück liegt Gegès Pizzeria, wo man Pizzastücke auf die Hand kaufen kann, gleich um die Ecke. Es ist tierisch kalt!

Die Hitze des Holzkohleofens und der Duft der frisch gebackenen Pizza wecken meine Lebensgeister wieder.

»Für mich mindestens zwei Stücke. Natürlich mit Artischocken, und dann … hmm …« Genziana ist unentschlossen.

»Jetzt mach schon, erst drängst du dich vor, und dann brauchst du ewig!«, beklagt sich Caterina.

Ich versuche erneut, meinen Vater anzurufen. Vergeblich.

Während ich in meine Pizza Margherita beiße, setze ich mich auf einen Hocker vor die alten Kinoplakate, mit denen das Lokal dekoriert ist. Denn sie wissen nicht, was sie tun. James Dean starrt mich mit einem Blick an, der zwischen Zärtlichkeit und Melancholie schwankt.

Derselbe Ausdruck wie bei Mikael.

Derselbe Ausdruck wie bei unserer letzten Begegnung.

Das Handy klingelt in meiner Tasche. Es ist Papa.

»Hallo?«

»Hör mal, Scarlett, versprich mir bitte, dass du jetzt ganz ruhig bleibst …«

»Was ist passiert? Geht es dir gut? Geht es euch allen gut?«

»Schatz, du müsstest zu uns ins Krankenhaus kommen.«

»Ins Krankenhaus? Sag mir, was passiert ist!«

»Ich bitte dich, darüber möchte ich nicht am Telefon sprechen. Komm lieber her.«

»Ist was mit Mama?«

»Nein, Mama geht es gut.«

»Oh, mein Gott … Marco? Ist Marco was passiert?«

Schweigen am anderen Ende der Leitung.

Die Pizza rutscht mir aus der Hand. Rote Tomatensoße breitet sich auf dem Boden aus.

»Es hat einen Unfall gegeben …«

Ich bringe kein Wort heraus. Bin wie gelähmt.

»Scarlett! Was ist los? Alles in Ordnung?« Viele Stimmen reden auf mich ein.

»Ich muss ganz schnell ins Krankenhaus«, bringe ich gerade noch unter Schluchzern heraus.

»Ganz ruhig, ich hab das Auto ganz in der Nähe geparkt. Gehen wir«, schlägt Tommaso vor.

»Wir kommen mit.« Genziana packt mich am Arm und führt mich zum Ausgang.