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Ich muss mit dir reden«, schreit Umberto, um die Musik zu übertönen.
»Nicht jetzt«, erwidere ich.
»Wissen deine Eltern, dass du hier bist?«
Darauf entgegne ich nichts, das würde nichts bringen. Ich werfe noch schnell einen Blick zu Ofelia hinüber, dann folge ich ihm mit gesenktem Kopf. Dieses Mal ist das Durchqueren der Tanzfläche ein einziger Kampf. Ein Meer von wogenden Körpern, die tanzen, schubsen, drängen, und so fange ich mir einen Tritt und diverse Ellenbogenstöße ein. Umbertos Miene verheißt nichts Gutes. Angst schnürt mir die Kehle zu.
Darf ich nicht mal meinen Lieblingssong in Ruhe genießen? Ich hätte es so dringend gebraucht, mich kurz aus der Wirklichkeit auszuklinken! Die Probleme scheinen wie Jagdhunde hinter mir herzuhetzen, und ich als das winzige Beutetier renne und renne und schaffe es doch nicht, ihnen zu entkommen.
Wir finden hinter einer hölzernen Trennwand Zuflucht, in dem fast leeren Gang, der zur Toilette führt, wo nur wenig los ist.
»Was gibt es denn so Wichtiges?«, frage ich barsch. Ich habe beschlossen, dass jetzt Schluss ist mit den Freundlichkeiten.
»Ich hatte dich doch vor Mikael und seiner Band gewarnt. Was machst du hier?«
»Dasselbe könnte ich dich fragen!«
»Ich wusste, dass du kommen würdest …«
»Und seit wann überwachst du mich?«
»Seit ich Angst habe, dass dir etwas Schlimmes zustoßen könnte.«
»In letzter Zeit haben anscheinend alle Angst um mich. Ich bin durchaus in der Lage, auf mich selbst aufzupassen!«, sage ich und wende mich schnell ab, fest entschlossen, diese Unterhaltung abzubrechen. Es ist doch immer das Gleiche mit Umberto.
Er packt mich am Handgelenk und hält mich gewaltsam zurück.
»Hey! Du tust mir weh … Was ist denn in dich gefahren?«
»Hör mir zu, Scarlett. Ich habe … ein wenig nachgeforscht.«
»Was?«
»Ich mache mir Sorgen um dich, deshalb habe ich beschlossen, mich ein wenig umzuhören und deinen tollen Freunden ein wenig hinterherzuspionieren. Was gar nicht so einfach ist, manchmal scheinen die sich einfach in Luft aufzulösen …«
»Was hast du gemacht?! Bist du jetzt total durchgeknallt?«
»Lass mich ausreden. Dann kannst du selbst entscheiden, ob ich übertreibe.«
»Okay.« Ich gebe auf, auch wenn ich spüre, wie sich allmählich immer mehr Wut in mir aufbaut.
»Mikael, Vincent und Ofelia; keiner von ihnen hat eine Familie. Sie sagen, dass die Eltern der beiden Cousins bei demselben Flugzeugunglück ums Leben gekommen sind, aber keiner weiß etwas Genaues darüber. Jetzt leben sie mit einer älteren Frau zusammen, vielleicht ihrer Großmutter. Eine sehr scheue Frau, es heißt, sie sei von Geburt an taub.«
Ich mache den Mund auf und versuche, etwas zu erwidern, aber er fährt mir dazwischen. »Bitte lass mich ausreden. Das ist ja erst der Anfang der Merkwürdigkeiten. Ofelia ist Waise, über ihre Vergangenheit weiß man wenig bis gar nichts. Anscheinend hat sie ein reicher Unbekannter aus einem Waisenhaus in Prag oder noch weiter im Osten adoptiert. Jetzt lebt sie in einer Renaissancevilla am Waldrand und hat als einzige Gesellschaft ein Haushälterehepaar, die beiden sind so grimmig und ihr so treu ergeben wie zwei Rottweiler. Und stell dir vor, was mit ihrem gesetzlichen Vormund ist? Den hat niemand je zu Gesicht bekommen. Er bezahlt bloß das Schulgeld und den Lohn für das Personal. Kommt dir das nicht zumindest merkwürdig vor?«
Einen Moment lang bin ich sprachlos. Ich fühle mich überrollt. Mikael, Vincent und Ofelia, alle drei Waisen.
»Woher weißt du das alles?«
»Wenn ich etwas herausbekommen möchte, kann ich sehr hartnäckig sein, das solltest du allmählich wissen. Edoardos Tod hat mich zum Nachdenken gebracht. Von einem Moment auf den anderen können wir die Menschen verlieren, die wir lieben, und ich kann nicht zulassen, dass dir etwas Schlimmes passiert.«
»Du hast in ihrem Leben herumgeschnüffelt, du hast sie beschattet … Wie konntest du nur?«
»Das habe ich für dich getan, wieso willst du das nicht einsehen? Was muss ich denn noch tun, um dir zu beweisen, wie wichtig du mir bist?« In seinen Augen brennt ein Feuer, das ich vorher noch nie gesehen habe.
Er streicht mir zärtlich übers Gesicht, und ich sehe ihn an, immer noch völlig verwirrt von seinen Worten. Dann beugt er sich herunter und versucht, mich zu küssen. Sobald seine Lippen meine berühren, reiße ich mich aus meiner Lähmung, und mein Zorn entlädt sich mit Wucht.
»Nein!«, schreie ich. Ich stoße ihn zurück und flüchte in Richtung Toiletten.
»Mikael Lancieri verbirgt ein Geheimnis und ich werde es dir beweisen!«, schreit er mir hinterher.
Ich möchte die drängenden Stimmen in meinem Kopf zum Schweigen bringen. Er verbirgt ein Geheimnis, alle sind Waisen, die Eltern sind bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen, keiner hat ihn je zu Gesicht bekommen, Geheimnis … Geheimnis … Geheimnis.
Es reicht! Ich spritze mir Wasser ins Gesicht und wasche mir den Lippenstift und die Spuren des unerwarteten Kusses ab. Ich versuche, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch die Emotionen sind zu stark, am liebsten würde ich losschreien.
Stattdessen bleibe ich vor dem Spiegel stehen, aus dem mir mein verletztes Ich entgegenblickt. Spuren von verschmiertem Rot um den Mund, feucht schimmernde Augen.
Geheimnis … Geheimnis … Geheimnis.
Umbertos Worte schwirren wie ein Schwarm dunkler Falter durch meinen Kopf. Das unvermittelte, verzweifelte Geständnis seiner Liebe. Ich habe sofort wieder Caterina vor Augen. Und dann schieben sich Mikael, Vincent und Ofelia davor. Alle drei sind Vollwaisen. Kommt dir das nicht zumindest merkwürdig vor? Ich muss mich beruhigen. Ich werde mit Mikael sprechen, er braucht mich nur anzusehen, und schon geht es mir wieder gut.
Die Toilettentür fliegt auf. Drei Mädchen im Glitterlook bauen sich vor mir auf. Lavinia sieht mich herausfordernd an. »Was macht denn so ein Unschuldsengel wie du noch so spät abends unterwegs?«
Das ertrage ich nicht, nicht ausgerechnet jetzt. Ich versuche, mich an ihnen vorbei zum Ausgang zu drängen, aber Sofia versetzt mir einen Stoß und schubst mich damit zu Lavinia hinüber. »Mikael spielt doch bloß mit dir, aber mit mir ist es ihm ernst.« Ihr süßliches Parfüm trifft mich wie ein Schlag ins Gesicht. Maiglöckchen und Vanille. »Schau doch, was er gestern mit mir angestellt hat«, sagt sie. Sie schiebt den Kragen ihrer Tüllbluse herunter und zeigt mir einen Knutschfleck. Mit einem hämischen Lachen gibt sie mir den Weg frei. »Die Ärmste, das hat sie aber getroffen! Tja, das ist eben nichts für Kinder«, legt sie noch nach.
Ich renne los, die stickige Luft im Saal raubt mir den Atem. Schweiß, Adrenalin, sich überlagernde Atemausdünstungen, der künstliche Geruch von Deos und das süße Aroma der Cocktails. Menschen versperren mir den Fluchtweg, mit gesenktem Kopf dränge ich mich vorwärts. Ich muss hier raus, ich bekomme keine Luft mehr! Tränen brennen in meinen Augen.
Ein Ellenbogen trifft mich in den Magen. »Entschuldigung, lasst mich bitte durch!«
»Pass doch auf!«, schreit ein Mädchen.
Ein letzter Blick auf die Bühne. Your tears like glittering snowflakes, I feel your sorrow in my veins, deine Tränen glitzern wie Schneeflocken, ich spüre deinen Schmerz in meinen Adern.
Wütend schaue ich noch einmal zu Mikael. Dann rette ich mich verletzt hinaus in die Nacht. Endlich kann ich frei durchatmen. Ich halte einen Schrei zurück. Draußen schüttet es wie aus Eimern. Meine Tränen vermischen sich mit denen des Himmels. Ein Blitz zerreißt das schwarze Tuch, das diese mondlose Nacht einhüllt. Ich möchte verschwinden, und zwar sofort! In diesem Sturzregen. Ich möchte verschwinden und keinen Schmerz mehr spüren.