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Die große Pause sorgt für einen Moment Ruhe in der Hektik dieses emotionsgeladenen Vormittags. Caterina hat ihr Versprechen gehalten, das sie Umberto gegeben hatte, und sich auf jede erdenkliche Weise darum bemüht, dass ich mich wohl und angenommen fühle. Zwischen den Stunden hat sie keine Gelegenheit ausgelassen, mich neuen Leuten vorzustellen. All diese unbekannten Namen wirbeln nun durch meinen Kopf, zusammen mit den Namen der Lehrer und all den neuen Informationen, die ich noch nicht verdaut habe. Ich hoffe, dass ich mich an alle Namen erinnere und sie nicht durcheinanderbringe.

Fassen wir noch mal zusammen: Genziana ist das Mädchen mit der wilden roten Mähne. Sie hat zwei Dreadlocks, die sich in der Masse ihres karottenroten Haares verlieren. Die hat sie sich selbst mit der Häkelnadel gemacht, und sie stehen für die beiden geliebten Menschen in ihrem Leben: ihren Vater und die kleine Schwester. Nach ihrer Mutter habe ich sie nicht gefragt; da sie von sich aus nichts erzählt hat, schien mir das nicht angebracht. Sie ist sehr sympathisch und wirkt, als sei sie einem Dokumentarfilm aus den Siebzigern entsprungen: sportliche Figur, Sommersprossen über das ganze Gesicht und schmale grüne Augen. Sie spricht ebenso selbstverständlich über kosmische Energie wie über den Italienischlehrer oder eine Mathearbeit, sie ist Vegetarierin und glaubt fest daran, dass die Sterne unseren Alltag beeinflussen. Sie hat gesagt, dass mein Sternzeichen, Widder, ein Feuerzeichen ist. Vielleicht bin ich deswegen so impulsiv und starrköpfig; wenn ich an etwas glaube, dann bin ich sofort Feuer und Flamme dafür, und nichts kann mich davon abbringen. Da bin ich genauso stur wie meine Mutter, die Löwe ist, auch ein Feuerzeichen.

»Feuer und Feuer, da sprühen die Funken«, hat sie lächelnd erklärt und damit, ohne es zu wissen, bildlich die Situation zwischen meiner Mutter und mir beschrieben. Dann hat sie noch gemeint, dass Schüchternheit und die Sensibilität, die man mir anmerkt, typisch für Luftzeichen wären und bestimmt mit meinem Aszendenten zusammenhängen.

»Ich habe keine Ahnung, was mein Aszendent ist«, musste ich zugeben.

»Du kennst deinen Aszendenten nicht? Wie ist das möglich? Der Aszendent, oder auch der aufgehende Grad, ist das, was allgemein als ›erster Eindruck‹ bezeichnet wird. Der ist von grundlegender Bedeutung! Oder um es einfacher zu sagen, er entscheidet darüber, wie dich die anderen wahrnehmen. Wir müssen unbedingt deine Wissenslücken füllen!«

Sie hat mir versprochen, mir in den nächsten Tagen dabei zu helfen, ihn zu errechnen, und außerdem noch Mond, Sonne und einen Haufen anderer komplizierter Dinge, die an meinem Geburtstag »im Haus« gestanden hätten, wie sie das nennt.

Dann gibt es da noch Pietro mit dem gutmütigen Blick, groß, dick und schweigsam, und Lorenzo, den Schönling der Klasse, auch wenn er nicht mein Typ ist. Er ist Stürmer in der Schulmannschaft, hat tiefschwarze Augen und Haare und Schultern wie eine griechische Statue. Dann habe ich noch Laura kennengelernt, Loredana und schließlich Livio.

Livio ist dieses Jahr neu ans San Carlo gekommen, genau wie ich. Er ist schüchtern und hat ein paar Pickel zu viel. Seine Augen versteckt er hinter einer rechteckigen Brille, und auf den ersten Blick wirkt er wie der klassische Streber, der von den anderen nicht akzeptiert wird. Aber das ist nur ein erster, oberflächlicher Eindruck. Ich selbst würde total sauer werden, wenn man mich nur nach so einer spontanen Momentaufnahme beurteilen würde.

Livio hat sich von Unterrichtsbeginn an immer abseitsgehalten, daher habe ich ihn als Erste angesprochen, was ich normalerweise nie tue. Ich habe versucht, freundlich zu ihm zu sein, obwohl er so ein merkwürdiges T-Shirt trägt. Ständig wurden meine Augen von der Aufschrift in riesigen Großbuchstaben angezogen: I’M AN ONLY CHILD …

»Ach, du bist also Einzelkind?«, habe ich gefragt, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

Er schien überrascht und starrte mich nur mit einem unergründlichen Gesichtsausdruck an. Daher habe ich auf sein T-Shirt gezeigt.

»Ach so …« Er hat ein paar Sekunden überlegt und dann geantwortet: »Ja.«

»Das ist also auch dein erster Tag«, habe ich hastig weitergeredet.

»Ja.« Mein guter Wille stand in offensichtlichem Gegensatz zu seiner Unfähigkeit, eine Unterhaltung aufrechtzuerhalten. Daher habe ich aufgegeben, ihn nur noch angelächelt und den Daumen gehoben, um auszudrücken: »Das wird schon!« Darauf hat er als Antwort ebenfalls den Daumen hochgestreckt und mir den Rücken zugedreht. Erst da habe ich bemerkt, dass die Schrift auf der Rückseite des T-Shirts weiterging: … I KILLED MY BROTHERS.

Da musste ich laut lachen. T-Shirt hin oder her, ich verstehe Livio und kann mir vorstellen, wie einsam er sich fühlen muss.

Wir sitzen unter einer großen Eiche und genießen die Pause. Der Baum ist riesig und hat eine mächtige Krone, seine dicht belaubten Äste hängen tief herunter und hüllen uns ein wie ein Vorhang aus grünen Haaren. Genziana isst irgendetwas Undefinierbares aus Soja, Caterina und ich haben uns einen süßen Snack aus einem der Automaten gezogen. Meiner schmeckt gar nicht mal schlecht, er ist weich und mit Kirschmarmelade gefüllt.

»Diesen Sommer habe ich einen Jungen kennengelernt.« Genziana lächelt anzüglich, beißt sich auf die Lippen und pickt mit dem Zeigefinger die Krümel ihres Imbisses auf. »Er heißt Elia und kommt aus der Schweiz. Blond, blaue Augen, also genau mein Typ. Wir haben uns auf einem Strandfest kennengelernt, in dem Strandbad neben dem FKK-Strand.« Hier unterbricht sie ihre Erzählung und lächelt wieder so anzüglich.

»FKK? Also so ein Strand, wo man ohne …« Caterina wird rot und beendet ihre Frage nicht.

»FKK wie Freikörperkultur. Wir kommen nackt auf die Welt, und es ist nichts Schlimmes an der Harmonie eines menschlichen Körpers. Erst seine Kommerzialisierung durch die Medien führt zu einer verzerrten Wahrnehmung von Nacktheit.«

»Kann schon sein, aber ich schäme mich sogar im Badeanzug. Da muss man schon sehr selbstsicher sein, um sich so zu zeigen, wie Mutter Natur einen geschaffen hat.«

»Das kommt alles nur daher, weil alle einem perfekten Ideal nachstreben, das im Fernsehen und in den Hochglanzmagazinen präsentiert wird. Dieses Modell will die Originalität und die typischen Eigenheiten von jedem von uns einebnen, um Schönheit auf ein einziges Raster zu reduzieren: große Titten, pralle Lippen und eine kleine Nase. Und außerdem habe ich bloß gesagt, dass es in der Nähe von einem FKK-Strand war, und dann ist die Fantasie mit euch durchgegangen.«

»Meine Fantasie ist heute Vormittag schon genug strapaziert worden und hat sich daher keinen Zentimeter von der Stelle bewegt«, meine ich dazu.

Da müssen wir alle gemeinsam lachen. Genziana hat recht: Wie gern wäre ich zufrieden mit meinem Aussehen, wie gern würde ich mich voll und ganz so akzeptieren, wie ich bin, und meine Unvollkommenheiten einfach ignorieren.

»Aber jetzt wieder zu Elia. Supersüß, intelligent. Das war Liebe auf den ersten Blick. Glaubt ihr an die Liebe auf den ersten Blick?«, fragt Genziana verträumt.

»Ich glaube eher an ein Gefühl, das jeden Tag wächst, und zwar mit gegenseitiger Achtung und Respekt. Für mich muss Liebe nicht unbedingt mit Aufregung und Gefühlsstürmen einhergehen; ich sehe sie eher wie ein Nest, in dem man sich wohlfühlen kann, sicher, beschützt und geliebt«, sagt Caterina.

»Wenn es so wäre, würde das ja bedeuten, dass du dir den Mann zum Lieben mit dem Kopf und nicht mit dem Herzen aussuchst.«

»Wenn ich es mir wirklich aussuchen könnte, wen ich lieben möchte, würde ich nicht ein Jahr darauf warten, von jemandem bemerkt zu werden, dem anscheinend noch nicht mal aufgefallen ist, dass ich ein Mädchen bin«, seufzt Caterina.

»Dann bist du also doch verliebt!«, ruft Genziana aus und setzt sich begeistert auf.

»Kann schon sein, aber ich werde euch niemals sagen, wer es ist! Fragt mich also erst gar nicht.« In einer komischen pantomimischen Darstellung tut Caterina so, als würde sie sich die Lippen zusammennähen.

»Oje, jetzt sind ihre Lippen versiegelt. Sie kann nicht mehr reden. Was sollen wir bloß machen, Scarlett?«, witzelt Genziana.

Ich bin froh, dass sie mich nichts zu dem Thema gefragt haben. Ich habe schweigend zugehört und gehofft, dass sie mir keine direkten Fragen stellen. Offen gesagt macht dieses ganze Gerede über die Liebe mich verlegen, ich habe kaum Erfahrungen auf dem Gebiet. Oder besser gesagt, gar keine. Und das nicht etwa, weil ich keine Gelegenheit dazu gehabt hätte. Mein Problem ist einfach, dass ich viel zu sehr an die Liebe glaube und immer warten wollte, bis ich wirklich verliebt bin, selbst für den ersten Kuss. Bis die Lage ganz vertrackt wurde.

Mit Matteo hat mich immer ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit verbunden. In Cremona war er mein bester Freund, mein Vertrauter. Wenn ich mit meiner Mutter gestritten hatte oder wenn ich Oma Evelyn zu sehr vermisst habe und in der Schule alles schiefging, wusste ich, dass ich auf ihn zählen konnte. Ein Wort oder eine Umarmung von ihm genügte, und schon kam alles wieder ins Lot. Ich weiß nicht wie viele alte Schwarz-Weiß-Filme wir uns am Nachmittag auf seinem weißen Sofa, das so weich wie eine Sommerwolke war, reingezogen haben, anstatt zu lernen. Und was haben wir für Diskussionen geführt über den Sinn des Lebens, ohne je zu einem Ende zu gelangen …

Matteo, Manuela und ich, die unzertrennlichen Freunde. »Forever friends« haben wir uns eines Tages geschworen. Wir haben unsere kleinen Finger ineinander verhakt, um unseren Schwur zu bekräftigen, und dazu aus vollem Hals eine etwas abgewandelte Version dieses wunderschönes Songs gegrölt: »Forever friends, we want to be forever friends …«

Wer weiß, ob wir trotz allem wirklich Freunde bleiben. Oder ob die Entfernung das Band zwischen uns zerreißen wird und alle Versprechungen sich auflösen wie Tränen im Regen.

Ich habe diese Szene wieder vor Augen, sie läuft wie in Zeitlupe vor mir ab. Der letzte Schultag, die letzte Stunde beendet vom letzten Klingeln. Die Schule ist aus, und die Sommerferien fangen an! Und ich habe noch keine Ahnung, was mir mein Vater ein paar Stunden später über den Umzug erzählen wird.

»Ich muss mit dir reden«, hatte Matteo gesagt.

Wir warteten, bis unsere Mitschüler und ihr fröhliches Stimmengewirr verschwunden waren. Dann war der Physiksaal leer, und wir standen ganz allein zwischen Messgeräten und Reagenzgläsern, den stummen Zeugen von etwas, das ich niemals erwartet hätte.

»Was hast du mir denn so Wichtiges zu sagen? Hast du dich als freiwilliger Entwicklungshelfer für Afrika gemeldet, oder hast du dich endlich entschieden, per Anhalter durch ganz Europa zu trampen?«, fragte ich. Doch dann erstarb das Lächeln auf meinen Lippen, als ich seinen ernsten, beinahe besorgten Gesichtsausdruck sah.

»Ich glaube, dass ich mich in dich verliebt habe.«

Ich stand wie vom Donner gerührt da und brachte kein Wort heraus. Er kam näher und hielt wenige Zentimeter vor meinen Lippen inne. Ich stand immer noch völlig reglos da, vollkommen unfähig zu reden, ja sogar zu atmen. Ja, ich habe tatsächlich die Luft angehalten, bis seine Lippen sich sanft auf meine legten. Ein hingehauchter Kuss, wie eine schüchterne Liebkosung.

»Denk darüber nach …«, sagte er. Dann verließ er den Raum und ließ mich zwischen Zweifeln und Ungewissheit, zwischen Thermometern und Messgeräten stehen.

In mir ging alles durcheinander. Matteo war immer mein bester Freund gewesen, fast wie ein großer Bruder, auch wenn er bloß ein paar Monate älter ist als ich. Sein plötzliches Geständnis so kurz vor dem Umzug war wie ein Tiefschlag des Schicksals, und auch heute kann oder will ich meine Gefühle nicht näher analysieren. Deshalb habe ich gar nicht mehr versucht, mit ihm zu reden. Nicht mal am Telefon. Er genauso wenig, vielleicht fühlte er sich zurückgewiesen oder es war ihm peinlich. Es ist also dabei geblieben, bei diesem Moment im Physiksaal, und seitdem herrscht Funkstille. Ich habe Manuela gebeten, ihm zu sagen, dass ich umgezogen bin. Ich weiß, manchmal bin ich einfach feige.

»Scarlett, bist du da?« Das ist Genziana.

Ich schüttele die Betäubung ab. »Entschuldigt, ich war … in Gedanken woanders.«

»Gib’s zu, du hast dich so darüber gefreut, dass du dir nicht mehr Caterinas Geschwätz anhören musst, dass du ganz in die meditative Betrachtung der Stille versunken bist!«

Caterina geht auf diese Spitze gar nicht weiter ein, sie hebt nur stumm die Hände und verweist darauf, dass ihre Lippen versiegelt sind.

»Hallo Mädels! Na, amüsiert ihr euch?«, mischt sich Umberto von hinten in unser Gespräch, und Caterina, die hier nicht mit ihm gerechnet hatte, wird auf einmal rot wie eine Tomate. »Na klar! Und du?«, flötet sie.

»Ja, alles super, sieht man das nicht?«

»Waren deine Lippen nicht gerade noch versiegelt?«, stichelt Genziana.

Caterina tut so, als hätte sie nichts gehört, und schlägt die Beine sittsam übereinander.

»Und Cat, ist Mathe für dich immer noch Ansichtssache?«, fragt Umberto und zeigt dazu sein schönstes Lächeln.

Caterina stammelt: »Nach deinen Nachhilfestunden bin ich deutlich besser geworden.«

»Gut. Dann kann ich ja, wenn sich meine Zukunftspläne zerschlagen, immer noch eine Karriere als Privatlehrer anstreben.«

»Und du kannst immer auf eine treue Kundin zählen«, sagt Genziana.

Caterina kneift sie in den Arm.

»Scarlett, möchtest du gern noch weitere ›Wunder‹ von San Carlo besichtigen? Sagen wir … morgen in der Pause?«

Da mich Umbertos Vorschlag unvorbereitet trifft, werde diesmal ich rot. »Okay«, sage ich.

Zum Glück ertönt jetzt die Klingel und erlöst mich aus der Verlegenheit. Umberto verabschiedet sich von uns, und wir drei gehen Richtung Klasse. Caterina ist wieder schweigsam geworden.