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Seit zwei Tagen kommt sie nicht aus ihrem Zimmer. Sie isst kaum etwas, sagt kein Wort, und ihre Augen sind immer ganz verquollen. So kann das nicht weitergehen!«

»Schatz, Scarlett hat ein traumatisches Erlebnis gehabt und braucht Zeit, um sich davon zu erholen.«

»Das weiß ich doch. Aber sie muss sich einen Ruck geben. Ich habe keine Ahnung, was ich noch mit ihr machen soll. Geh du zu ihr und rede mit ihr: Vielleicht entschließt sie sich ja bei dir, den Mund aufzumachen, und vertraut sich dir an. Das würde ihr guttun. Außerdem gefällt es mir nicht, dass sie diese Pillen zum Schlafen nimmt.« Die Stimme meiner Mutter hallt durchs Haus. Papa hingegen redet leise, und wenn ich nicht auf der obersten Stufe im Flur hocken würde, könnte ich ihn nicht verstehen. Barfuß wie ich bin, gibt mir der kalte Boden das Gefühl, am Leben zu sein. Und genau das brauche ich jetzt.

»Pillen kann man das wohl kaum nennen. Das ist nur Baldrian … ein Naturprodukt, das mir der Arzt empfohlen hat.«

»Ich habe dich nur gebeten, kurz mit deiner Tochter zu reden. Das ist bestimmt nicht zu viel verlangt.«

»Ich habe eine Sitzung, und sie schläft noch. Es ist noch nicht einmal sieben Uhr …«

»Was ist wichtiger, die Sitzung oder das Wohl deiner Tochter?«

»Okay. Ich schaue nach, ob sie wach ist, aber versuch du bitte, dich zu beruhigen. Sie braucht nur ein wenig Zeit.«

Papas Schritte. Auf Zehenspitzen laufe ich in mein Zimmer und schlüpfe hastig unter die Bettdecke. Ich mache die Augen zu und gebe vor zu schlafen.

Er öffnet die Tür einen Spalt und bleibt eine Zeitlang reglos so stehen. Ich spüre seine Augen auf mir. Er überlegt, was er tun soll, dann kommt er auf Zehenspitzen näher und streicht mir über die Haare. Ich habe ein so dringendes Bedürfnis nach etwas Zärtlichkeit, dass mir die Tränen in die Augen steigen. Deshalb drehe ich mich um und ziehe mir die Decke bis über die Ohren.

Papa beugt sich über mich und küsst mich auf die Stirn. »Ich hab dich lieb, meine Kleine«, flüstert er. Ich würde ihm gern sagen, dass ich gar nicht schlafe. Aber mein Herz tut mir zu weh.

Meine Eltern sind dagegen, dass ich die Nachrichten im Fernsehen sehe, deshalb habe ich mir im Internet Informationen zu Edoardos Tod zusammengesucht. Es heißt, dass man das Motiv noch nicht kennt, aber Tiziano, ein Freund von Papa, der bei der Polizei arbeitet, hat ihm anvertraut, dass es sich um einen gewaltsamen Tod handelt. Er hat von etwas Seltsamem, Unerklärlichem gesprochen, aber dann hat er hastig hinzugefügt, dass er selbst nicht mit dem Fall befasst ist und dass es nur Gerüchte sind. Darüber haben sie gestern Abend geredet. Er ist vorbeigekommen, um sich bei Papa nach meinem Gesundheitszustand zu erkundigen, nachdem er erfahren hatte, was in der Bibliothek passiert ist, einschließlich meines Nervenzusammenbruchs. Auch da saß ich auf der obersten Stufe und habe barfuß und stumm alles angehört.

Als die Türklingel geht, fahre ich unwillkürlich zusammen. Zum Glück ist Papa schon wieder weg, ich höre seine Schritte auf der Treppe. Es ist sieben Uhr, wer kann das um diese Zeit sein?

Ich stütze mich auf meine Ellenbogen und lausche. Ein mehrstimmiges »Guten Morgen«.

»Wir sind in Scarletts Klasse«, sagt eine fröhliche Stimme. »Wir machen uns Sorgen um sie. Wie geht es ihr?«

»Ja, genau, sie lässt sich seit Tagen nicht in der Schule blicken.«

Ich erkenne die Stimmen von Genziana und Caterina, und mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Meine Mutter flüstert etwas, sicher erzählt sie ihnen, dass ich nicht aus meinem Zimmer komme, kaum etwas esse und mich niemandem anvertraue. Bestimmt sagt sie auch: »Sie ist genauso stur wie ihr Vater.« Und dann noch leiser: »Denkt euch, außer einem langen Telefongespräch mit ihrer Großmutter wollte sie mit niemandem reden.« Simona wird gern melodramatisch, wenn sie damit die Aufmerksamkeit auf sich ziehen kann. Und was meinen Vater betrifft, der nutzt das allgemeine Chaos, um unauffällig das Haus zu verlassen.

»Hallo! Ich bin Marco«, mischt sich eine Kinderstimme ins Gespräch. Ich sehe ihn vor mir, wie er in seinem himmelblauen Schlafanzug auf der Treppe steht, mit verschlafenen Augen und abstehenden Haaren, als wäre ihm ein Böller direkt auf dem Kopf explodiert. Er muss die unbekannten Stimmen gehört haben, und neugierig wie er ist, war er daraufhin schlagartig wach.

Jetzt wird eifrig diskutiert, aber so leise, dass ich nichts verstehe. Dann höre ich den Kleinen sagen: »Ich bringe euch zu ihr.« Oh nein! Sie kommen die Treppe herauf, und bei Genziana wird es nicht reichen, dass ich mich schlafend stelle, die werde ich garantiert so schnell nicht los. Aber ich versuche es trotzdem, ich ziehe mir die Decke bis über die Ohren und kneife die Augen zusammen.

»Hallo, Scarlett! Du brauchst gar nicht so zu tun, als würdest du noch schlafen, ich weiß, dass du bei dem ganzen Durcheinander aufgewacht sein musst!« Genziana wirft sich auf das Bett.

»Darf ich?«, fragt Caterina schüchtern.

Und der kleine Marco lacht sich ins Fäustchen. Das wird er mir büßen.

»Hallo«, sage ich mit absichtlich verschlafener Stimme und tauche unter der Decke auf. »Was macht ihr denn hier?«

Cat setzt sich auf die Bettkante, während Genziana sich buchstäblich auf mich gelegt hat. »Du solltest dich jetzt anziehen und zum Frühstück herunterkommen, wenn du uns nicht auf dem Gewissen haben willst. Weißt du eigentlich, um welche Uhrzeit wir aufgestanden sind, um so früh hier zu sein? Ich war noch so verschlafen, dass ich erst jetzt gemerkt habe, dass ich zwei unterschiedliche Strümpfe angezogen habe …«

»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Wie geht es dir?«

Genziana lässt mir keine Zeit für eine Antwort. »Das ist wirklich eine schlimme Sache, es tut mir wirklich leid um deinen Freund. Aber jetzt müssen wir etwas Wichtiges mit dir bereden.«

»Genau, wir müssen uns bei dir entschuldigen.« Wenn sie aufgeregt ist, stellt Caterina ihren Sätzen immer ein »Genau« voraus.

»Vor allem ich. Manchmal bin ich einfach viel zu impulsiv. Ich hoffe, du verzeihst mir, Scarlett. Umberto hat uns erklärt, warum du dich mit ihm verabredet hattest. Er hat uns erzählt, dass du ihn gebeten hast, Cat Nachhilfe in Mathe zu geben und … Ich bin mir wie die letzte Idiotin vorgekommen, weil ich schlecht von dir gedacht habe.«

»Das macht nichts.« Nach dem, was mit Edoardo passiert ist, komme ich mir dumm vor, dass ich mir wegen einer solchen Banalität den Kopf zerbrochen habe.

»Verzeihst du uns?«, fragt Cat.

Ich nicke. Die beiden umarmen mich und drücken mich dabei so fest, dass ich beinahe ersticke. »Schon gut, ich verzeihe euch«, sage ich möglichst überzeugend, damit ich nicht von ihnen erdrückt werde.

»Frühstück?«, schlägt Genziana vor.

»Ich hab keinen Hunger.«

»Aber wir haben einen Riiiesenhunger, und allein können wir nicht runtergehen. Außerdem musst du dich anziehen, sonst kommen wir zu spät.«

»Wohin zu spät?«

»Na, zur Schule natürlich.«

»Ich weiß nicht, ob ich dazu schon bereit bin …« Meine Worte klingen ziemlich jämmerlich.

»Wenn du nicht mitkommst, bleiben wir hier und leisten dir Gesellschaft«, sagt Caterina.

»Gut gesagt, Kollegin. Alle oder keine.«

Sie stehen auf und sehen mich hoffnungsvoll an. »Na los, komm schon!«

»Okay.« Ich weiß nicht, ob die Entscheidung richtig ist, aber sie lassen mir ja keine Wahl.

»Wollt ihr euch meine Dinosaurier angucken, während Scarlett sich anzieht? Die braucht immer so lange«, mischt sich mein Bruder ein.

»Dinosaurier! Oh, ich liebe Dinosaurier!«, ruft Genziana aus und streicht ihm über die Haare. Er lächelt zufrieden über die Aufmerksamkeit, und man lässt mich allein. Ich nehme eine Jeans in die Hand und einen grünen Rollkragenpullover. Damit gehe ich ins Bad, wo ich mir das Gesicht mit kaltem Wasser wasche. Ich ziehe mich an und bürste mir flüchtig die Haare.

»Bist du fertig, Scarlett? Komm in die Gänge, sonst wirft dein Bruder uns einem seiner Ungeheuer zum Fraß vor.«

Kurz darauf sitzen wir am Tisch. Ich zwinge mich, ein paar Kekse und einen Zwieback mit Honig hinunterzuwürgen.

»Heute habe ich meinen ersten Privatunterricht in Mathematik«, zwitschert Caterina.

»Umberto erwartet sie um drei Uhr.«

»Das verdanke ich alles dir, Scarlett! Aber damit ihr jetzt nicht auf seltsame Ideen kommt … Ich habe es schon zu Genziana gesagt: Ich bin nicht in Umberto verknallt. Ich bin nur glücklich, weil er ein guter Nachhilfelehrer ist und ich mir sicher bin, dass ich auf diese Weise bald das Ungenügend vom letzten Mal ausbügeln kann. Ich habe es satt, mich an der Tafel immer so zu blamieren.«

»Als ob sich hier irgendjemand was dabei denken würde … Caterina steht nicht auf Umberto. So ist es doch, oder, Scarlett? Sie ist nur total verrückt nach ihm!«

»Hör auf!«

»Okay, okay, sagen wir mal, er ist dir nicht ganz gleichgültig …«

Caterina zieht ein finsteres Gesicht.

»Irre ich mich etwa? Okay, du hast recht. Wie konnte ich nur so etwas denken? Umberto ist schließlich total hässlich und unsympathisch, er hat total krumme Schultern und seine Nase …«

»Er ist nicht hässlich! Seine Schultern sind perfekt, und … Du Miststück, das war doch Absicht, oder?«

Cat tritt unter dem Tisch nach Genziana. »AU!«

Wir prusten alle los. Ich hatte die Fröhlichkeit meiner Freundinnen wirklich dringend nötig, um mich von meiner Trauer abzulenken. Obwohl mir bei dem Gedanken, dass mich das nächste Mal, wenn ich die Bibliothek betrete, kein Edoardo mehr dort lächelnd begrüßen wird, die Tränen in die Augen steigen.

»Wollen wir los?«, fragt Genziana.

»Ich versuche es.«

»Wichtig ist, dass wir zusammenhalten. Du hast doch selbst gesagt, Freundschaft heißt, einander zu zähmen. Nur so lernt man sich gegenseitig kennen.«

Mama beobachtet uns im Hintergrund, und obwohl sie immer so tough tut, merke ich, dass sie lächelt. Sie muss sich in diesen Tagen große Sorgen gemacht haben. Es war bestimmt nicht leicht für sie, mit einer Tochter umzugehen, die sich in den vier Wänden ihres Zimmers vergräbt.

»Ciao, Marcolino! Wir sehen uns bestimmt bald wieder. Grüß deine Ungeheuer von mir!«, sagt Genziana.

»Ich heiße nicht Marcolino. Hat dir Scarlett etwa gesagt, dass du mich so nennen sollst?«

»Wir sehen uns, Marcolino«, sagt Genziana mit einem hinterlistigen Lächeln, dann wendet sie sich wieder uns zu: »Ich liebe es, kleine Jungs zu ärgern.«