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Scarlett?«

Ich tauche aus meiner Betäubung auf.

»Scarlett, wach auf.«

Das Stimmchen, eine kleine helle Kinderstimme, reißt mich aus meinem Dämmerzustand.

Wo … bin ich?

Etwas Weiches umgibt mich. Der Schaukelstuhl voller Plüschtiere. Um mich herum das vertraute Dämmerlicht meines Schlafzimmers, und vor mir steht ein kleiner Engel. Es ist Marco, immer noch mit einem Verband um den Kopf, aber er hat ein lebhaftes Lächeln auf seinen Lippen.

Er umarmt mich. »Schlafmütze!«, jubiliert er.

»Was machst du denn hier?«

»Ich habe denen eine Lüge erzählt. Ich wollte einfach nicht mehr in diesem grässlichen Krankenhaus bleiben. Da war es sooo langweilig! Also habe ich gesagt, dass heute dein Geburtstag ist …«

»Aber ich habe doch erst im April Geburtstag …«

»Ja, ich weiß. Ich hab doch gesagt, dass ich eine Lüge erzählt habe. Mama und Papa haben einen Zettel unterschrieben, und jetzt bin ich frei.«

Ich kitzele ihn und nehme ihn hoch auf meine Knie. »Du kleiner Schwindler! Du hast mich benutzt, um früher nach Hause zu kommen!« Ich überhäufe ihn mit Küssen, und dann müssen wir beide lachen.

Marco spielt mit meinen Haaren. Er wickelt sich Strähnen um die kleinen Finger und kuschelt sich dann an meine Brust. »Als ich nicht aufwachen konnte, war da ein Freund, der mich immer besuchen kam.«

»Wirklich?«

»Ja. Manchmal habe ich ganz weit weg deine Stimme und die von Mama und Papa gehört. Ich habe gewusst, dass ihr euch Sorgen um mich macht, aber ich konnte die Augen nicht aufmachen. Es war dunkel, und ich hatte so viel Angst.«

Während ich ihm dabei zuhöre, wie er Dinge erklärt, die so viel größer sind als er, bekomme ich eine Gänsehaut. Er ist ein ganz besonderer Junge. Wenn ich daran denke, dass ich ihn beinahe verloren hätte …

»Mein Freund hatte blaue Augen, so blau wie der Himmel, wenn die Sonne scheint. Er kam mich besuchen und hat mir Gesellschaft geleistet.«

»Und was hat er dir gesagt?«

»Dass ich keine Angst haben soll. Dass er mich nicht allein lässt und dass mir nichts geschehen wird.«

Mikael … Also hat er mich weiter beschützt und die Menschen, die ich liebe. Ganz im Stillen, ohne einen Dank dafür zu erwarten. Er hat meinen Wunsch respektiert und ist aus meinem Leben verschwunden, wie ich es von ihm verlangt hatte, aber er hat niemals aufgehört, über mich zu wachen.

Eine kleine Träne rinnt über meine Wange.

»Du musst nicht mehr weinen, es geht mir doch jetzt gut!«

Ich fahre ihm mit meiner Fingerspitze über die Nase. Ich kann ihm doch nicht sagen, dass ich auch aus einem anderen Grund weine. Die Erinnerungen kommen wieder an die Oberfläche.

Der Dämon. Der Kampf. Mikael, Vincent und Ofelia in Gefahr. Und dann der Abgrund, der sich im Boden aufgetan hat.

Ich sehe Ofelia wieder neben mir, wie sie zittert. Die Risse, die alles zu verschlingen drohen.

Ich muss ohnmächtig geworden sein. Was ist bloß aus den anderen geworden? Und wenn sie zusammen mit Livio hinabgerissen wurden? Nein! Das war nicht Livio … Ich kann nicht glauben, dass das alles wirklich geschehen ist. Doch die Erinnerung daran hat sich wie Dornen in mein Fleisch gebohrt.

»Mein Freund hatte eine Kette, die sah genauso aus wie deine.«

Ich schüttele meine Gedanken ab. Als ich mir an den Halsansatz greife, ertaste ich dort die Glieder eines dünnen Kettchens. Ich stehe auf, meinen Bruder auf dem Arm. Er hat abgenommen, der kleine Frosch.

Im Spiegel begegne ich Marcos Blick. Ich schrecke zusammen. Seine Augen sind viel heller, seit er aus dem Koma erwacht ist. Da bin ich mir ganz sicher. Die grauen Zwischentöne sind verschwunden, und jetzt erstrahlen sie in einem neuen hellblauen Licht, so hell wie Eis, wie die von …

Ich schlucke laut.

An meinem Hals glänzt eine schmale Silberkette, an der ein Anhänger in Form von Fledermausflügeln hängt. Er sieht genauso aus wie der von Mikael, nur kleiner. Ich lege meine Finger fest um ihn, streichele zärtlich darüber und beobachte mich im Spiegel dabei, wie ich ihn küsse.

Mikael, wo bist du?