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Die letzten Noten der Vorgruppe verklingen zwischen den Wänden der Turnhalle. Ich weiß nicht einmal mehr, wie sie heißen: Die vier wirkten wie lächerliche Schießbudenfiguren auf einer Bühne … Und offenbar war ihnen ihr Auftritt selbst peinlich! Ich möchte nicht an ihrer Stelle sein. Bis auf ihre Klassenkameraden in den ersten Reihen scheint ihre Performance niemandem aus dem Publikum gefallen zu haben. Mag ja sein, dass sie versucht haben, ihren Idolen nachzueifern, aber es kam echt komisch rüber. Ein pummeliger Punk, der so aussehen möchte wie Sid Vicious, an dem aber nichts vicious ist außer dem nicht gerade überzeugenden Irokesenkamm, der noch dazu mit jedem Trommelschlag mehr in sich zusammensackt, dann ein Knirps, der kleiner ist als die Gibson, auf der er herumstümpert, und ein Sänger, der mit Jim Morrison nur die Lederhose gemein hat … Und die ist ihm auch noch viel zu weit!

Ich werde von ein paar Mädchen gestoßen, die sich nach vorne drängen.

»Dead Stones! Dead Stones!«, schreit jemand hinter uns.

»Wir wollen die Dead Stones!«, erhebt sich ein Sprechchor aus der letzten Reihe, der bald das ganze Publikum erfasst hat. Die Turnhalle ist brechend voll. Parfüm, Deo, Vanille-Shampoo und Erdbeer-Lipgloss mischen sich mit dem beißenden Geruch nach Schweiß und aufgeheiztem Spaß. Wie bei einem richtigen Konzert. Ich bin ganz aufgeregt und klatsche zu dem Sprechchor rhythmisch in die Hände. »Wir wollen die Dead Stones!«, schreit Genziana. Ich brenne darauf, endlich die geheimnisvollen Cousins zu sehen, damit ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen kann, ob sie wirklich so faszinierend sind.

Es kommt mir absurd vor, dass Caterina sich ausgerechnet jetzt dazu entschlossen hat, mir zu erklären, warum sie nicht auf ihren Haarreif verzichten kann. »Der ist wie die Schmusedecke von Linus, damit fühle ich mich einfach wohl. Wenn ich ihn herausnehme, fahre ich mir ständig durch die Haare. Sie stehen dann nach allen Seiten ab, fallen mir in die Augen, und ich komme mir ungekämmt vor … Und dann werde ich nervös.«

»Wo liegt denn das Problem? Niemand will dir deinen Haarreif wegnehmen.«

»Jeder sagt mir, dass ich mit dem Haarreif wie ein kleines Mädchen aussehe. Mal ganz ehrlich: Meinst du auch, dass ich ohne besser aussehe?«

»Du siehst gut aus, wenn du dich gut fühlst. Wenn du dich mit dem Haarreif wohler fühlst, dann heißt das, dass ein Haarreif das Richtige für dich ist.« Ich habe noch nie so oft das Wort »Haarreif« gesagt. Und ich verspreche mir feierlich, dass ich in meinem ganzen Leben niemals so ein unaussprechliches Accessoire tragen werde.

Ich schaue wieder hoch. Die Menge tobt. Die Mädchen haben sich untergehakt und hüpfen gemeinsam hoch. »Vincent!«, schreit die Kleine vor mir. »Mikael!«, ruft eine andere weiter weg.

Ich bin total aufgekratzt. Vielleicht steckt diese lächerliche Aufregung all dieser schreienden Mädchen mich ja an. Mein Adrenalinpegel steigt wie eine Flutwelle. Wieder schubst mich eine Gruppe Schüler auf der Suche nach einem besseren Platz nach vorn. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Genziana packt mich am Arm, ich klammere mich an Caterina, und gemeinsam schieben wir uns durch die Menge. Einen Moment lang dreht sich alles um mich, aber ich drücke weiter, und erst als Genziana stehen bleibt, bemerke ich, dass wir uns einen super Platz erkämpft haben. »Yeah!« Die Plätze ganz vorn an der Bühne bleiben ein unerreichbares Ziel, sie werden mit Zähnen und Klauen von einer Gruppe hysterisch kreischender Mädels verteidigt.

Das Licht in der Halle geht aus. Ein paar Scheinwerfer überfluten den unteren Teil der Bühne mit Licht. Einen Moment lang starre ich verwirrt das Podest an, auf dem das Schlagzeug, das Mikrofon und die Tonanlage stehen. Ziemlich bald vereinen sich die Rufe von Mikaels Verehrerinnen mit denen von Vincents Fans zu einem einzigen lauten Sprechchor: »Dead Stones! Dead Stones!«

Das erste Bandmitglied erscheint auf der Bühne. Eine Silhouette im Gegenlicht, die von einem Aufschrei der Menge begrüßt wird. Es ist der Schlagzeuger, lange wasserstoffblonde Haare und eine verkehrt herum aufgesetzte Baseballkappe. Er nimmt seinen Platz ein und beginnt die Snare drum zu schlagen. Dann kommt ein schlanker, muskulöser Junge über das Podest, der mit seinem leichten, fließenden Schritt die Luft zu durchteilen scheint. Sein linker Arm ist bis zum Handgelenk tätowiert, und er trägt ein zerknittertes T-Shirt über einer dunklen Jeans. Er streicht sich die schwarzen Haare zur Seite, die einen Teil seines Gesichts verdecken. Seine Augen leuchten wie glühende Kohlen, als er sich die Gitarre greift und ins Mikrofon schreit: »Wir sind die Dead Stones, im Feuer gehärtete Steine!«

Einen Moment lang habe ich das Gefühl, einem einzigartigen Schauspiel beizuwohnen. Das Publikum scheint völlig durchzudrehen, und ich weiche instinktiv einen Schritt zurück. Caterina scheint es nicht zu bemerken, sie ist vollkommen darauf konzentriert, den Jungen mit den nachtschwarzen Haaren anzustarren. Ein ekstatischer Ausdruck liegt auf ihrem Gesicht. Nur gut, dass Vincent nicht ihr Typ ist, denke ich und muss grinsen. Genziana hatte recht.

Langsam, beinahe mit militärischem Schritt hält das letzte Bandmitglied Einzug auf die Bühne. Ein Typ mit kastanienbraunen Haaren mit attraktiven honigfarbenen Strähnchen darin und so hellen Augen, dass ich sogar an meinem Platz davon geblendet werde. Er ist unglaublich schön, geradezu übermenschlich. Seine Gesichtszüge wirken wie in schneeweißen Marmor gemeißelt. Er ist groß, hat breite Schultern und muskulöse Arme. Seine Klamotten sind genauso schwarz wie sein Instrument: ein E-Bass. Was mich am meisten beeindruckt, ist die natürliche Ungezwungenheit, mit der er sich über die Bühne bewegt, er schwebt durch die Luft und scheint sich überhaupt nicht der Wirkung bewusst zu sein, die er auf den weiblichen Teil des Publikums in der Halle ausübt. Er wirkt abwesend, so versunken in seiner ganz eigenen Welt, dass er sogar vermeidet, in die Menge zu schauen.

Vincent dagegen provoziert und heizt die vordersten Reihen an. Seine Bewegungen sind genau darauf abgezielt, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, er scheint eine echte Rampensau zu sein. Tatsächlich reicht jetzt eine Handbewegung von ihm, und der Saal fällt in unwirkliches Schweigen. Er senkt beide Arme mit der großen Geste mancher Dirigenten, und es ist, als würde die Zeit einen Augenblick stehen bleiben. Das Scheinwerferlicht wird schwächer, und wieder umhüllt mich Stille. Der Schlagzeuger schlägt ein paarmal die Bassdrum, und dann hört man wieder nichts. Bis auf das Geräusch meiner Herzschläge. Ich atme tief ein und warte angespannt darauf, dass dieses Etwas, das ich noch nicht kenne, aber worauf alle anderen schon zu warten scheinen, endlich passiert.

Mikael beginnt eine tiefe und pulsierende Basssequenz, in die sich sofort der hypnotische Beat des Schlagzeugs mischt. Vincents markantes Gitarren-Riff lässt nicht lange auf sich warten, gefolgt von seiner rauen Stimme. Ich erwache aus meiner Betäubung. Die Band spielt das erste Stück, einen englischen Song mit dem Titel Closer.

Näher, übersetze ich mir schnell. Mein Englisch ist ganz passabel, schließlich verbringe ich mindestens einen Monat im Jahr in London! So kann ich mühelos den größten Teil des Textes verstehen. I walk through an endless night, ich laufe durch eine endlose Nacht, make my way back home, kehre nach Hause zurück. Mir fällt auf, dass der Sänger die Gitarre mit der linken Hand spielt. Die Dunkelheit in der Halle malt seltsame Schatten auf seinen Körper, und von hier sieht es so aus, als ob die Tattoos ein Eigenleben hätten und sich bewegten. Trotz seiner verführerischen Ausstrahlung ist allerdings Mikael derjenige, an dem meine Augen sich gar nicht sattsehen können. Seine harmonische Art, sich zu bewegen, die tiefe Stimme, die mein Innerstes aufwühlt, sobald er einen Chorus singt. Der Refrain wirft mich in einen Ozean von demselben Eisblau wie seine Augen. I’m closer to you, ich bin näher bei dir. I’m closer to you than I’ve ever been, ich bin näher bei dir, als ich es je war. Why don’t you see me? Warum siehst du mich nicht?

Ich sehe dich, Mikael, möchte ich ihm zurufen und mich in dem schmelzenden Eis seiner Kristallaugen verlieren. Dabei komme ich mir so dumm vor! Doch das hindert mich nicht daran, aus vollem Herzen zu hoffen, dass das Stück nie enden möge; ich spüre, dass ich meinen Körper nicht mehr unter Kontrolle habe. Ich bewege mich im Rhythmus der Musik, und in mir steigt der unsinnige Wunsch auf, dass diese Augen aus Eis in meine schauen mögen. Zumindest einen Augenblick lang …

»Und, wie findest du sie?«, schreit Caterina, um gegen die Musik anzukommen. Sie ist rot im Gesicht, erhitzt und offensichtlich begeistert.

»Völlig überschätzt.« Ich schäme mich für den dummen Gedanken, der mir gerade eben durch den Kopf geschossen ist. Wie kann ich nur glauben, dass ich diesem wahnsinnig tollen Bassisten hier in dem dunklen Saal unter all diesen Menschen auffallen könnte?