19

Ich laufe zur Bibliothek, um den Kleinen Prinzen abzuholen, und danach will ich nach Hause. Sicherheitshalber werde ich den Nachmittag in meinem Zimmer verbringen, dann vermeide ich weitere Missgeschicke. Doch ich habe mich zu früh gefreut: Lavinia, Federica und Sofia tauchen im Flur direkt vor mir auf. Sie sind so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie mich noch nicht bemerkt haben. Auf die habe ich nun wirklich gar keinen Nerv.

Alles geschieht innerhalb eines Augenblicks. Rechts von mir sehe ich eine Tür, eine Öffnung in der Wand. »Bitte mach, dass sie auf ist«, bete ich laut. Ich drücke die Klinke hinunter und schlüpfe hinein. Auf den ersten Blick scheint es ein Abstellraum zu sein, aber ich verliere keine Zeit damit, mich umzuschauen: Ich habe im Moment andere Probleme. Ich knie mich hin, um durchs Schlüsselloch zu gucken und mich zu vergewissern, dass die Lavinia-Girls weg sind. »Mach, dass sie mich nicht gesehen haben«, murmele ich.

»Sieht so aus, als müssten wir uns ein anderes Versteck suchen, Black.« Eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich hastig um und stoße gegen etwas. Ein cremefarbenes Tuch fällt zu Boden, und plötzlich stehe ich einem Skelett gegenüber! Ich sperre den Mund auf und kann einen leisen Schrei nicht unterdrücken. Was bin ich bloß für eine dumme Gans! Es ist nur ein maßstabgetreues Modell aus Plastik, das von meinem Hieb schwankt, aber nicht umkippt. Es muss zur Biologiesammlung gehören.

Ein kristallklares Lachen scheint den ganzen Raum zu erfüllen. Ich spähe hinter dem Skelett hervor. Mikael Lancieri sitzt da und hat die Füße auf ein altes Pult gelegt. Ich reiße die Augen auf und werde rot vor Verlegenheit. Oje, denke ich. Vielleicht habe ich es auch laut gesagt, denn Mikael hört gar nicht mehr auf zu lachen. Er hat perfekte weiße Zähne, die wie kleine Perlen in seinem Mund glänzen. Auf dem Boden entdecke ich seinen Rucksack und ein winziges schwarzes Kätzchen, das Milch aus einer Tasse leckt.

»Ent… Entschuldigung«, stammele ich. Er lächelt und zeigt sich in all seiner verheerenden Schönheit. Wimpern so lang wie Spinnennetze umgeben diese Eisaugen, die so hell sind, dass sie in mein Innerstes zu blicken und meine Seele zu entblößen scheinen. Wenn ich verschwinden könnte, ich schwöre, ich würde es tun. Ich fühle, wie meine Wangen vor Verlegenheit glühen.

»Ist das deine Katze?«, bringe ich gerade noch heraus.

»Black ist ein Findelkind. Er ist noch zu klein, um allein klarzukommen, aber ich kann ihn nicht mit nach Hause nehmen. Daher wollte ich ihm hier ein sicheres Plätzchen für die Nacht besorgen. Etwas zu essen und ein paar Streicheleinheiten bekommt er selbstverständlich auch.« Seine Stimme klingt so melodiös wie ein Liebesgedicht von Neruda. Ich spüre, wie ich dahinschmelze.

Meine Beine zittern. Bum, bum, bum, schlägt mein Herz laut.

»Jungtiere brauchen viel Aufmerksamkeit«, sagt er und schaut mir direkt in die Augen. Unter seinem Blick fühle ich mich nackt, ich kann ihm nicht einen Moment länger standhalten.

»Ich werde kein St-sterbenswörtchen von Blacks Versteck erzählen. Versprochen.« Ich weiche einen Schritt zurück, dann noch einen, bin total verlegen und gleichzeitig hingerissen. Wieder pralle ich gegen das Skelett. Es klappert, und ich kann es gerade noch festhalten, ehe es zu Boden kracht.

Black maunzt vor sich hin, als wolle er das Lachen seines Herrn imitieren.

»Also dann«, sage ich und flitze davon, während mein Herz bis zum Hals klopft.