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Warum denn nicht? Erklär es mir wenigstens!«

»Jetzt reicht es, Scarlett! Vielleicht das nächste Mal, aber für heute hör endlich auf damit.«

»Und wann wird das nächste Mal sein? So bald gibt es kein weiteres Konzert«, sage ich mit schriller Stimme. Seit einer Woche reden Simona und ich kaum ein Wort miteinander, und heute, wo ich mich entschlossen habe, auf sie zuzugehen, endet es schon wieder im Streit. Und das alles nur, weil ich sie um Erlaubnis gebeten habe, zum Konzert der Dead Stones zu gehen.

»Dein Vater ist nie da, wenn man ihn braucht. Jetzt macht er auch noch am Samstag Überstunden! Und wie üblich muss ich die böse Mutter spielen.«

»Papa hat nichts damit zu tun! Du bist ungerecht: Es ist doch nur ein Konzert der Schulband. Ich frage ja nicht, ob ich zu einem Konzert von Marilyn Manson darf!«

»Auch dann wäre die Antwort Nein!«

Marco springt von dem Stuhl auf, von dem aus er stumm unsere Auseinandersetzung verfolgt hat, legt sich die Hände über die Ohren und rennt hinaus. Ich bin sicher, dass er zur Schaukel läuft. Er wird versuchen, sich abzulenken, versuchen, die Wolken mit den Zehenspitzen zu erreichen, aber auch heute wird ihm das nicht gelingen.

»Aber Mama …«

»Keine Chance. Geh in dein Zimmer und räum dort ein wenig auf. Dein Schreibtisch ist ein einziges Chaos!«

»Ich tue alles, nur damit ich dich nicht mehr sehen muss!«

»Solche Reden dulde ich nicht!« Sie verfolgt mich bis in den Flur. Ich renne blitzschnell die Stufen hinauf und schmeiße mich auf mein Bett, um unter der Decke zu verschwinden. Ich ertrage sie nicht, wenn sie sich so verhält! Ich nehme meinen iPod und stelle ihn lauter. Paramore brüllt mir in die Ohren: Ignorance is your new best friend. Eine Träne. Und noch eine.

Warum muss ich bloß ständig weinen? Ich wäre gern etwas stärker.

Ich denke an Daniela, die ihre große Liebe nie mehr in die Arme schließen wird. Und an Lorenza, das Mädchen mit den blonden Haaren und den harten Augen, das nie wieder liebevolle Ratschläge von seinem Vater erhalten wird. Edoardo hat eine riesige Lücke hinterlassen. Voller Fragen. Es gibt nur ein Leben, und das will ich selbst leben. Simona hat mir nicht einmal einen guten Grund nennen können, warum ich nicht zu dem Konzert darf. Also, warum sollte ich ihr gehorchen? Sie versucht erst gar nicht, mich zu verstehen, sie hat keine Ahnung, wie viel Schmerz ich in mir trage. Ich brauche Gefühle, um über diesen Augenblick hinwegzukommen. Um die Kraft zu finden weiterzumachen. Und Mikael ist Gefühl pur. Ich habe das Bedürfnis, ihn zu sehen, genauso wie ich atmen muss.

Der Song endet, und ich stelle den iPod ab, weil ich gerade den Rat bekommen habe, nach dem ich gesucht habe. I guess I’ll go, I best be on my way out. Ich werde allein meinen Weg finden, fort von hier. Ich nehme mein Handy und rufe Manuela an, um eine vertraute Stimme aus der Vergangenheit zu hören.

»Hallo, Sternchen! Wie geht’s dir, alles okay?«

»Gar nichts ist okay!«

Sie fragt mich nicht einmal, was mit mir los ist. Stattdessen verliert sie sich in einer langen Aufzählung von Klamotten, die sie in der Stadt gekauft hat, darunter ein Paar glänzende Leggings. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie gut ich damit aussehe! Darin hab ich einen Hintern, dass sogar Rihanna …« Und dann erzählt sie noch von den beiden Jungs, die gar nicht übel und hinter ihr her sind, und dann hat sie noch ein Ausreichend in Mathe geschrieben, aber es sind ja erst vier Monate vom Schuljahr vorbei, also was soll’s. Ich frage mich, warum ich sie überhaupt angerufen habe. Was habe ich mir denn davon versprochen? Vielleicht ein wenig Trost.

Nur wenige Monate haben genügt, und wir sind zu Fremden geworden. Meine ehemals beste Freundin und ich sind Lichtjahre voneinander entfernt. Wie traurig … oder vielleicht auch nicht, das Leben geht eben weiter.

»Lass mal ab und zu was von dir hören! Ach, das hab ich glatt vergessen: Matteo ist jetzt mit einer aus der zwölften Klasse zusammen. Kannst du dir das vorstellen? Die ist älter als er. Er sagt, wir Gleichaltrigen seien ihm zu unreif. Na ja, ich glaube ja, das ist eine kleine Spitze gegen dich. Du hast dich nicht mehr bei ihm gemeldet, stimmt’s? Und mit mir redet er auch nicht mehr über alles, so wie früher.«

Matteo hat eine andere. Diese Nachricht lässt mich völlig kalt.

Keine Eifersucht, kein Bedauern. Im Gegenteil! Ich freue mich für ihn, hoffe, dass er glücklich ist. Cremona scheint mir so weit weg wie ein anderes Leben … ein anderer Planet.

Ich bin jetzt hier, und auf einmal weiß ich, was ich tun muss. Vor allem, was ich nicht tun will: verzichten. Ich werde zu diesem Konzert gehen, obwohl Simona es mir verboten hat. Auch wenn weder Genziana noch Caterina dort sein werden.

Mikael hat mir gesagt, er würde bis um zehn auf dem Vorplatz der Schule auf mich warten. »Wenn du bis dahin nicht da bist, dann weiß ich, dass du keine Lust hast.«

»Oder dass ich nicht kommen kann.«

»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, meinte er darauf und erst jetzt begreife ich, wie recht er hat. Mein Leben liegt in meinen eigenen Händen. Und heute werde ich mit meinen Entscheidungen über meine Zukunft bestimmen.