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Heute benimmt sich Caterina irgendwie komisch. Sie spricht nicht mit mir, und ich habe den Eindruck, dass sie mich anstarrt. Ich drehe mich unvermittelt um, um sie anzusehen, aber sie wendet sich ab. Was hat sie denn nur? Ich hoffe, dass sie das nicht den ganzen Morgen durchzieht. Es fehlt nicht mehr viel bis zum Ende der Stunde, jetzt noch mal zehn Minuten Konzentration und dann ab in die Pause!

Mathematik wird dieses Jahr einen Gang härter, da bin ich mir sicher. Man muss nur die Zini ansehen, um das zu merken. Ganz offensichtlich liebt sie ihre Arbeit. Sie scheint eine geheime alchimistische Verbindung zu Zahlen und deren verborgenem Kosmos zu haben. Und vor allem hat sie keine Scheu vor Schülern. Sie ist jung und brillant, hat einen dunklen Lockenkopf und grüne Augen, ist einen Meter fünfundsiebzig groß und kleidet sich ein wenig gothicmäßig. Sie trägt hautenge Jeans und ein schwarzes T-Shirt, so schwarz wie der Kajalstift, mit dem sie ihre Augen umrahmt, was ihr einen geheimnisvollen Touch verleiht. Die heutige Stunde hat sie den Zahlen und ihrer symbolischen Bedeutung in der Geschichte gewidmet. Sie meint, das würde uns bei den Gleichungen helfen. Tja, wenn sie meint …

Beim langen Ton der Pausenklingel springe ich auf.

»Hast du es eilig?«, fragt Cat.

»Nein, ich will mir nur unbedingt die Beine vertreten.«

»Mit Umberto …«

»Was meinst du?« Eigentlich habe ich genau gehört, was sie gesagt hat, aber …

»Ach, nichts. Ich hab mich nur gefragt, warum du dich von Umberto durch unsere Schule führen lässt, wenn du sie doch inzwischen sowieso besser kennst als wir alle.«

»Keine Ahnung, ich wollte einfach ein bisschen rumlaufen.«

Ich sehe, wie sich ihr Gesichtsausdruck verändert, als sie Richtung Tür sieht. Ich folge ihrem Blick und erkenne Umberto, der mich anlächelt.

»Ich geh dann mal«, stammele ich verlegen.

Ihre einzige Reaktion darauf ist, dass sie mir den Rücken zudreht.

»Hallo, Scarlett!«

»Hallo, Umberto.«

»Stimmt was nicht?«

»Ach was, nichts. Nein, eigentlich geht es mir gut.«

»Genau dieses eigentlich macht mir Sorgen. Aber sieh mal, das hier ist für dich.« Er hält mir eine weiße Papiertüte entgegen, aus der mir ein süßer, würziger Duft entgegenkommt und meine Nasenlöcher streichelt.

»Was ist da drin?«

»Cavallucci.«

»Jetzt bin ich genauso klug wie vorher.«

»Probier sie einfach, und dir wird sich eine neue Welt auftun. Süß und doch mit einer würzigen Note … wie ein Flirt.«

»Und das alles in einem Keks?« Verdammt, was für eine blöde Frage! Natürlich wollte er nur nett sein. Um meine Verlegenheit zu überspielen, esse ich einen. »Hmm, lecker«, murmele ich undeutlich mit vollem Mund. Wenn jetzt meine Mutter hier wäre …

»Das ist eine von Sienas typischen Spezialitäten.« Anscheinend hat Umberto mein nicht ganz einwandfreies Benehmen nicht bemerkt. Oder er ist zu gut erzogen, um sich etwas anmerken zu lassen.

Ich schiebe noch ein Plätzchen in den Mund und denke kurz nach. »Sehr würzig, aber gut. Darf ich dich etwas fragen?«

»Na klar«, sagt er und lächelt, wobei ich erneut feststelle, dass es tatsächlich untertrieben ist, wenn man von ihm behauptet, er sähe ganz gut aus.

»Bist du zu allen Neuankömmlingen so nett?«

Wir laufen nebeneinanderher. Ab und zu streift mich sein Arm und dann schaue ich nach unten auf meine Schuhspitzen. In diesem abseits gelegenen Stück Park war ich noch nie. Die unglaublich hohen Bäume scheinen mit ihren Zweigen den Himmel zu berühren, pastellfarbene Blumen bilden zarte bunte Tupfer auf dem Grün der Wiese. Von fern hört man das Stimmengewirr der Schüler, so leise wie das Summen von einem Insektenschwarm. Ich bin gern hier. Ich bin gern mit Umberto zusammen.

»Wundere dich nicht, dass ich so nett zu dir bin. Wenn ich an eine andere Schule wechseln würde, wäre ich froh, wenn mir jemand helfen würde.«

»Okay«, sage ich. Vielleicht ein bisschen enttäuscht.

»Aber trotzdem, ich bin nicht zu allen Neuen so nett. Nur zu unwiderstehlichen Mädchen.«

Ich bleibe stehen und sehe ihn neugierig an: »Aber warum bist du dann so freundlich zu mir?«

»Du hast wunderschöne Augen, ein atemberaubendes Lächeln und einen tollen Namen. Muss ich noch mehr sagen?«

Ich werde glühend rot, aber ich laufe betont lässig weiter.

»Und außerdem muss ich dir etwas gestehen: Mein Vater ist Konditor.«

Wir lachen beide los. »Hahaha! Also macht dein Vater die Arbeit, und du heimst die Lorbeeren ein.«

Ich schaue ihn von der Seite an. Das Lächeln vertieft die Grübchen in seinen Wangen und zaubert goldene Lichter in seine kastanienbraunen Augen.

Plötzlich finde ich mich vor einer Reihe von blühenden Büschen wieder. Rote, gelbe und cremefarbene Rosen verströmen einen betörenden Duft. »Wunderschön!«, rufe ich aus.

»Ich stelle dir meinen geheimen Platz vor. Eine Legende erzählt, dass ein barfüßiger Mönch diese Rosen gehegt hat. Außerdem heißt es, ihr Duft hätte eine heilsame Wirkung. Hast du das gewusst?«

»Ach, wirklich?«

»Nein! Das war nur Spaß. Also zumindest, was den barfüßigen Mönch betrifft, denn mein geheimer Platz ist das wirklich. Ich habe bisher nur ganz wenige Leute hierhergebracht. So etwas Schönes teile ich nur mit ganz besonderen Menschen.«

Ich erröte heftig, seine Komplimente sind wirklich entwaffnend. Aber ich sollte mir besser nichts darauf einbilden. Schnell gehe ich zu der Bank hinter dem Busch roter Rosen und setze mich, die Tüte mit den Plätzchen auf den Beinen. Ich esse einen nach dem anderen, so versuche ich, die Stille auszufüllen.

»Bist du Lavinia noch mal begegnet?«

»Nein, zum Glück haben wir uns nicht wiedergesehen, seit …« Ich verstumme. Ich kann nicht von Sally sprechen, ich will doch, dass er vergisst, dass ich mit einem Kinderspielzeug herumlaufe. Also räuspere ich mich und fahre in einem sachlicheren Ton fort: »… seit dieser unangenehmen Begegnung.«

»Unangenehme Begegnung?«, wiederholt er. Dann deutet er auf die Kekse.

»Entschuldige, ich hab dir nicht einmal einen angeboten. Manchmal bin ich richtig unhöflich. Das heißt aber nur, dass sie mir wirklich gut schmecken.«

Lächelnd fischt er sich einen heraus. »Da bin ich aber froh! Nicht darüber, dass sie dir schmecken. Gut, das auch. Aber ich meine eigentlich Lavinia. Ich hatte Angst, ich würde dich in Schwierigkeiten bringen.«

»Warum das denn?«

»Es ist mir etwas peinlich, dir das zu erzählen, aber … Letztes Jahr hatte ich was mit ihr. Lavinia ist sehr besitzergreifend, und ich glaube, sie betrachtet mich immer noch als ihr Eigentum. Ich möchte klarstellen, dass ich nur wenige Wochen gebraucht habe, um zu begreifen, was für ein Mensch sie ist, und … sie zu verlassen.«

»Und das ist dir peinlich? Jeder andere würde damit angeben, dass er mit einer wie ihr zusammen war. Also, ich meine, sie ist doch wunderschön.«

»Schönheit ist nicht alles. Es gibt unendlich viele Dinge, die mir wichtiger sind. Außerdem kann ich Oberflächlichkeit nicht ausstehen.« Er greift mit der Hand in die Tüte, dabei streift er zufällig meine Hand.

Ich zucke vor der Berührung zurück und entschuldige mich hastig. Dieser unerwartete Kontakt hat mir einen Schauer über den Rücken gejagt. Unwillkürlich muss ich daran denken, wie zart seine Hände sind, und erröte wieder.

Dann stehe ich auf und halte ihm die Tüte mit den letzten zwei Plätzchen hin. »Die hier sind jetzt aber für dich. Und danke für die Besichtigungstour.«

Ich drehe ihm den Rücken zu und entferne mich hastig. Was ist denn bloß mit mir los? Zurzeit gerate ich beim unschuldigsten Körperkontakt mit dem anderen Geschlecht in Panik.

Ich bin durcheinander. Umberto ist wirklich nett. Ich lösche die Erinnerung an seine Hand aus meinem Gedächtnis und haste die Treppe zum Eingang hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Als ich das Klassenzimmer erreiche, klingelt es, genau zum richtigen Zeitpunkt. Caterina sitzt auf ihrem Tisch, lässt die Beine herunterbaumeln und schaut ins Leere.

»Grüße von Umberto«, sage ich, nur, um ein Gespräch anzufangen, und von jetzt auf gleich geht ihr angespannter Gesichtsausdruck in ein Lächeln über.

»Wirklich?«

»Sicher! Er hat es mir extra aufgetragen.« Das ist eine kleine Lüge. Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe, vielleicht instinktiv. Denn eine innere Stimme flüstert mir zu: Caterina ist in Umberto verliebt.

Federica, Lavinias Cousine, wirft mir von ihrem Platz aus der ersten Reihe einen schiefen Blick zu. Weiß sie etwas, das ich nicht weiß?