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Unterrichtsschluss! Ich brauchte dringend Ruhe, daher habe ich mich hierhin geflüchtet. Ich wandere umher und schaue mich begeistert um. Bücher. Berge von Büchern oder besser gesagt, jede Menge Bücherregale, die Gänge bilden, in denen die Werke nach einem wissenschaftlichen System geordnet sind. Das reinste Paradies. Lesen ist meine Flucht, nur zu gern verschwinde ich in unbekannte Welten, Abenteuer und Gefühle. Nach einem wütenden Streit mit meiner Mutter, nach einer großen Enttäuschung oder wenn ich mich einfach ohne erkennbaren Grund so fühle, als würde mir ein Stückchen aus dem Herzen fehlen, dann flüchte ich mich in ein Buch. Das war schon immer so.

Oma Evelyn mit ihren Gutenachtgeschichten hat mir beigebracht, Geschichten zu lieben, die man Seite an Seite mit ihrem Helden durchleben kann. Ganz egal, ob Liebes-, Abenteuer- oder Gruselgeschichten. Es zählt nur, dass man der Realität entfliehen kann. Manchmal nur für kurze Augenblicke, manchmal für lange Stunden, die ganz allein mir gehören und mich untrennbar mit demjenigen verbinden, der sich diese Geschichte ausgedacht hat, und mit der Figur, die sie in dieser Welt aus Papier und Träumen erlebt hat und dort für immer leben wird.

Ich habe noch nie eine so gut bestückte Bibliothek gesehen. Von englischer Literatur über die des Mittleren Orients, Bücher in Übersetzung oder in der Originalsprache, Fachbücher und Belletristik mit einer ganzen Thriller-Abteilung. Oma würde ausflippen. Sie liebt Krimis, meist weiß sie schon nach den ersten paar Seiten, wer der Täter war. Keine Ahnung, wie sie das macht.

Ich gehe durch den langen Gang aus hell gemasertem Marmor, auf dem in Abständen schwere Tische aus Nussbaumholz stehen, an denen Schüler sitzen, die still lesen.

Stille, was für ein schönes Wort. Vor allem, nachdem so viele Eindrücke auf mich eingestürmt sind.

Ich gelange in einen kleinen Raum, in dem ein DVD-Player steht. Unglaublich, es gibt sogar Nightmare before Christmas, den Film, aus dem ich den Namen für meinen Glücksbringer habe, Sally. Mir wird bewusst, dass ich über das ganze Gesicht strahle wie ein kleines Kind.

Als ich wieder in den Hauptgang zurückkehre, möchte ich am liebsten über den glänzenden Boden schlittern wie auf einer Eislaufbahn. Von hier aus kann ich die gesamte Bibliothek überblicken, und ich stelle fest, dass es ein weiteres Stockwerk mit einer Galerie gibt. Dort oben sind noch mehr Bücher, sie werden in Bücherschränken aus Massivholz mit Intarsienarbeiten aufbewahrt, die aus einem Gemälde des neunzehnten Jahrhunderts stammen könnten. Eine Wendeltreppe führt nach oben. Ich gehe durch einen engen Gang, der zwischen zwei Regalen hindurchführt, die von den Vertretern der Aufklärung überwacht werden. Ich lese einige Titel auf den Buchrücken, die an die Vernunft appellieren und gemahnen, aus dem metaphorischen Dunkel der Unwissenheit zu treten. Auf diese Weise nähere ich mich der Treppe. Doch leider ist der obere Bereich off-limits. Ein rotes Samtband, das von einem Ende zum anderen gespannt ist, versperrt den Zugang. Und als würde das nicht genügen, hängt da auch noch ein handschriftliches Plakat: ZUTRITT VERBOTEN. Deutlicher kann man es wohl nicht ausdrücken …

Was ist wohl so Besonderes an den Büchern, dass sie dort oben aufbewahrt werden? Ich versuche, einen Blick auf sie zu erhaschen, als eine Stimme hinter mir ertönt und mich zusammenfahren lässt.

»Eigentlich weiß man nur, wenn man wenig weiß; mit dem Wissen wächst der Zweifel.«

»Goethe!«, rufe ich begeistert aus.

»Ich verneige mich vor Ihrer Bildung, Mademoiselle«, sagt der Unbekannte, ein hochgewachsener, schlanker Mann mit leicht gebeugtem Gang. Die randlose Brille auf seiner Nase kann das Funkeln seiner meerblauen Augen nicht verbergen. Er trägt ein blassgelbes Hemd und eine lachsfarbene Fliege um den Hals. Sein silbergraues Haar und die tiefen Falten in seinem Gesicht bilden einen Gegensatz zu dem kindlichen Lächeln, das seinen Ausdruck belebt.

Er ist mir auf den ersten Blick sympathisch, und so gebe ich freimütig zu: »Eigentlich hat das gar nichts mit Bildung zu tun. Vor ein paar Jahren hat mir meine Großmutter ein Buch mit Aphorismen geschenkt. Die habe ich auswendig gelernt für peinliche Momente. Wenn man schüchtern ist, ist es nämlich gar nicht leicht, im passenden Moment immer den richtigen Spruch parat zu haben.«

Er biegt sich vor Lachen.

»Edoardo, Bibliothekar aus Leidenschaft«, stellt er sich vor, nachdem er seine Fassung wiedererlangt hat. »Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis«, fährt er bedeutungsvoll fort. »Ich bin fast so alt wie die Bücher, die im ersten Stock aufbewahrt werden.«

»Ach, genau, die Bücher. Kann man die nicht einsehen?«

»Oh nein, dafür braucht man eine Genehmigung. Das sind alte Handschriften aus dem Bestand des Klosters, das einst an dieser Stelle stand. Das Mobiliar dort oben gehört zu dem wenigen, was den Umbau überlebt hat.« Bitterkeit schwingt in seiner Stimme mit. »Die Gegenwart missachtet oft die weise Stimme der Vergangenheit und zieht es vor, ihre mahnenden Appelle zu übergehen, anstatt sie zu beherzigen.« Während er das sagt, berührt er mit der Daumenspitze den goldenen Ring, der an seinem linken Ringfinger glänzt. Es ist eine Art Wappen. »Im Archiv der Schule werden alte Fotografien aufbewahrt, auf denen man sieht, wie es hier früher einmal ausgesehen hat. Aber ich merke, dass deine Augen schon auf der Suche nach anderen Geschichten sind.«

Oh Mann! Dem entgeht aber auch gar nichts. »Ja, ich habe gerade Ihren Ring bewundert. Er ist sehr eigenartig«, sage ich und kann nicht verhindern, dass ich dabei erröte.

»Das ist eine Balzana. Das alte schwarz-weiße Wappen, das Symbol von Siena. Oder besser gesagt, eines der Symbole, denn da gibt es noch die Wölfin, die die Zwillinge säugt, genau wie in Rom. Der Ring war das Verlobungsgeschenk meiner Frau. Ein Stück aus dem vorigen Jahrhundert … Und übrigens, du kannst mich gerne duzen.«

Ich lächle. Ein wirklich sympathischer Mensch. »Und worum geht es in den alten Handschriften?«

»Um das Leben, um das alte Wissen, um Geschichte. Früher konnten sich nur wenige Bildung leisten, sie war längst nicht allen zugänglich. Wissen ist und bleibt das wertvollste Gut auf der Welt, weil es uns Freiheit schenkt. Die Mönche zählten zu den wenigen, die dieses Privileg genießen durften.«

Meine Augen wandern wieder zur Wendeltreppe, die ich nicht betreten darf. Was würde ich dafür geben, ein Stückchen Geschichte in Händen zu halten!

»Ich werde öfter hierherkommen. Lesen ist für mich so wichtig wie essen, schlafen und atmen. Ich weiß, das klingt etwas übertrieben. Meine Mutter sagt immer, dass ich in der falschen Zeit geboren wurde, weil ich alles zu intensiv erlebe, auch die kleinste Kleinigkeit kann für mich ein Drama sein. Vielleicht hat sie gar nicht mal unrecht, ich hätte mich zur Zeit von Baudelaire wesentlich wohler gefühlt. Langweile ich dich?«

»Du könntest mich niemals langweilen, wenn du über Bücher sprichst. Apropos, du hast mir immer noch nicht deinen Namen verraten, neugieriges Mädchen.«

»Scarlett«, antworte ich. »Ich finde Fliegen toll«, füge ich hinzu und zeige auf seinen Hals.

Er bricht wieder in schallendes Gelächter aus, und ich denke, dass es leicht sein wird, sich mit diesem Mann anzufreunden, der in einer Fantasiewelt zu leben scheint, mitten zwischen den Romanfiguren und den Welten, die aus den Träumen der Schriftsteller entstehen.

»Dann also bis bald!«

»Bis bald, Scarlett, und denk immer daran: Ein Buch ist ein Freund, der dich niemals hintergeht.«

»Und von wem ist dieser schlaue Spruch?«

»Von Edoardo Tacconi, Bibliothekar aus Leidenschaft«, antwortet er mit einer höflichen Verbeugung.