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Papa und ich stehen auf dem Gang, der zu Marcos Zimmer führt. Mama ist bei ihm, sie liest ihm ein Märchen vor, was sie, soweit ich weiß, noch nie getan hat.

»Die Ärzte sprechen von einem Wunder. Marco ist außer Gefahr, und wenn man bedenkt, dass er bis gestern … Sie haben zugegeben, dass sie uns nicht bis in alle Einzelheiten erklärt haben, wie ernst seine Lage war. Ich glaube, sie haben so etwas nicht erwartet.«

»Ein Wunder«, sage ich leise. Das verdanke ich Mikael. Er hat das Leben meines Bruders gerettet und mir meins zurückgegeben. Dank ihm habe ich eine zweite Chance als ältere Schwester bekommen. Sobald er aus dem Krankenhaus kommt, werde ich mit dem kleinen Frosch ins Kino gehen. Ich werde ihm beim Fahrradfahren zusehen und ihn zu dem verlassenen Turm begleiten.

»Meine Kleine, du kannst jetzt nach Hause gehen. Das war eine lange Nacht. Wir werden jetzt langsam wieder zu unserem normalen Leben zurückkehren.« Papa gibt mir einen liebevollen Klaps auf die Wange.

»Wann können wir ihn nach Hause mitnehmen?«

»Das wird noch ein paar Tage dauern. Sie müssen noch einige Untersuchungen durchführen.«

Ich trete in die Tür. »Tschüs, kleiner Frosch. Wir sehen uns später. Du bist ja in guten Händen.«

Ich zwinkere ihm zu, er streckt mir seine Arme entgegen.

Ich laufe zu ihm und umarme ihn ganz fest. »Du hast mir gefehlt«, flüstere ich.

»Du bist jetzt so lieb zu mir. Ich muss öfter krank werden.«

»Wag das ja nicht!«

»Bringst du mir auch ein Geschenk mit? Mama und Papa haben mir einen neuen Dinosaurier mitgebracht.«

»Jetzt übertreib es mal nicht.« Ich lächle ihn an, meine Mundwinkel ziehen sich nach oben wie schon lange nicht mehr.

Ich gehe den Gang entlang und verabschiede mich von den Krankenschwestern, den Ärzten, den Patienten, einfach von jedem, dem ich begegne. Die werden mich für verrückt halten, aber das ist mir egal. Ich bin zu glücklich und voller Dankbarkeit für Mikael.

Endlich kann ich ihn vollkommen verstehen. Und wenn man bedenkt, dass ausgerechnet ich ihn beschuldigt habe, er würde seine Kräfte missbrauchen, um den natürlichen Lauf der Dinge zu verändern, aber dann nicht gezögert habe, ihn zu bitten, das Leben meines Bruders zu retten. Zwar nicht mit Worten, aber mit der Qual, die aus jedem Winkel meines Herzens hervorsprudelte.

Mikael musste Umbertos Erinnerungen auslöschen, um das Geheimnis der Parallelwelt zu bewahren. Um seiner Pflicht als Wächter gerecht zu werden, um unsere Liebe zu beschützen. Wie ungerecht ich gewesen bin! Ausgerechnet als er mir seine menschlichste Seite enthüllt hat, indem er mir von seiner tiefen Einsamkeit und seinen Gefühlen erzählt hat, habe ich ihn von mir gestoßen.

Ich hoffe nur, dass er bereit sein wird, mir zu verzeihen.

»Der Weg zur Erkenntnis führt manchmal durch Schmerzen. So ist das mit dem Erwachsenwerden.« Ich denke an den Tag zurück, als Edoardo mir diesen Satz aus einer seiner alten Schwarten vorgelesen hat.

Ich werde nach dem Buch suchen.

Es passt perfekt auf meine gegenwärtige Situation. Die Trennung von Mikael ist schmerzhaft gewesen, aber sie hat mir erlaubt, über meine Fehler nachzudenken.

Ich werde dem Jungen, den ich liebe, zeigen, wie ich mich verändert habe. Ich bin bereit, ihn so zu akzeptieren, wie er ist … Ich will ihm eine Stütze sein, ihm durch die Kraft meines Gefühls seine Aufgabe erleichtern.

Beim Auswickeln einer Praline habe ich einmal einen Zettel mit einem Spruch gefunden, der mir in diesem Augenblick idiotisch vorkam: »Abstand ist wie der Wind, die kleinen Flammen löscht er aus, doch die großen facht er an.« Erst jetzt begreife ich seine Bedeutung.

Girl from the Stars muss einen anderen Schluss bekommen!