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Ich möchte so gern weinen. Mir ist schlecht. Mein Magen ist wie zugeschnürt. Simona ruft mich laut, aber ich werde trotzdem nicht zum Abendessen hinuntergehen. Ich möchte, dass meine Tränen den Schmerz wegspülen. Ich presse mein Kissen an mich und denke darüber nach, wie schnell sich die Dinge doch ändern können. Ich denke an den Rundgang durch die Altstadt mit meinen neuen Freunden. Ein unvergesslicher Nachmittag. Zum ersten Mal, seit ich hier bin, habe ich mich gefühlt, als gehörte ich irgendwo dazu. Ich war Teil einer Gruppe von Freunden, mit denen ich gemeinsam durchs Leben gehe. Die temperamentvolle und leidenschaftliche Genziana. Caterina mit ihrer sanften Art und ihrer Unsicherheit. Pietro, so schweigsam und so fürsorglich. Lorenzo und schließlich Umberto, der ein wenig an dem ganzen Durcheinander schuld ist. Nein, die Schuld liegt ganz allein bei mir. Wenn ich nicht so impulsiv gehandelt hätte, wäre nicht alles kaputt gegangen.

Es kostet Zeit und Kraft, etwas aufzubauen, aber es genügt ein Augenblick, und alles bricht in sich zusammen wie eine Sandburg. Ich sehe mich wieder als kleines Mädchen, als ich mit meinen Eltern in einem Badeort an der toskanischen Küste Urlaub machte. Das Meer kam und ging, es durchfeuchtete den Sand, damit ich mit Fantasie und Disziplin Bauten nach meinen eigenen Vorstellungen errichten konnte. Ich erinnere mich an das rote Hütchen, das mich vor der sengenden Sonne schützte. Doch dann genügte ein unaufmerksamer Strandspaziergänger oder eine heftige Welle, und bum, schon brach die Burg in sich zusammen. Genau wie die Freundschaft jetzt.

Ich klammere mich an das Einzige, was mir Kraft gibt, den Gedanken an Mikael. An seine Augen und sein Lächeln. Es ist, als könnte er meine Gefühle lesen. Wenn ich ihn brauche, taucht er auf, ein Ritter ohne Fehl und Tadel, wie in den Märchen von Oma Evelyn. Heute habe ich mir mehr als alles andere gewünscht, dass mich jemand in den Arm nimmt. Und sofort ist Mikael wie durch Magie hinter mir aufgetaucht und hat mit seiner Umarmung meinen Schmerz gelindert.

Aber ich will mir nichts vormachen … Jedes Mal, wenn ich denke, dass Mikael und ich gar nicht so verschieden sind, verschwindet er. Manchmal habe ich den Verdacht, dass er mir aus dem Weg geht und dass er aus diesem Grund auch aufgehört hat, sich um Black zu kümmern.

»Schwesterchen, hast du immer noch Bauchweh?« Der kleine Marco späht durch die angelehnte Tür.

»Mir geht es schon etwas besser«, sage ich und klinge nicht gerade überzeugend.

»Darf ich reinkommen?«

»Sicher, komm nur. Ein bisschen Gesellschaft hilft gegen Bauchweh.«

Das lässt er sich nicht zweimal sagen. Er klettert auf mein Bett und schiebt das Kissen beiseite, um sich stattdessen in meine Arme zu kuscheln.

»Wenn es mir früher schlecht ging, hast du immer für mich gesungen.«

»Das stimmt. Und hat es funktioniert?«

»Ich glaube schon.«

»Willst du jetzt für mich singen?«

»Passt Kleine freche Sonne? Ich habe kein neues Lied gelernt.«

»In Ordnung.«

Kleine freche Sonne, scheine und trockne meinen Schmerz.

Ich werd auch wieder glücklich lächeln, komm nur aus den Wolken, dann wein ich auch nicht mehr.

Kleine freche Sonne, lächle und wärme mir das Herz.

Er singt mit seiner dünnen Kinderstimme. Er singt, und ich spüre, wie meine Nerven sich entspannen. An diesem Abend möchte ich so einschlafen, in den Schlaf gewiegt von einem Lied, das ich Marco vorgesungen habe, als er klein war, und das er mir heute voller Dankbarkeit und Liebe zurückgibt.