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Die Geschichtslehrerin wählt nach dem Zufallsprinzip ein paar Namen. Zaccarelli und Mancini kommen dran! Seufzer der Erleichterung.

Die vierte Stunde fällt aus. No English, no problem. Ich überzeuge unsere junge und sympathische Vertretungslehrerin, mich in die Bibliothek gehen zu lassen, um dort für eine angebliche Arbeit in Kunstgeschichte Material zu sammeln. Ich liebe Vertretungslehrer, die nicht ganz bei der Sache sind. Sie hat nur kurz den Blick von dem Stapel Klassenarbeiten einer anderen Klasse gehoben, die sie korrigierte, und hat mir bedeutet, ich könnte gehen. Ich wäre ihr fast um den Hals gefallen!

In der Bibliothek ist keine Menschenseele. Bis auf mich und Edoardo natürlich.

»Bist du ein Flüchtling, der um politisches Asyl bittet?«

»Mein Englischlehrer hat die nette Idee gehabt, krank zu werden, und da bin ich!«

»Sehr gut. Gerade ist ein Haufen Bücher angekommen, die etikettiert werden müssen.« Er muss mich nur kurz ansehen, um zu bemerken, wie enttäuscht ich bin. Ich schaue nach oben, zu den alten Handschriften, die dort aufbewahrt werden.

»Ach Quatsch, das war nur Spaß. Hast du Lust, dir diese Staubfänger einmal anzusehen?« So nennt Edoardo die alten Kostbarkeiten.

Ich strahle ihn an: »Und ob!«

In andächtigem Schweigen, aber mit einem breiten Lächeln im Gesicht folge ich ihm auf der Wendeltreppe nach oben.

Ich überfliege die Titel der Bücher im ersten Bücherschrank, dessen dunkles Holz von Generationen von Holzwürmern zerfressen wurde. Anthropologie, Religion, Kunstgeschichte … Goldverzierte Einbände aus wertvollen Stoffen oder Leder.

»Diese Seiten strömen Vergangenheit aus, in ihnen wird ein Teil der Menschheitsgeschichte aufbewahrt.« Edoardos Augen funkeln hinter den Gläsern seiner Brille.

»Ich hätte gern ein bisschen von dieser Weisheit in meinem Kopf. Dort geht zurzeit alles drunter und drüber!« Ich muss mich einfach jemandem anvertrauen, sonst drehe ich noch durch. Und bei Edoardo gelingt mir das spontan. Er versteht mich sofort und kann mit mir durch die Sprache der Bücher reden, die er anscheinend als alte Freunde betrachtet. Nach kurzem Zögern versuche ich, ihm zu beschreiben, was in mir vorgeht. »Mein Herz ist so schwer wie ein Stein. Aber dann wird es wieder so leicht, dass ich fürchte, es könnte aus meiner Brust herausfliegen. Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt. So lebendig, dass mir schon bei einem Sonnenuntergang die Tränen kommen. Was ist nur mit mir los?«

Edoardo sieht mich an und lächelt. Die Bücher hinter ihm sind stumme Zeugen meiner Beichte.

»Du bist krank, so viel steht mal fest.«

»Ist es schlimm?«

»Schlimmer als du glaubst.«

»Wirklich? Und was habe ich?«

»Du bist verliebt. Die älteste Krankheit der Welt.«

Seine Worte durchbohren mich wie ein Messer. Ist das die Bezeichnung für etwas, dem ich seit Tagen auszuweichen versuche?

Edoardo wendet sich ab, und seine Finger gleiten zärtlich über die Buchrücken. Das habe ich zwar schon oft beobachtet, aber trotzdem habe ich mich noch nicht daran gewöhnt. Ich weiß, was jetzt geschehen wird: Er wird der Stimme der Bücher lauschen und eines auswählen. Dann wird er zufällig eine Seite aufschlagen und das Urteil verkünden. Und ich werde wieder einmal überrascht mit offenem Mund dastehen, weil die Stimme der Bücher sich nie irrt.

Er zieht einen purpurroten Band heraus. Die goldenen Schnörkel auf der Vorderseite bilden kostbare Ornamente. Ich habe noch nie ein so prächtiges Buch aus der Nähe gesehen, und ich präge es mir genau ein. Es gibt Momente, in denen man ahnt, dass ein bestimmtes Erlebnis für den Rest des Lebens bedeutend sein wird und dass man es nie vergessen wird. Und das ist so ein Moment.

»Der Weg zur Erkenntnis führt manchmal durch Schmerzen«, liest er. »So ist das mit dem Erwachsenwerden, Scarlett.« Seine Augen wandern zurück zu dem Buch, und seine Stimme klingt leiser und modulierter: »Aber wenn du mutig und treu deinen Weg verfolgst, wirst du kommen, wohin du willst.«

Mir verschlägt es die Sprache. Wie gern würde ich solche Worte manchmal von meinen Eltern hören. Das Erwachsenwerden ist ein schwieriger Weg, besonders wenn zu Hause alles durcheinandergeht.

»Danke, Edoardo. Du warst mir eine große Hilfe … wie immer.«

»Bedank dich bei dem Buch, seine Stimme hat gesprochen, ich bin nur das Sprachrohr.«

»Ich verspreche dir feierlich, dass ich heute Nachmittag mit gutem Willen bewaffnet in die Bibliothek zurückkomme, um die Neuerwerbungen zu katalogisieren.«

»Jedes Versprechen ist eine Schuld.«

»Und ich begleiche meine Schulden.«

»Vielleicht willst du auch nur die Erste sein, die unter den Neuheiten wählen darf?«

Ein Lächeln verrät meine Hintergedanken. »Na gut, du hast mich durchschaut!«

Es wird Zeit, zurück ins Klassenzimmer zu gehen. Das Klingelzeichen zum Stundenbeginn überrascht mich im ersten Stock auf dem Flur. Vor mir tauchen zwei dunkle Silhouetten auf, die sich mit schnellen, beinahe schwerelosen Schritten schnell vorwärtsbewegen. Rechts geht Vincent, der Sänger von den Dead Stones. Er trägt ein zerrissenes schwarzes T-Shirt, unter den aufgerollten Ärmeln blitzen die Tätowierungen hervor, dazu Röhrenjeans und Lederstiefel.

Seine schwarzen, wütend zusammengezogenen Augen bohren sich in meine. Ein Raubtier bereit zum Angriff. Ich halte seinem Blick nicht stand, daher sehe ich mir seine Begleiterin an: ein wunderschönes Mädchen mit einer so durchsichtigen Haut wie eine Porzellanpuppe. Violette Augen mit blauen Sprenkeln, die in der schwarzen Schminke ihrer Smokey Eyes versinken. Ein Pagenkopf aus glänzenden, tiefschwarzen Haaren, der stufenförmige Pony ruht auf den Augenbrauen wie die Schwingen eines Raubvogels. Sie ist schlank und bewegt sich trotz der schweren Springerstiefel mit der Anmut einer Ballerina. Jetzt erkenne ich sie: das Mädchen, das mir nach dem Konzert im Backstagebereich aufgefallen ist!

Die beiden treten auseinander. Ich gehe zwischen ihnen durch und spüre ihre anklagenden Blicke auf mir. Vincent prallt gegen meine Schulter, sodass ich beinahe das Gleichgewicht verliere. Ich suche in seinen Augen nach einer Erklärung, aber als einzige Antwort ziehen sich die Pupillen wie Stecknadelköpfe zusammen. Als wollte mich sein Blick zu Asche verbrennen.

Die Unbekannte beschränkt sich darauf, mich mit unergründlichem Blick zu mustern. Verwirrt gehe ich an ihnen vorbei. Warum ist Vincent wütend auf mich?