21

Ein Geräusch. Ein leises Rascheln oder ein unterdrücktes Keuchen. Ich öffne die Augen, aber um mich herum ist es dunkel. Ich kneife ein paarmal die Augen zusammen, bis sich meine Pupillen an das Halbdunkel gewöhnt haben. Es ist nichts passiert, ich liege in meinem Bett und alles ist in Ordnung.

Ein unangenehmes Gefühl. Als würde mich jemand aus der Dunkelheit beobachten. Ein Blick wie von einem Raubvogel in meinem Rücken. Ich spüre das Gewicht und die grobe Liebkosung eines Nietenhandschuhs. Langsam drehe ich mich um, mit geschlossenen Lidern, das Laken bis zu den Ohren hochgezogen. Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich mich entschließe, meine Augen zu öffnen, und dann sehe ich den blanken Horror vor mir. Eine reglose Silhouette auf der anderen Seite der Fensterscheibe, deren Gesichtszüge die Nacht ausgelöscht hat. Zwei feuerrote Abgründe anstelle der Augen. Ich setze mich ruckartig im Bett auf. Mein Atem geht schwer, ich würde gern schreien, aber mein Mund bleibt stumm. Diese Augen starren mich an, ich sehe Angst, Schmerz und Tod darin. Meinem Körper entringt sich ein Schrei der Verzweiflung: »Aaaah!«

Keuchend und nassgeschwitzt liege ich in meinem Bett. Es war nur ein Traum. Nur ein böser Traum.

Aber so real. Ich erinnere mich genau, woran ich als Letztes gedacht habe, bevor ich eingeschlafen bin: an Mikael und sein Lächeln. Als meine Gedanken sich auf ihn konzentrieren, finde ich meine Ruhe wieder. Ich schaue kurz auf den Wecker. Verdammt! Viertel vor acht! Wie von Furien gejagt springe ich aus dem Bett, schlüpfe hastig in die gleichen Klamotten wie gestern, die ich am Abend auf dem Stuhl abgelegt habe. Nein! Das T-Shirt mit den Einhörnern kann ich unmöglich wieder anziehen. Ich bin zwar spät dran, aber das heißt noch lange nicht, dass ich vorhabe, Selbstmord zu begehen. Daher entscheide ich mich für einen schwarzen Baumwollrolli und suche mir dazu einen violetten Schal raus. Ich verzichte nie auf einen Farbtupfer! Dann schnappe ich mir den Rucksack und werfe die auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Bücher rein. Mir bleibt keine Zeit zum Überlegen, ich bin viel, viel zu spät.

»Mama!«, rufe ich, während ich die Treppe hinunterrenne, »warum hast du mich nicht geweckt?«

Keine Antwort. Nur ein Post-it am Kühlschrank: ICH BIN MIT MARCO BEIM ARZT. BIS SPÄTER. S

Wenn ich einmal ihre Hilfe brauche! Ich verlasse eilig die Wohnung und renne los. Nach ein paar Minuten kann ich schon nicht mehr. Mein Atem geht keuchend, vielleicht weil ich noch nichts gegessen habe. Ich beschließe, nicht mehr so schnell zu laufen, damit ich nicht ohnmächtig umfalle, und fange erst wieder an zu rennen, als die Silhouette vom San Carlo vor mir auftaucht. Das Tor ist noch offen, Gott sei Dank! Ich nehme immer zwei Stufen auf einmal, wie üblich.

Oben werfe ich einen Blick auf die große Uhr, die im Flur unbarmherzig die Minuten anzeigt, in der Hoffnung, ich hätte wieder etwas Zeit wettgemacht. Aber nein … Es ist schon acht nach acht! Für den Vanzi, der immer etwas früher kommt, die pure Beleidigung. »Das ist eine Frage des Respekts, Fräulein Castoldi.« Allein schon bei der Vorstellung überläuft es mich eiskalt. Das ist schlimmer als der Albtraum von heute Morgen! Auf dem zweiten Treppenabsatz bleibe ich stehen und rühre mich erst einmal nicht. Ich muss mir gut überlegen, was ich tue, mir bleiben zwei Möglichkeiten.

Möglichkeit A: Ich betrete das Klassenzimmer und entschuldige mich untertänigst. Vielleicht hat der Vanzi ja ausnahmsweise mal gute Laune und zeigt Verständnis.

Möglichkeit B: Ich gehe direkt ins Schulsekretariat, um mir dort ein Entschuldigungsformular abzuholen, das ich morgen unterschrieben zurückbringe. Aber ich kann mir schon vorstellen, was das für ein Theater mit meiner Mutter geben wird: »Du bist jetzt alt genug, da kann ich mich nicht mehr so um dich kümmern wie um deinen Bruder. Ist es denn so schwer aufzustehen, wenn der Wecker klingelt?« Was ist schlimmer, Simona oder Vanzi? Ich wähle Möglichkeit A. Lieber den Menschenfresser, wie ihn die Dreizehnte nennt.

Und jetzt gib noch mal alles, Scarlett. Ich renne wieder. Wenn ich halb ohnmächtig in die Klasse taumele, habe ich vielleicht eher eine Chance, sein Mitleid zu erregen. Wie vom wilden Affen gebissen flitze ich um die Ecke und pralle mit voller Wucht mit dem Gesicht gegen etwas. Instinktiv schreie ich auf und weiche zurück.

»Sehe ich etwa aus wie das Skelett aus dem Biologieraum? Zumindest habe ich offenbar die gleiche Wirkung.« Das ist Mikael! Ich schaue zu ihm auf. Er ist größer als ich, das dunkelgraue T-Shirt betont seine muskulösen Arme, über die sich wie in Stein gemeißelte Adern ziehen. Meine Knie werden weich. Liegt das an meiner Rennerei? Nein, seine bloße Anwesenheit genügt, und mir wird schwindelig.

Ich spüre, wie mir im Gesicht ganz heiß wird. Und dann sehe ich die Flecken auf seinem T-Shirt. Er versucht, sie abzureiben. Mit der anderen Hand hält er eine tropfende Tasse Milch hoch.

»Oh, entschuldige. Ich habe dir alles übergekippt. Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das tut, aber ich bin schon zu spät und …« Ich bin nicht einmal fähig, diesen Satz zu Ende zu bringen, ich ziehe ein Papiertaschentuch aus der Tasche und helfe ihm, sich zu säubern. Als ich dabei seine Brustmuskeln streife, erröte ich wieder heftig. Das Taschentuch fällt mir aus der Hand. »Tut mir leid«, stottere ich.

»Mach dir keine Sorgen, es ist ja nichts passiert. Black wartet auf mich, er wird einen Riesenhunger haben. Kommst du mit?« Ich folge ihm wie ein Hündchen, aber ich habe nicht den Mut, ihm in die Augen zu sehen. Ganz entfernt erinnere ich mich an etwas. Ein vager Gedanke, dass ich zu spät bin. Ich verjage ihn und folge Mikael mit einem Schritt Abstand. Mein Blick fällt auf seine Kehrseite, verdammt! Er dreht sich um und meint lächelnd: »Stimmt irgendetwas nicht?«

»Ja, äh, ich meine nein. Alles in Ordnung.« Ich bin wirklich Weltmeisterin in Coolness.

Sobald wir den kleinen Abstellraum betreten, läuft das winzige Kätzchen uns entgegen, miaut und schnurrt. Es scheint mich wiederzuerkennen und reibt sein Köpfchen an meinen Schuhen, dann hebt es sein Schnäuzchen und miaut wieder.

»Er möchte, dass du ihn auf den Arm nimmst. Anscheinend hast du sein Herz erobert.«

»Darf ich?«

»Natürlich.«

Blacks Augen leuchten hell und intensiv. Er hat ein ganz weiches Fell, wie alle Katzenjungen. Es fühlt sich an wie Kükenfedern. Black und Mikael sehen einander ähnlich: Beide tragen von Kopf bis Fuß Schwarz, aber haben Eisaugen. Ich küsse Black auf den Kopf. Mikael betrachtet das Kätzchen liebevoll und streichelt es, für einen Moment begegnen sich unsere Finger. Mein Herzschlag übertönt alles.

Als Mikael sich hinunterbeugt, um das Kätzchen zu füttern, rutscht ihm eine silbern schimmernde Kette aus dem T-Shirt und ich sehe den wunderschönen Anhänger, der wie die Flügel einer Fledermaus geformt ist. Ich habe das seltsame Bedürfnis, seine Umrisse mit den Fingern abzufahren, und verliere mich in den mondhellen Reflexen, die die durchscheinende Haut an seinem Hals streicheln.

Mein Blick geht vom Hals zum Mund, gleitet weiter zu der perfekt geschwungenen Nase und bleibt schließlich wie gebannt an seinen Augen hängen. Bis er mich ansieht und lächelt.

Scheinbar entspannt betrachte ich Black, er trinkt Milch und schlägt dabei ab und zu mit dem Schwanz. Zeit … da war doch was. Ach ja. »Ich bin viel zu spät. Deshalb bin ich so gerannt. Aber das habe ich ganz vergessen, als ich …«

… dir begegnet bin, denke ich. Aber das spreche ich natürlich nicht aus.

»Wie spät ist es? Ich traue mich gar nicht nachzusehen. Oh Mann, jetzt bin ich geliefert. Herr Vanzi, dieser Menschenfresser …«

»Keine Angst, ich kümmere mich darum.«

»Wie denn? Du kennst ihn nicht. Das wird er mir nie verzeihen.«

»Ich kümmere mich darum, Scarlett.« Ich liebe es, wie er meinen Namen ausspricht. Von seinen Lippen klingt er wie der Name eines kostbaren Edelsteins.

Moment mal … Ich habe ihm doch gar nicht gesagt, wie ich heiße! Na ja, schließlich hat er sich mir auch nie vorgestellt, und trotzdem weiß ich einiges über ihn. Doch halt, das ist nicht das Gleiche, er ist der berühmteste Bassist der ganzen Schule, während ich eine kleine, unbedeutende Schülerin bin, die gerade erst hierhergezogen ist.

»Ciao, Black, bis später.« Das Kätzchen schaut von der Tasse auf und miaut leise. Mikael öffnet die Tür und lässt mir wie ein richtiger Gentleman den Vortritt. An seiner Seite scheine ich zu schweben. Offensichtlich ist mir nicht so ganz bewusst, was mich gleich im Klassenzimmer erwartet. Ich klammere mich an das bisschen Vernunft, was mir noch geblieben ist und sage: »Vielleicht geh ich doch besser ins Sekretariat wegen einer Entschuldigung. Ich glaube, es ist keine so gute Idee, wenn du mich begleitest, ich möchte dich nicht in Schwierigkeiten bringen.«

Er dreht sich um und schaut mir tief in die Augen: »Überlass das mir, Scarlett.«

Ich gebe es auf. Stumm laufe ich hinter ihm her. Im Augenblick würde ich ihm überallhin folgen, und das erschreckt mich. Mikael klopft an die Tür zu meinem Klassenzimmer, und bevor ich es so richtig mitbekomme, redet er schon mit Vanzi: »Entschuldigen Sie die Störung. Es hat einen kleinen Unfall gegeben, deshalb musste ich Ihnen eine Ihrer Schülerinnen entführen.« Die betreffende Schülerin versteckt sich mit vor Angst geweiteten Augen hinter seinem Rücken und hebt resigniert die Hände.

»Was für einen Unfall?«, fragt Vanzi und zieht misstrauisch die dichten Augenbrauen zusammen. In der Klasse herrscht unnatürliches Schweigen, die Spannung ist greifbar. Alle Mädchen hängen an den Lippen meines Begleiters.

»Ich habe gerade Material aus dem Chemielabor geholt, und dabei hat sich an dem Wagen ein Rad gelöst. Hätte diese Schülerin nicht sofort zugegriffen, wären wichtige Versuchsproben und anderes empfindliches Material zerstört worden.«

Ich warte darauf, wie Vanzi reagiert. Wahrscheinlich wird er mir jetzt eine Szene machen, einen Wutanfall bekommen, mit der Faust auf den Tisch schlagen und schließlich einen Finger auf mich richten und mir eine Strafpredigt halten.

Stattdessen bricht er in schallendes Gelächter aus.

»Na wunderbar, dann haben Sie die Schule vor einer Umweltkatastrophe gerettet. Gehen Sie nur und passen Sie das nächste Mal besser auf.«

Träume ich etwa noch? Vielleicht ist Vanzi auch gar nicht Vanzi, vielleicht haben ihn Aliens entführt und durch einen Klon ersetzt!

Mikael verabschiedet sich, aber vorher zwinkert er mir noch verschwörerisch zu. Er scheint die Lippen nicht zu bewegen, aber trotzdem höre ich seine tiefe Stimme: »Bis bald, Scarlett.« Ein Schauer fährt mir über den Rücken. Ich marschiere steif wie ein Roboter zu meiner Bank, während mich die ganze Klasse ungläubig anstarrt und man im Hintergrund leises Raunen hört.

Caterina lächelt mich an, und Genziana flüstert mir zu: »Superauftritt, Scarlett, aber nachher entkommst du mir nicht. Ich will jede Einzelheit hören.«

»Was hattest du denn mit Mikael Lancieri zu schaffen?«, fragt Laura leise mit weit aufgerissenen Augen. Ich bringe kein Wort heraus, treibe in einem warmen Meer widerstreitender Empfindungen. Mikael zieht all meine Gefühle wie ein Magnet auf sich. Wenn man mir erzählen würde, was ich eben erlebt habe, würde ich es nicht glauben.

Die Minuten vergehen wie im Flug. Ich versinke in einer unnatürlichen Betäubung und fühle mich, als würde ich hoch oben über den Wolken schweben.