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Das Haus, in das wir gezogen sind, ist so anders als unsere Wohnung in Cremona. Es ist sehr geräumig, wirkt aber irgendwie düster, mit großen Fenstern, die einen wie neugierige Augen ansehen. Es ist von Bäumen und merkwürdigen Büschen umgeben, die so rund sind wie Baisers. Von dem oberen Stockwerk, wo die Schlafzimmer liegen, geht ein abschüssiges Vordach aus Holzlatten ab, das sich wie der traurige zahnlose Mund einer älteren Dame über einen mit Margeriten übersäten Rasen erhebt. In den ersten Tagen nach dem Umzug habe ich mich abends oft auf dieses Holzdach gesetzt und in den Himmel gestarrt, in der Hoffnung, eine Sternschnuppe zu entdecken und mir dann etwas wünschen zu können. Ich wusste genau, was ich mir wünschen würde: nach Cremona zurückzukehren und das neue Schuljahr mit den üblichen Freunden zu beginnen. Sogar der Balboni trauerte ich nach, meiner stets strengen und ein wenig missmutigen Mathematiklehrerin, die Blondinen generell nicht ausstehen konnte, weil eine von denen ihr den ersten – und letzten – Freund ausgespannt hatte, zumindest sagte sie das immer. Ich vermisse mein Viertel mit den pastellfarbenen Wohnhäusern und den kleinen Grünanlagen, die für Hunde verboten sind. Ich vermisse Birillo, den Hund unseres Nachbarn, der jeden Morgen um zwanzig vor sieben pünktlich wie die Eieruhr losbellte, und den kleinen Balkon, auf den ich mich immer zum Lernen zurückzogen habe.

Hier in der Toskana dominiert die Natur, es herrscht eine unnatürliche Stille, die nur von den nächtlichen Geräuschen und den Lauten der Tiere unterbrochen wird, die sich in der Dunkelheit verbergen. Hinter dem Haus erhebt sich eine kleine Anhöhe mit zwei Schaukeln, von denen man auf eine Kette sanft geschwungener Hügel blickt. Auf einem von ihnen steht ein hoher schlanker Turm, den ich auch vom Fenster meines Zimmers sehen kann. Er wirkt irgendwie melancholisch und dekadent, sodass mir bei seinem Anblick Geschichten von geraubten Prinzessinnen und tapferen Rittern, die sie retten wollen, in den Sinn kommen, von Drachen und Zauberern, Hexen und sprechenden Katern. Bei Tag verliert der Turm zumindest einen Teil seines romantischen Flairs, das er in der Nacht ausstrahlt, wenn sinnliches Mondlicht ihn umschmeichelt. Ich grüße ihn mit den Augen und beschleunige meinen Schritt. Jetzt kann ich es nicht mehr vor mir herschieben: Heute beginnt ganz offiziell mein neues Leben in Siena, mit neuen Lehrern und neuen Mitschülern.

Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn mein Vater mich hingebracht hätte, aber na ja, man kann nicht alles haben. Stimmt schon, die Schule ist ziemlich nah, sodass man sie auch bequem zu Fuß erreichen kann. Und Simona hat ja sogar angeboten, mich zu fahren, aber wenn ich das angenommen hätte, wären wir uns bloß wieder in die Haare geraten. Irgendwie kommt mir das wie ein schlechtes Omen vor – dass ich mich diesem neuen Abschnitt meines Lebens so ganz allein stellen muss, jagt mir Angst ein. Aber dann sage ich mir, dass ich schließlich schon in der elften Klasse bin und auf eigenen Füßen stehen kann. Da ist es ja auch schon, mein neues Gymnasium, es heißt San Carlo, weil es auf den Ruinen eines gleichnamigen Klosters erbaut wurde. Eine Privatschule mitten in einem Park mit uralten Bäumen. Ich muss zugeben, als ich zum ersten Mal dort hinkam, war ich schon ziemlich beeindruckt, allerdings hatte ich auch eine leichte Gänsehaut.

Ich rücke die Träger meines Rucksacks rechts und links auf meinen Schultern zurecht. Noch nie habe ich mich so uncool gefühlt. Wahrscheinlich bin ich in ganz Italien, ach, was sag ich da, auf der ganzen Welt die Einzige, die ihren Schulrucksack noch auf diese Weise trägt. Und das bloß wegen meiner Grundschullehrerin und ihren Vorträgen über die Folgeschäden von falscher Haltung, außerdem hatte ich als kleines Mädchen eine leichte Rückgratverkrümmung. Mein Rücken ist mir wichtig! Selbst wenn mir das vor meinen Mitschülern leicht peinlich sein sollte. Aber vielleicht bemerken sie es nicht einmal. Oh mein Gott, mir wird klar, dass mir bloß Unsinn durch den Kopf geht. Ich streiche meine Haare hinter die Ohren und suche wieder nach dem entschlossenen Gesichtsausdruck, den ich schon heute Morgen vor dem Spiegel nicht finden konnte.

Wie gern wäre ich selbstsicherer und würde die Klasse mit einem breiten Lächeln auf den Lippen betreten, den Kopf hoch erhoben und mit kerzengeradem Rücken, auch ohne die Hilfe meines Rucksacks. Stattdessen schaue ich auf den Boden, lege viel (zu viel?) Wert auf das Urteil anderer und halte mich für eine unbedeutende graue Maus.

Ich bin da. Ein kleiner Spaziergang am frühen Morgen war genau das Richtige, um meine Nerven zu beruhigen. Aber wen will ich damit täuschen? Ich bin angespannt wie ein Flitzebogen und habe ein flaues Gefühl im Magen. Plötzlich habe ich meinen Platz in der Bankreihe in Cremona vor Augen, der dieses Jahr leer bleiben wird, und meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich schlucke einmal heftig und schaue nach oben, um sie zurückzudrängen. Komm schon, Scarlett!

Der Schulhof ist voller Schüler, fremde Gesichter, die einander überlagern. Ein großes Durcheinander, Geschrei und Gelächter. Freunde, die sich nach den Sommerferien zum ersten Mal wiedersehen, und ein paar Eltern von Schülern im ersten Jahr, die ihre schüchternen Sprösslinge bis zur Haupttreppe begleiten. Ich gehe zu den Aushängen in der Eingangshalle. Ich bin in der Elf Z, Zett wie Zorro, der Held mit der Maske. Und was bin ich? Eine unbeholfene Heldin ganz ohne Maske oder Ruhm. Ich schiebe mich durch eine verschlafene Schülermasse zu den Treppen, die in den dritten Stock hinaufführen. In einem mir noch unbekannten Klassenraum im linken Flur wird mein neues Leben beginnen.